F. Kolovou (Hrsg.): Byzanzrezeption in Europa

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Titel
Byzanzrezeption in Europa. Spurensuche über das Mittelalter und die Renaissance bis in die Gegenwart


Herausgeber
Kolovou, Foteini
Reihe
Byzantinisches Archiv 24
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 369 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Grünbart, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Gerade wurden die Akten einer Tagung in Greifswald publiziert1, nun erscheint schon der nächste Band zur Byzanzrezeption in der traditionsreichen Reihe „Byzantinisches Archiv“, in der seit der Jahrtausendwende überwiegend Sammelbände herausgegeben werden. Die vorliegende Kollektion verspricht, eine „Spurensuche über das Mittelalter und die Renaissance bis in die Gegenwart“ darzustellen. Das Phänomen Byzanz aus europäischer Sicht sei als „zentraler Forschungsschwerpunkt“ (S. 4) erst seit 2003 in Erscheinung getreten. Die Feststellung mag verwundern, denn zum Studiengegenstand machte das bereits der rumänische Historiker und Politiker Nicolae Iorga in seinem Buch "Byzance après Byzance".2 Iorgas Beobachtungen regten die Forschung an, besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu Adaptionen, Revisionen und Erweiterungen seiner Thesen.3

Der Schwerpunkt der vorliegenden Zusammenstellung von 15 Beiträgen liegt auf Literatur- und Sprachgeschichte. Die Editorin entschied sich, den Band in fünf chronologische Abschnitte einzuteilen, wobei die Reformationszeit und die Aufklärung jeweils nur durch einen Beitrag vertreten sind. Rezeption geschieht dabei auf höchst unterschiedliche Weise.

Thomas Pratsch widmet sich in seinem Überblick „Stationen einer Entfremdung. Papsttum und Byzanz am Vorabend der Kreuzzüge (9.–11. Jahrhundert)“ (S. 15–26) den Verständigungsschwierigkeiten vornehmlich auf theologischer Ebene vor den Kreuzzügen, die die Gegensätze zwischen Ost und West intensivierten. Bis heute wird die Rolle des Papsttums etwa in der Ukraine kritisch gesehen und diskutiert – Pratsch erwähnt das eingangs kurz –, geht es dabei doch auch um Veränderungen nach dem Fall Konstantinopels, die mit dem Aufstieg des Russischen Reiches im 16. und vor allem 17. Jahrhundert zu tun haben.

Walter Berschins Beitrag „Anselm von Havelberg (†1158), die Griechen und die Anfänge einer Geschichtstheologie des hohen Mittelalters“ (S. 27–40) ist ein Reprint mit geringfügigen Ergänzungen.4 Nina-Maria Wanek bietet einen Überblick oder eine Standortbestimmung über die Forschung zur Missa Graeca (S. 41–74), wobei es bei der Feststellung bleibt, dass Aspekte des Phänomens bislang „hauptsächlich von einem westlichen Blickwinkel ausgehend betrachtet wurden“ (S. 67) und für die Klärung von Fragen der Beeinflussung byzantinische Handschriften herangezogen werden sollten.5

Ulrike Koenen („Vier byzantinische Elfenbeinreliefs in Bayern zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Ihre Adaption und Wirkung als konkreter Beitrag zur ‚Byzantinischen Frage‘", S. 75–86) untersucht den direkten Einfluss von Motiven byzantinischer Elfenbeintafeln (konkret: vier Reliefbilder mit Christus, Maria, Petros und Paulus auf den Einbanddeckeln zweier Cantatorien, heute in Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Lit. 7 und 8) auf das Widmungsbild einer Handschrift Heinrichs II. in Bamberg (Staatsbibliothek, Bamberg, Msc. Bibl. 95, fol. 7v–8r), die im Kloster Seeon entstanden sein dürfte. Der Kaiser ist der Mutter Gottes gegenüberstehend dargestellt. Die Imitation der Form der Elfenbeintafeln durch Architektur und die Beischrift der Theotokos (in gleicher Haltung mit teilweise griechischen Buchstaben) legen dies nahe.

