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Titel
Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel


Autor(en)
Zalashik, Rakefet
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Faehndrich, Leibniz-Institut für Länderkunde

Die Tel Aviver Historikerin Rakefet Zalashik, derzeit Gastprofessorin für Wissenschaft und Judentum an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, zeichnet in ihrer schlanken, gut lesbaren Studie die Entwicklung der Psychiatrie in Palästina und Israel nach, von der ersten Institution zur Pflege Geisteskranker im späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Ihr Gegenstand berührt neben der Psychiatrie auch die Geschichte der Eugenik, der Rassen-Psychologie und -Psychiatrie, die Geschichte des Zionismus, des Jischuw (der jüdischen Bevölkerung Palästinas vor der Staatsgründung) und des Staates Israel als Einwanderungsgesellschaft, nicht zuletzt die Geschichte des psychiatrischen Umgangs mit dem Holocaust. Letzteres muss man wohl als den eigentlichen Ansatzpunkt der Arbeit bezeichnen. Denn wie im letzten, umfangreichsten Kapitel des Buches deutlich wird, geht Zalashik vor allem rückblickend-rekonstruktiv vor, wenn auch chronologisch geordnet. Denn ihre Ausgangsfrage richtet sich auf die Wurzeln eines Phänomens, dass heute in der Tat unverständlich, ja unerhört scheint: Der Umgang des neugegründeten Staates Israel und seiner Psychiatrie mit den Holocaust-Überlebenden. Israelische Psychiater, die meist selbst aus Deutschland oder Österreich stammten, ignorierten verkürzt gesagt die Leiden und Erlebnisse der Opfer des Nationalsozialismus, die mittellos und oft schwer traumatisiert ins Land kamen. Es müsse schon zuvor eine Erkrankung oder Persönlichkeitsstörung vorgelegen haben, so erklärten sie psychische Auffälligkeiten, oder sie diagnostizierten Anpassungsschwierigkeiten an die israelische Realität, die die Patienten sich wohl zu rosig ausgemalt hätten. Dem Holocaust entkommene Kinder wurden in den Kibbuzim als „gestört“ ausgesondert, wenn sie sich nicht dem sozialistischen Gemeinschaftsleben unterordneten. Der Volksmund, kaum weniger unsensibel, nannte die Davongekommenen schlicht „Seifen“ (hebr. Sabonim). Kein einfaches Kapitel der israelischen Geschichte, wenn auch eines, das heute weitgehend bekannt ist. Doch der Reihe nach.

Zalashiks Studie beginnt mit dem ersten Aufnahmeheim für psychisch Kranke, Ende des 19. Jahrhunderts von philanthropischen Ehefrauen oder Töchtern führender Zionisten gegründet. Die 1895 in Jerusalem von Chaya Tzipora Pines, Rosa Feinstein und Ita Yellin gegründete Anstalt Ezrat Nashim (Frauenhilfe) blieb über 25 Jahre lang die einzige, die psychisch Kranke aufnahm. Allerdings wurde dort erst 1920 der erste ausgebildete Psychiater eingestellt, der aus Galizien stammende Dorian Feigenbaum, der bei keinen Geringeren als Sigmund Freud und Emil Kraepelin studiert hatte. Doch schon drei Jahre später wurde er entlassen, weil sein freudianischer Ansatz den konservativen Philanthropinnen nicht behagte (S. 31). Erst die britische Mandatsverwaltung eröffnete 1922 in Bethlehem eine staatliche und damit überkonfessionelle Anstalt. Die psychiatrische Unterversorgung der Bevölkerung zieht sich auch weiterhin wie ein roter Faden durch die Studie: Immer gab es zu wenig Betten und lange Wartelisten. Im Gegenzug entstanden Privatkliniken, die unter teils fragwürdigen Bedingungen arbeiteten. Die Vernachlässigung der klinisch-psychiatrischen Versorgung mag auch im Desinteresse des Jischuw an Psychiatrie begründet sein, das wiederum selbst bemerkenswerte Gründe hatte. Denn der psychiatrische Diskurs war eher an präventiven als an therapeutischen Maßnahmen interessiert (S. 30) – sowohl der zionistische in Europa als auch im Land selbst, in das erst mit der dritten Alijah (1919–1923) in größerer Zahl Psychiater einwanderten. Die sich etablierende wissenschaftlich orientierte Psychiatrie war in Palästina somit von Anfang an ein Transfer aus der deutsch-österreichischen Psychiatrietradition. Zalashik arbeitet sehr anschaulich zwei Stränge der Debatte heraus, die im Grunde beide die Behandlung der psychischen Erkrankung gesellschaftlich lösen wollten: Zum einen erträumten die Zionisten schon in Europa den „Neuen Juden“, der in Palästina gesund und stark werden würde, frei von den psychischen Zivilisationskrankheiten der Diaspora. Als dann erste Studien in Palästina zeigten, dass mehr Neueinwanderer erkrankten oder Suizid begingen als in der alteingesessenen (jüdischen und arabischen) Bevölkerung, erklärte man dies mit eben der mitgebrachten „Zivilisation“ – münzte dieses in Europa gern antisemitisch gewendete Argument jedoch positiv um, indem man die europäischen Einwanderer als zivilisatorisch höherstehend idealisierte. Epistemologisch hieß dies, die Bekämpfung der Erkrankung ins Vorfeld zu verlagern, was Prävention der Therapie gegenüber favorisierte. So wollten die verantwortlichen Stellen (Wa’ad Leumi und Jewish Agency) schon im Voraus sicherstellen, dass keine psychisch kranken Juden aus Europa kämen. Man wollte gesunde Menschen für den Aufbau des Landes und sorgte in den Herkunftsländern ab 1921 für entsprechende Ausleseverfahren. Manchmal wurden Einwanderer zurückgeschickt, die nach der Einreise erkrankten, und dies sogar noch nach 1933 (S. 36). Alle der im Buch erwähnten Zurückgeschickten, die überdies aus heutiger Sicht eher sozial auffällig scheinen, gerieten in die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. „Wie war so etwas möglich?“ fragt Michael Hagner zu Recht in seiner Einleitung, und zu Recht ist dieser dunkle Punkt als Ausgangsfrage dem Buch vorangestellt.

