Der medialen Präsenz nordafrikanischer Migrationsrouten und Flüchtlingsdramen im Mittelmeer zum Trotz ist die Bedeutung von Migration für die jüngere Geschichte des Maghreb bislang nur ansatzweise ausbuchstabiert worden. Nicht, dass die Migration in, aus oder durch die Länder des westlichen Nordafrika komplett abwesend wäre. Sie gehört, etwa im Falle der ab 1830 entstehenden Siedlerkolonie in Algerien, zu einer Grundtatsache der Maghreb-Historiographie. Doch fehlt es weitgehend an Versuchen, diese übergreifenden Migrationszusammenhänge stärker in die allgemeine Geschichte der Region zu integrieren. Mit den jüngsten Monographien von Julia Clancy-Smith und Allan Christelow liegen zwei ambitionierte Versuche vor, die Geschichte des Maghreb als die einer multiplen Grenzsituation zu schreiben.
Trotz unterschiedlicher Objekte sind die Gemeinsamkeiten beider Werke offensichtlich: Sie stammen aus der Feder von Forschern, die zuvor grundlegende Werke zu Reaktionsweisen muslimischer Notabeln auf die Etablierung französischer Kolonialherrschaft in Algerien und Tunesien vorgelegt und sich damit um die Erforschung nicht-europäischer Perspektiven und ihrer Quellen verdient gemacht haben – eine Absicht, von der auch ihre neuen Werke zeugen; beide nehmen lange Zeiträume in den Blick, die quer zu konventionellen Periodisierungen liegen; beide operieren mit Konzepten der „frontier society“ (Christelow) bzw. „borderland society“ (Clancy-Smith), um die konstitutive Rolle kultureller Grenzüberschreitungen und weitgespannter Interaktionsräume für die Region zu betonen; und beide verbinden dies mit einem durchaus persönlichen Plädoyer für interkulturellen und interreligiösen Dialog in einer Gegenwart zunehmender Abschottung mittels kultureller wie politischer Grenzen. Doch weisen die Werke auch klare Unterschiede im Zuschnitt ihres Gegenstandes und in ihrem Zugang aus. Sie illustrieren verschiedene Möglichkeiten, den Maghreb als eine durch Mobilität geprägte Grenzregion zu beschreiben.
Julia Clancy-Smiths glänzende Studie rückt die Geschichte euro-mediterraner Immigration nach Nordafrika im 19. Jahrhundert in den Blick. Sie nähert sich ihrem Gegenstand im wesentlichen von einem Ort aus: dem Großraum Tunis, wo der Anteil „fremdländischer“, vor allem europäischstämmiger Bewohner um 1880 auf gut 15 Prozent angewachsen war, wohlgemerkt noch vor der Kolonisierung. Damit bewegt sie sich auf keineswegs unbekanntem Terrain, sondern trägt zu mehreren zuletzt sehr aktiven Forschungsfeldern bei: Studien zu verschiedenen europäischen Einwanderungsgruppen in den vorkolonialen und kolonialen Maghreb; Forschungen zur Praxis europäischer Konsuln, Extraterritorialität und konfligierende rechtliche Zuständigkeiten in den nordafrikanischen „Barbareskenstaaten“; sowie Studien zu Hafenstädten und ihrem (mentalen wie sozialen) „Kosmopolitismus“, insbesondere im östlichen Mittelmeerraum. Clancy-Smith gelingt es nicht nur, diese verschiedenen Forschungsstränge zusammenzuführen, sondern sie mit weitreichenden neuen Argumenten zu verknüpfen. Es entsteht ein faszinierendes Porträt einer nordafrikanischen Küstenregion, die im 19. Jahrhundert mit einem massiv anschwellenden Strom von Immigrant/innen konfrontiert war. Im Zentrum des Buchs steht eine Welle europäischer Nord-Süd-Migration, die in den 1820er-Jahren einsetzte und die tunesische und ostalgerische Küste mit Teilen Südfrankreichs, Malta und Italien zu einem „central Mediterranean corridor“ (S. 11) verband. Die konstante Migration zehntausender meist verarmter Südeuropäer nach Nordafrika machte aus der Region „a social dump, a political landfill, for Europe’s human castoffs“ (S. 65). Dieses neue „migratory sub-system“ (S. 14) wurde laut Clancy-Smith zwar durch den französischen Siedlungskolonialismus in Algerien (ab 1830) befördert, erreichte aber unabhängig und weit vor der Errichtung formaler Kolonialherrschaft über Tunesien (ab 1881) eine enorme Dynamik.