Anregend behandelt in sechs Stationen Hartmut Wulfram die eklektische Wahrnehmung des Wirkens Manuel Chrysoloras', des ersten Griechischprofessors in Florenz, durch humanistische Zeitgenossen (Coluccio Salutati, Pier Paolo Vergerio, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni, Cencio de' Rustici, Guarino Veronese). Die 2006 erschienene Biographie von Manuel Chrysoloras aus der Feder von Lydia Thorn-Wickert erweist sich dabei als eine magistrale Vorarbeit.6 Chrysoloras wird zum großen Impulsgeber der humanistischen Bewegung stilisiert, seine Herkunft und die temporären Zustände in der Heimat des Gelehrten interessieren kaum. Vergerio komponiert die Inschrift für das Grab Chrysoloras' in Konstanz, wo der Gelehrte während seiner Teilnahme am Konzil starb. Er sei ex vetusto genere Romanorum, das mit Constantin I. nach Byzanz ausgewandert sei, also eigentlich ein Lateiner. Nicht nur Vergerio auch die übrigen Gelehrten konstruierten ein Bild des Byzantiners; der „Entindividualisierungsprozess“ (S. 113) setzte sich nach seinem Tode noch stärker fort. Zur Studie Wulframs passt Michiel Op de Coul „Byzantine literature in translation: Ambrogio Traversari and his legacy“ (S. 117–133); der Gelehrte wurde als glänzender Übersetzer aus dem Griechischen bekannt und zog höchste Bewunderung (wie auch Neid) der Zeitgenossen auf sich. Der toskanische Humanist übertrug etwa Ps.-Dionysios Areiopagites, das Pratum Spirtuale von Johannes Moschos oder griechische Reden des Ephraem Syrus ins Lateinische. Er war für die Redaktion des abschließenden zweisprachigen Dokuments des Konzils von Ferrara/Florenz am 6. Juli 1439 zusammen mit Bessarion verantwortlich (Laetentur caeli et exultet terra).

Eine unbewusste Rezeption von Byzantinischem präsentiert Klaus-Peter Matschke in seinem Beitrag „Ein Weinname aus Byzanz in der deutschen Reformation: Der Malvasier“ (S. 137–166). ‚Malvasier‘ wird in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts von beiden Seiten verwendet, Luther benutzt ihn, den guten Wein, gern als Metapher, die antireformatorischen Stimmen kritisieren den angeblich übermäßigen Weingenuss der Anhänger Luthers und bemühen diesen Begriff. Ein schönes Beispiel für Ambiguität!

Sebastian Kolditz nimmt die Erzählungen nachbyzantinischer Historiographen bezüglich der spätbyzantinische Epoche unter die Lupe („Nur Decline and Fall? Zum Bild der späten Palaiologenherrschaft in Schriften des achtzehnten Jahrhunderts“, S. 169–193). Besonders greift er Johann Daniel Ritters Abhandlung aus dem Jahre 1768 und etwa das Universal-Lexicon Johann Heinrich Zedlers heraus7, wo den letzten Kaisern mehr Aufmerksamkeit zukam. Kolditz sucht auch nach Spuren von Nachkommen der letzten byzantinischen Herrscherfamilie.8 Die Behandlung der byzantinischen Spätzeit erfolgte dabei auf unterschiedlichen Ebenen, wie Kolditz präzise herausarbeitet: Einerseits sah man in den Palaiologen die letzten Vertreter des römischen Kaisertums (so Edward Gibbon), andererseits versuchte man, in der Gegenwart des 18. Jahrhunderts Anknüpfungspunkte an die letzte Kaiserfamilie zu finden und daraus mögliche Privilegien abzuleiten.

Nun folgt der Teil „Byzanz und die Moderne“, in dem überwiegend literaturwissenschaftliche Detailstudien versammelt sind. Angelika Corbineau-Hoffmann (= Hoffmann-Maxis) nimmt sich Racines Tragödie "Bajazet" vor; ein Stoff, der die Wahrnehmung des östlichen Mittelmeerraumes in der Zeit danach prägte („Fremde Bildwelt Byzanz. Beispiele aus der französischen Literatur“, S. 197–218). Diese Wahrnehmung wird anhand französischer Reiseberichte behandelt, die Eindrücke von Konstantinopel/İstanbul verarbeiten.9