Eugenik, die Lehre von der Reduktion von Krankheiten – seelischen oder körperlichen – durch „populationshygienische Maßnahmen“, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine verbreitete, weltweit anerkannte wissenschaftliche Strömung. Die Psychiatrie im Jischuw und auch noch im neugegründeten Staat befand sich also schlicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatte ihrer Zeit. Die enge Verflechtung der deutsch-zentraleuropäischen Psychiatrie mit der späteren israelischen führte jedoch zu der paradoxen Erscheinung, dass die deutschen Akteure von Euthanasie und „Rassenhygiene“ an denselben Universitäten studiert hatten wie ihre nach Palästina ausgewanderten Kollegen. Im Deutschen Reich mündete die Eugenik in den Massenmord an psychisch Kranken und Behinderten, die „Rassenhygiene“ in den Holocaust, während in Palästina psychisch Kranke nach Nazi-Deutschland zurückgeschickt wurden, weil man für den neuen Judenstaat nur gesundes „Menschenmaterial“ wollte. Dieses „unselige Erbe“ meint der Titel der Studie. Es wäre dennoch verfehlt, hier von jüdischem Rassismus oder Mitschuld zu sprechen. Rakefet Zalashik hütet sich denn auch klug vor solchen ahistorischen ex-post-Urteilen.

Dies ist gewissermaßen die von Zalashik herausgearbeitete Ausgangslage vor der Institutionalisierung der Psychiatrie in der Mandatszeit und nach 1948, die im zweiten und dritten Kapitel eingehend dargestellt werden. Dabei lässt sich feststellen, dass die in der Mandatszeit entstandenen Strukturen und fachlichen Haltungen relativ bruchlos übernommen wurden. Auch nach 1948 war die Vorstellung einer populatorischen „Psychohygiene“ noch Leitgedanke, und wie Zalashik überzeugend nachweist, ebenso in der Psychiatrie der westlichen Welt, ganz prominent in den USA, an der sich Israel nun wissenschaftlich orientierte. So wollte man die Überlebenden zuerst gar nicht aufnehmen, zu „beschädigt“ schienen sie. Da die Theoreme der Vorkriegsjahre eine genetisch-ethnische Erklärung favorisierten, ging man auch nach der Shoah noch davon aus, dass im Grunde die psychischen Schäden, die die Überlebenden zeigten, auf eine Vorerkrankung hindeuteten, die wenig mit dem Erlebten zu tun habe. Wäre jedoch die Ursache genetisch und vererblich, so stehe zu befürchten, dass die Psychiatrie im jungen Staate in absehbarer Zeit mit erheblich mehr Kranken zu tun hätte, als ihre ohnehin dürftige Versorgung bewältigen konnte. So einfach und so grausam erklärt sich, warum man die Schwertraumatisierten im Grunde sich selbst überließ. Erst ab 1960 – ein weiteres Paradoxon der verflochtenen deutsch-jüdisch-israelischen Psychiatriegeschichte – beeinflusste eine in deutschsprachigen Fachorganen geführte und von der deutschen Entschädigungsgesetzgebung ausgelöste Debatte über psychische Schäden durch den Holocaust wiederum die israelische Psychiatriedebatte, deren Akteure sich nicht zuletzt wegen ihrer fachlichen Sozialisation immer noch nach Deutschland orientierten (S. 175f.). Der zweite eminent wichtige Faktor für ein Umdenken der israelischen Öffentlichkeit und Psychiatrie war ab April 1961 der Eichmann-Prozess, in dessen Verlauf sich die israelische Gesellschaft erstmals intensiv empathisch mit dem Leid der Opfer beschäftigte. Beides zusammen setzte einen Prozess in Gang, der zu einem gesellschaftlichen und psychiatrischen Umdenken führte, das endlich den Opfern und ihren Familien eine entsprechende Würdigung und auch eine angemessene psychologische Betreuung ermöglichte.

Rakefet Zalashiks Arbeit schließt eine Lücke, die weit mehr als Psychiatriegeschichte und Geschichte des Staates Israel betrifft. Sie bietet in ihrer ausgewogen-sachlichen, mitunter sogar fesselnden Art dem Leser vielfältige Denkanstöße. Dass die Perspektive weitgehend inner-israelisch ist und das Buch im Gegenzug sehr lesbar und konzise bleibt, sollte man eher als Aufforderung zum Weiterdenken und -forschen denn als Manko sehen.

Ob man zuletzt eine Geschichte der Psychiatrie schreiben kann, ohne Bezug zu nehmen auf Michel Foucault, ist gewissermaßen wissenschaftliche Ansichtssache. Man kann, ohne Frage. Eine Erklärung wäre es allerdings wert gewesen. Doch ob mit oder ohne Foucault, die Studie von Rakefet Zalashik ist ein wichtiges, lesenswertes Stück Wissenschaftsgeschichte.