Clancy-Smith fragt danach, wie die massive Immigration mehrheitlich christlicher, vorwiegend mittelloser und/oder politisch verfolgter Südeuropäer die lokale Gesellschaft veränderte und wie die einheimische Bevölkerung und der Staat unter der Dynastie der Husayniden darauf reagierten. Sie hebt dabei auf die Herausbildung interkultureller Zwischenräume und (häufig konfliktreicher) Interaktionen ab, auf Prozesse kultureller Kreolisierung, auf unklare, instabile und wechselnde Zugehörigkeiten, die eindeutige Grenzziehungen zwischen „Europa“ und „Nordafrika“, „Christentum“ und „Islam“ problematisch erscheinen lassen. Methodisch geht die Autorin wie eine historische Ethnographin vor. In neuen Kapiteln durchleuchtet sie verschiedene Themen und Erfahrungsräume der Neuankömmlinge und der sie umgebenden Gesellschaft und verschränkt dabei dicht beschriebene Fallstudien mit strukturorientierten Passagen aus der Vogelperspektive.
In Kapitel 1 lässt Clancy-Smith die Leser – ihren Protagonisten gleich – ankommen: in den Hafen des Vororts La Goulette, der im 19. Jahrhundert einen rasanten Ausbau erfuhr, durch Zoll-, Quarantäne- und konsularische Bestimmungen, dann in die Hauptstadt Tunis, die auch schon vor der großen europäischen Einwanderung multikonfessionelle und -kulturelle Züge trug. Kapitel 2 widmet sich, aus strukturhistorischer Sicht, der Herkunft und den möglichen Motiven der neuen Einwanderer. Drei Kapitel behandeln daraufhin die unterschiedlichen Beschäftigungsfelder und Überlebensstrategien der Neuankömmlinge. Kapitel 3 weist auf die überragende, wenn auch bislang wenig beachtete Bedeutung des Haushalts als Arbeitsplatz hin, der in dieser Zeit mit der (im Falle von weiblichen Haussklaven nur sehr langsamen) Abschaffung der Sklaverei einen Umbruch erfuhr. Neben dem Hof als größtem Arbeitgeber boten auch größere tunesische wie ausländische Elitehaushalte und Konsulate wichtige, auch qualifizierte Beschäftigungsmöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten, zu denen häufig nur bestimmte Patronagenetze Zugang gewährten. Kapitel 4 rückt entstehende (religiöse sowie konsularische) Strukturen der Armenfürsorge und weitere, meist einfache Erwerbstätigkeiten in den Blick. Diese lagen zum einen im Kleingewerbe, dem entstehenden Tourismussektor sowie Orten der Geselligkeit, insbesondere den Tavernen, Orten des Alkoholkonsums, der infolge der europäischen Einwanderung einen starken Aufschwung erfuhr – einer von zahlreichen Konfliktherden der Grenzgesellschaft von Tunis. Das umfangreiche Kapitel 5 stellt maritime sowie illegale Erwerbstätigkeiten vor, insbesondere den florierenden und von Ausländern (bis hin zu Konsulatspersonal) dominierten Schmuggel. Überzeugend zeigt Clancy-Smith, dass in der Praxis fließende Grenzen zwischen illegalen und legalen Tätigkeiten bestanden. Aufbauend auf diesem sozioökonomischen Porträt behandelt Kapitel 6 die komplexe Frage rechtlicher Zuständigkeiten und Praktiken der Konfliktregulierung in einer Situation, in der kein homogener Rechtsraum bestand. An zahlreichen Beispielen zeigt Clancy-Smith, wie ausländische und einheimische Bevölkerungsgruppen sich den Rechtspluralismus zunutze machten, indem sie etwa die Protektion eines Konsulats oder des Hofs suchten, Asyl beanspruchten oder konvertierten. Zugleich wird aber auch deutlich, dass es in der Praxis – zumindest eine zeitlang noch – Konvergenzen und Kooperation zwischen Hof und Konsuln gab.
