Die Kunsthistorikerin Patricia Simons, Professorin an der University of Michigan, Ann Arbor, will mit dem vorliegenden Buch den akademischen Blick auf vormoderne Körper verändern. Prominente Stimmen aus renommierten Universitäten – Lyndal Roper (University of Oxford), Stephen Campbell (Johns Hopkins University) und James Grantham Turner (University of California, Berkeley) – loben das Werk in höchsten Tönen auf der Einbandrückseite: Die Studie sei bemerkenswert und eindrucksvoll, eine originelle, gelehrte und leidenschaftliche Kritik an vorherrschenden Paradigmen der Gender Studies, eine mitreißende neue Geschichte des männlichen Körpers. So viel Enthusiasmus weckt hohe Erwartungen.
Tatsächlich wird den LeserInnen auf knapp 300 Seiten eine weit gefasste kulturhistorische Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Wahrnehmung der männlichen Geschlechtsorgane in der Vormoderne geboten. Patricia Simons erläutert anhand von Beispielen aus der bildenden Kunst, der Literatur, der Medizin, des karnevalesken Humors sowie der Metaphorik, weshalb es ihrer Einschätzung nach irreführend ist, den Penis ins Zentrum der Betrachtungen des vormodernen Männerkörpers zu stellen. Neben edierten zeitgenössischen Texten – wiederholt werden das Hebammenbuch von Jane Sharp (1671), das Decameron von Boccacio und verschiedene Werke Aretinos zitiert – bezieht sie sich auch auf medizinische Illustrationen, wie etwa einen dildo-förmigen Vaginal-Applikator, der vom französischen Chirurgen Ambroise Paré zur Verabreichung bestimmter Medikamente empfohlen wurde (S. 122) oder anatomische Zeichnungen der männlichen Geschlechtsorgane von Vesalius und Vesling (S. 138f.). Selbstverständlich spielen Kunstgegenstände, vor allem Gemälde und Zeichnungen, für ihre Analyse eine wichtige Rolle. Das Gros der 61 Abbildungen stammt aus Kunstmuseen. Zur Beschreibung der vormodernen Körperwahrnehmungen greift Patricia Simons auf antike und gelegentlich auch mittelalterliche Quellen zurück, ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch in der Frühen Neuzeit, konkreter in der Zeit vor Entdeckung der Spermatozoen im späten 17. Jahrhundert. Räumlich konzentriert sie sich auf West- und Südeuropa. Regionale oder religiöse Differenzierungen stehen aber nicht im Fokus, denn, so schreibt sie einleitend, es gehe ihr darum, weit verbreitete kulturelle Muster zu erklären (S. 2). Verkürzt gesprochen will Simons das analytische Augenmerk vom Penis auf die Hoden verschieben. Sie argumentiert, dass im vormodernen Denken männliche Potenz weniger an der Erektionsfähigkeit des transportierenden Körperteils als an den Testikeln, als Stätte der durch die „männliche Hitze“ evozierten Samenproduktion, gemessen wurde. Die mit dieser These verbundene Wortschöpfung Semenotik lehnt sich bewusst an Semiotik, die Lehre von den Zeichensystemen, an. Männlichkeit und Macht seien symbolisch nicht im Phallus verortet, dieser sei eine Erfindung der modernen Psychoanalyse, sondern werden in der Vormoderne durch die Testikel und dem aus Hitze und pneuma erzeugten Samen (semen) repräsentiert.