Wilhelm Walters Roman „Der Anacharsis des 13. Jahrhundert. Ein Sittengemälde der Vorzeit“ (1845) ist Ausgangspunkt für Charlotte Schubert, die Wanderung eines Motivs zu behandeln („Anacharis: Der Weg eines Nomaden von Griechenland über Byzanz nach Europa“, S. 219–241). Der Skythe Anacharsis wird im vierten Buch der Perserkriege Herodots eingeführt und tut seine Weisheit in Griechenland kund, ehe er wieder nach Skythien zurückkehrt. Anacharsis lebte in der Tradition der Sieben Weisen weiter, sein Wirken und seine Werke wurden immer mehr ausgeschmückt. In der byzantinischen Geisteswelt verbreitete sich Anacharsis über die Spruchsammlungen. In Westeuropa berühmt wurde die Gestalt durch den Roman "Voyage du jeune Anacharsis en Grèce dans le milieu du IVe siècle" (1788) von Jean-Jacques Barthélemy. Helena Bodin stellt Lars Gyllensten, Kenner der spätantiken Mönchsliteratur, Hagiographie und Mystik, vor ("‚Paradox is my gospel.‘ On the existential significance of Byzantine holy men, icons and apophaticism in the work of Gyllensten", S. 243–257). Gerhard Emrich bilanziert ernüchternd, dass byzantinische Stoffe kaum in der neugriechischen Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts vorkommen („Byzanz in der neueren griechischen Literatur“, S. 259–272). Die wenigen Gedichte nehmen Topoi auf, die man auch in der volkssprachlichen oralen Überlieferung finden kann, wie den Fall Konstantinopels oder das Verschwinden des letzten Kaisers. Als besonders bedeutend streicht Emrich Kostis Palamas, Konstantinos Kavafis und Odysseas Elytis hervor, alles Dichter die byzantinische Stoffe als Folie für ihre gegenwärtige Lebensumgebung verwenden. Besonderes Augenmerk wird dem Alterswerk von Nikolaos Brettakos (1912–1991) „Gottesdienst unter der Akropolis“ gewidmet, in dem die Geschichte Griechenland als Passion dargestellt wird.

Spyros Troianos beleuchtet in „Der lange Weg zu einer neuen Rechtsordnung“ (S. 273–295) die Stufen der Entwicklung und der allmählichen Änderung der Ausrichtung der Rechtsprechung von einem auf byzantinischen Rechtstexten gegründeten zu einem auf römischem Recht basierenden System. In den ersten nationalen Versammlungen nach 1821 war vorgesehen, sich an den christlichen Kaisern Griechenlands zu orientieren (zunächst an den Basiliken aus dem 10. Jahrhundert), 1827 tauchte der Begriff ‚byzantinische Gesetze‘ auf, im folgenden Jahr wurde Konstantinos Harmenopulos "Hexabiblos" (Kompilation aus dem 14. Jahrhundert) als Grundlage der Rechtsordnung angesehen. Durch die Einrichtung der Monarchie 1833 kam es verstärkt zu Einflüssen bayerischer Rechtsvorstellungen (Georg Ludwig Ritter von Maurer), die bis weit ins 20. Jahrhundert Gültigkeit hatten. Paulos Kalligas betrieb die faktische Einführung des römischen Rechts, die Befürworter des byzantinischen Rechts wurden immer mehr zurückgedrängt.

Thomas Fuchs und Christoph Mackert befassen sich mit materiellen Zeugnissen byzantinischer Handschriftenkultur, die ihren Weg nach Leipzig gefunden haben: „Byzanz und die Handschriftenforschung. Die griechischen Handschriften der Universitätsbibliothek Leipzig“ (S. 297–312). Diese besitzt mit 116 Einheiten den drittgrößten Bestand in Deutschland. Schulbücher und Lehrpläne der habsburgischen Donaumonarchie und der Republik Österreich durchforsten Philipp Dörler und Johannes Preiser-Kapeller beginnend im Jahre 1771, um die Vermittlung byzantinischer Geschichte auszuloten („Justinian und die Osmanen. Byzanz im österreichischen Schulbuch von 1771 bis in die Gegenwart“, S. 313–346). Man könnte die Fragestellung in zweierlei Hinsicht ausdehnen: Wie sieht es mit Kartenmaterial aus? Was ist mit Stoffen aus dem byzantinischen Jahrtausend, die in piaristischen und jesuitischen Schuldramen vor 1770 hin und wieder rezipiert wurden? Der Studie ist eine übersichtliche Tabelle beigegeben, die die Gewichtungen des byzantinischen Stoffes in Schulbüchern visualisiert.