Die Kapitel 3-6 bilden den Kern von Clancy-Smiths „ethnographischer“ Erkundung der Lebensumstände und Erfahrungen der Einwanderer sowie ihrer Aufnahmegesellschaft. Es entsteht ein hochkomplexes und dynamisches Porträt, in dem Konflikte wie Solidaritäten unterschiedlichster Art vorkommen, alte und neue Migrationsformen genauso ineinander übergehen wie zahlreiche Formen von Klassifikation (wie Klasse, Ethnizität, Religion, Nation und insbesondere auch Geschlecht). Die Kapitel bieten faszinierende Fallstudien, in denen die Akteurinnen und Akteure greifbar werden (etwa ein transmediterran-kreolischer Einbrecher- und Schmugglerhaushalt). Dennoch bleiben die Migranten und ihre Nachbarn, ihre Konkurrenten auf dem Arbeitsplatz, ihre Kunden häufig etwas holzschnittartig, was vor allem mit allgemeineren Quellenproblemen einer history from below zusammenhängt. Die Autorin geht mit dieser Problematik erfrischend offensiv um. Immer wieder verfolgt sie einzelne Schicksale, bis sie sich in den überlieferten Quellen verlieren, und macht deutlich, welche Fragen offen bleiben. Mit diesen methodischen Problemen hängt wohl auch zusammen, dass in den drei abschließenden Fallstudien Ausnahmegestalten und Eliten im Vordergrund stehen. All diesen Fällen ist gemein, dass sie Periodisierungsfragen aufwerfen und die Vorstellung der Kolonialzeit als einem eindeutigen Bruch infrage stellen. Kapitel 7 folgt einem katholischen Missionarinnenorden, der 1839 aus Algerien ausgewiesen wurde und von Tunis aus ein mediterranes Netzwerk von Mädchenschulen, Krankenhäusern und Waisenhäusern aufbaute. Kapitel 8 weist auf die bis weit in die Kolonialzeit reichende Bedeutung einer mondänen Bäder- und Küstensoziabilität, in der sich die husaynidische und ausländische Eliten mischten. Kapitel 9 schließlich behandelt die Migrationsgeschichte eines der wichtigsten Reformdenker und -politiker der vorkolonialen Zeit: Khayr al-Din al-Tunisi, der als kaukasischstämmiger Sklave über Istanbul nach Tunis kam, dort im Militär und am Hof bis zum Amt des Premierministers aufstieg.
Während Mediterraneans durch die Konzentration auf einen begrenzten Raum den Maghreb als eine durch Migration geprägte Region beschreibt, verfolgt Allan Christelows Studie Algerians without Borders ein ähnliches Ziel auf geradezu konträre Weise. Befasst sich Clancy-Smith mit Migration in den Maghreb, zeichnet Christelow das beeindruckende Panorama einer Geschichte weltweiter algerischer Migration seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Algerians without Borders, denen Christelow nachspürt, sind Akteure einer grenzüberschreitenden, ja globalen Öffentlichkeit. Nutzt Clancy-Smith die räumliche Verdichtung, arbeitet Christelow mit einer massiven zeitlichen wie räumlichen Dehnung seines Themas, geht es ihm doch gerade darum, dass mobile Algerier ihre Herkunftsregion in einen weitgespannten, transkontinentalen Interaktionsrahmen einbinden. Zusammengehalten wird die Studie nicht durch einen bestimmten Untersuchungsraum, sondern durch einen personalen Zusammenhang: durch die (nicht unproblematische, s.u.) Kategorie der „Algerier“. Im Unterschied zu Mediterraneans, das stärker einer Zeitaufnahme gleicht, dreht sich Algerians without Borders stärker um den Aspekt historischen Wandels. Der Gewinn an zeitlicher und räumlicher Reichweite geht fast zwangsläufig mit einem tendenziellen Verlust an analytischer Dichte und Kohärenz einher.