Um diese These zu untermauern, umreißt Simons im ersten Teil den Forschungsstand, alte wie neue Paradigmen in der Betrachtung männlicher Körper. Durchaus kritisch bewertet sie psychoanalytische Erklärungsansätze, denn diese würden meist ahistorisch angewandt, zugleich gesteht sie jedoch ein, dass es heute kaum noch möglich sei, ohne das von Freud und Lacan geprägte Vokabular auszukommen. Konsequent sieht Simons den Phallus bzw. den Penis – die Grenze zwischen dem Symbol und dem Körperteil sei letztlich vage – eher als Objekt des Humors als der Anbetung und dies schon in der Kunst und Literatur der griechischen Antike. Übertriebene Phalli auf antiken Gefäßen, Darstellungen in der Malerei der Renaissance, aber auch billig produzierte spätmittelalterliche Plaketten, die zu karnevalesken Zwecken wie Abzeichen getragen worden sein dürften, deuten in diese Richtung. Einen gegenüber den Gender Studies erweiterten Erkenntniswert der seit den 1990er-Jahren etablierten Men’s Studies zieht sie in Zweifel, denn letztlich sei nicht allein die Frage nach unterdrückten Männern und deren Unsicherheiten (angst, anxiety) relevant, sondern vor allem cui bono, also wer von den Machtverhältnissen profitiere. Der zweite Teil des Buches befasst sich mit anatomischen und physiologischen Modellen, vor allem aber mit den in der bildenden Kunst und Literatur verwendeten Anspielungen und Metaphern. Der Stellenwert des männlichen Samens und die Risiken der zu großen oder zu geringen Verausgabung werden mit Geld- und Edelstein-Metaphern verdeutlicht. Nicht zufällig heißen die Testikel im Englischen auch „stones“, bedeutet das Griechische „phris“ sowohl Lederbeutel als auch Scrotum und gelten impotente Männer als „penniless“. Die prall gefüllte, am Gürtel eines älteren Mannes hängende Börse und der Geldsack einer alten Frau mit entblößter Brust zeigen zugleich die zeitgenössisch verbreitete Häme über ungleiche Paare.
Der kulturgeschichtliche Ansatz von Patricia Simons orientiert sich eher am Körperverständnis der gebildeten und privilegierten Schichten, wiewohl sie auch bildliche Anspielungen aufgreift, die breiter rezipiert und verstanden worden sein dürften. So bringt sie Beispiele aus der Landwirtschaft und aus der Küche. Ein 1517 entstandenes Fresko in der römischen Villa Farnesina etwa zeigt eine üppige Obst- und Gemüseornamentik: samengefüllte, vor Reife fast berstende Feigen und Melonen reihen sich an Blumen, deren Blüten sich gerade geöffnet haben, Gurken und rundliche Auberginen symbolisieren die männlichen Geschlechtsorgane. Metaphern konnten auch der sozialen Abgrenzung dienen, so mokiert sich das Gemälde Vincenzo Campis Die Ricottaesser (1580) durch den herablassenden Blick des Malers über die gewöhnlichen Begierden der Nicht-Privilegierten. Drei eher derb dargestellte Männer löffeln in Gegenwart einer Frau mit entblößten Schultern und tiefem Dekolleté gierig Ricotta. Die von den Männern lustvoll verwendeten Löffel und die freizügige Kleidung sowie der einladende Blick der Frau verweisen auf sexuelle Handlungen.
Wohl aus strategischen Überlegungen wiederholt Simons ihre These mehrmals, sodass auch Quer- oder Schnell-LeserInnen die Botschaft nicht entgehen kann. Eine gewisse Redundanz in der Argumentation könnte somit didaktischen Überlegungen geschuldet und beabsichtigt sein. Zudem ist das Buch inhaltlich so strukturiert, dass es sich hervorragend als Grundgerüst einer Vorlesung eignen würde. Vielleicht war es ja umgekehrt und dem Buch lag eine Lehrveranstaltung zugrunde? Ein Blick in die akademische Tätigkeit von Patricia Simons lässt diesen Gedanken nicht ganz abwegig erscheinen. So bereichernd und unterhaltsam die Lektüre des Buches insgesamt ist, es bleibt abzuwarten, ob sich der Terminus der Semenotik auch im deutschsprachigen Raum durchsetzen wird. Bedauerlich ist im Hinblick auf die durchwegs bildgestützte Argumentation von Patricia Simons jedenfalls, dass sich im Buch ausschließlich Schwarzweiß-Abbildungen finden. Bei einem Kaufpreis von 99 Euro kann der Verweis auf die Kosten kaum als Entschuldigung vorgeschoben werden. Diese Entscheidung dürfte jedoch eher beim Verlag als bei der Autorin gelegen haben.