Nach der Lektüre der Beiträge, in denen sich Rezeption jeweils auf unterschiedliche Weise abspielt – von und auf materiellen Zeugnissen bis zur Motivwanderung –, fragt sich der Rezensent, warum der in der Sowjetunion sozialisierte Joseph Brodsky und insbesondere sein Essay „Flucht aus Byzanz“ in der Einleitung des Bandes zitiert wird. Die Feststellung zur zentralen Lage Konstantinopels und der Idee Konstantins, sich dort einzurichten, ist für den Autor ein Ausgangspunkt zu vielschichtigen Reflexionen über das Fortleben des Byzantinischen. Das Thema ‚Drittes Rom‘ und seine ideologischen Implikationen auf den Gang der europäischen Geschichte, das bei dem Nobelpreisträger von 1987 unterschwellig präsent ist (und in den letzten Jahren differenziert betrachtet wurde), wird in dem vorliegenden Band nicht angesprochen.10 Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass unter ‚Europa‘ in diesem Band Westeuropa verstanden wird. Die gewählte Galionsfigur bringt den Rezipienten auf einen falschen Kurs: Anstelle eines durchgehenden Konzeptes findet er eine bunte Ansammlung wenig zusammenhängender Einzelstudien.

Anmerkungen:
1 Michael Altripp (Hrsg.), Byzanz in Europa. Europas östliches Erbe. Akten des Kolloquiums "Byzanz in Europa" vom 11. bis 15. Dezember 2007 in Greifswald, Turnhout 2011.
2 Nicolae Iorga, Byzance après Byzance. Continuation de l‘Histoire de la vie byzantine, Bukarest 1935. Erwähnt im Beitrag von Sebastian Kolditz auf S. 179 Anm. 64. Iorgas Untersuchung ist immerhin noch so einflussreich, dass 2000 eine englische Übersetzung „Byzantium after Byzantium“ in Iaşi mit ausführlichem Vorwort erschien.
3 Nur eine minimale Auswahl an Literatur: Arnold J. Toynbee, Civilisation on Trial, New York 1948, beeinflusste die Forschung in der Zeit des Kalten Krieges maßgeblich; Ekkehard Kraft, Moskaus griechisches Jahrhundert. Russisch-griechische Beziehungen und metabyzantinischer Einfluss 1619–1694, Stuttgart 1995; Byzance et l'Europe. Colloque à la Maison de l'Europe. Paris, 22 avril 1994, Paris 2001; Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht (13. Februar bis 31. Mai 2004, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 27. Juni bis 13. September 2004, Martin-Gropius-Bau, Berlin), München 2004.
4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Neue Folge 29 (1988), S. 225–232.
5 Es fehlt der Hinweis auf Christian Hannick, Die byzantinische Musikkultur im europäischen Kontext, in: Das Mittelalter 6/2 (2001), S. 51–60.
6 Lydia Thorn-Wickert, Manuel Chrysoloras (ca. 1350–1415). Eine Biographie des byzantinischen Intellektuellen vor dem Hintergrund der hellenistischen Studien in der italienischen Renaissance, Frankfurt am Main 2006.
7 Johann Daniel Ritter, Geschichte des orientalischen Kaiserthums von Erbauung Constantinopels an bis auf die Eroberung dieser Stadt von den Türken und den damit verknüpften Untergang des Reichs, Leipzig 1768.
8 Ergänzt werden könnte Donald Nicol, The Immortal Emperor. The Life and Legend of Constantine Palaiologos, Last Emperor of the Romans, Cambridge 1992, S. 109–128 (“The dying embers”), wo die genealogischen Wege der Palaiologen bis in die Gegenwart verfolgt werden.
9 Nicht erwähnt wird die grundlegende Untersuchung von Julia Chatzipanagioti-Sangmeister aus dem Jahr 1997, Graecia Mendax: das Bild der Griechen in der französischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, Diss. Wien, Wien 2002, wo auch Byzanzrezeption behandelt wird (S. 74–100: "2.3. Der Beitrag der byzantinischen Literatur").
10 Kleinigkeiten: S. 4 Anm. 16: George Majeskas Werk über russische Reisende nach Konstantinopel erschien 1984; S. 19 Anm. 9: l. Moffatt; die Farbabbildung auf Tafel IV „Sternenmantel“ ist zu klein geraten. Nicht alle Kürzel sind aufgelöst (z.B. S. 21ff. ODB = The Oxford Dictionary of Byzantium. 1991, S. 133, GRBS = Greek, Roman and Byzantine Studies), bei vier Beiträgen gibt es separate Literaturlisten (Dörler/Preiser-Kapeller, Op de Coul, Schubert, Wanek).

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