Das Buch ist chronologisch in fünf Kapitel gegliedert. Auf seiner tour de force durch mehr als 200 Jahre algerischer Emigrationsgeschichte lässt Christelow einzelne Biographien immer wieder besonders plastisch hervortreten. Kapitel 1 befasst sich mit vielfältigen Formen der Grenzüberschreitung in den letzten Jahrzehnten der Regentschaft von Algier (1775-1830). In den Blick kommen hier neben grenzüberschreitenden religiösen Bewegung (etwa Sufi-Bruderschaften) vor allem algerische Akteure auf dem internationalen Parkett. Ähnlich wie Clancy-Smith sieht Christelow eine besondere Neigung dieser international versierten Diplomaten für reformerisches Denken. Die Kapitel 2-4, und damit der Hauptteil der Studie, widmen sich unterschiedlichen Phasen der Kolonialzeit (1830-1962). Kapitel 2 beschreibt Formen der Emigration, die durch die französische Eroberung des Landes ab 1830 ausgelöst oder geprägt wurden. Im Zentrum stehen dabei zwei Elemente: zum einen die Wellen religiös motivierter Emigration (hijra), die in den Nachbarländern sowie im Nahen Osten (vor allem Syrien) wichtige algerische Diaspora-Gemeinden hervorbrachten; zum anderen die durch kolonialen Militärdienst und Arbeitsmigration verursachte Mobilität. Kapitel 3 fokussiert mit dem Jahrzehnt von 1911-1920 auf eine besonders dynamische Phase algerischer Emigrationsgeschichte. In dieser Zeit kam es, in Reaktion auf die Einführung der Wehrpflicht 1911, nicht nur zur letzten großen hijra-Welle – eine Option, die, wie Christelow überzeugend argumentiert, mit der kolonialen Aufteilung des Nahen Ostens zerstob. Zudem traten während des Ersten Weltkriegs maghrebinische Emigrantennetzwerke in Istanbul und Kairo durch transnationale antikoloniale Aktivitäten in Erscheinung. Kapitel 4 wendet sich den letzten vier Jahrzehnten der Kolonialzeit zu, die nach Christelow durch eine Konzentration der Mobilität auf Frankreich geprägt waren. Das Kapitel dreht sich dabei weitgehend um die grenzüberschreitenden Dimensionen der islamischen Reformbewegung in Algerien und vor allem die transnationale Biographie eines ihrer Protagonisten, Bashir al-Ibrahimi. Die wichtige Internationalisierungsstrategie der algerischen Befreiungsfront während des Unabhängigkeitskriegs (1954-1962) wird nur anhand vereinzelter Biographien angedeutet. Viele andere Elemente, die die konstitutive Bedeutung von Mobilität für die jüngste algerische Geschichte deutlich machen würden, bleiben am Rande, etwa die umfangreiche Arbeits- wie auch Bildungsmigration nach Frankreich, die mobilen Biographien vieler zentraler Akteure der algerischen Politik oder die Geburt der ersten nationalistischen Partei in der algerischen Diaspora in Frankreich. Kapitel 5 schließt mit einem abrupten Sprung in die Gegenwart den zeitlichen Bogen: Es geht darin um die Beteiligung an transnationalen islamistischen Bewegungen, internationale Vermittlungsversuche während der bürgerkriegsähnlichen Situation der 1990er-Jahre und algerischen Emigrantengruppen in Frankreich und anderen Ländern.
Sei es als Destination hunderttausender euro-mediterraner Migranten, als Ausgangs- (und Referenz-)Punkt weltweiter Emigrantengruppen oder als Drehkreuz globaler Migrationsbewegungen, die Mobilität von Menschen, ihre Ursachen, Formen und Folgen prägten die neuere Geschichte Nordafrikas stärker als ein Blick in einschlägige Gesamtdarstellungen verraten mag. Beide Studien sind essentielle Beiträge zu einer migrationsgeschichtlichen Relektüre dieser Geschichte. Nebeneinander gelegt werfen sie zudem wichtige wechselseitige Rückfragen auf, von denen zwei abschließend angedeutet seien: Erstens macht ihre Lektüre deutlich, dass die maghrebinische „Grenzsituation“ sich gerade durch die Interferenz sehr unterschiedlicher Migrationsbewegungen in, durch und aus der Region auszeichnete – obwohl sich beide jeweils weitgehend auf je eine Migrationsrichtung konzentrieren. Wie jedoch verhalten sich diese unterschiedlichen (nordafrikanischen, islamischen, transsaharischen, mediterranen…) „Migrationssysteme“ zueinander? Wie stehen sie zahlenmäßig in Proportion? Kann man, wie es in Algerians without Borders erscheint, Algerien als „frontier society“ beschreiben, ohne die massive euro-mediterrane Immigration zu berücksichtigen? Und was bedeutet die schubweise Emigration weiter Teile der europäischen Diaspora und der jüdischen Gemeinden in den 1950er/60er-Jahren, wenn nach Clancy-Smith das moderne Tunesien ganz wesentlich durch Immigration geformt wurde? Zweitens stellt sich die Frage von Zugehörigkeiten innerhalb einer solchermaßen durch Migration geformten Grenzgesellschaft. Clancy-Smiths Analysen von Grenzverwischungen, Kreolisierungstendenzen und instabilen Zuordnungen lässt Christelows anachronistische Verwendung einer nationalen Kollektivbezeichnung als „Algerier“ problematisch erscheinen. Die Kategorie des „Algeriers“ als Nationalität selbst wurde, wie Clancy-Smith und andere überzeugend zeigen, stark durch den lange tastenden Umgang mit Auslandsalgeriern (etwa in Tunesien) geprägt. Im Gegenzug stellt sich nach der Lektüre von Mediterraneans die Frage, welche Rolle das prominent im Titel platzierte „Mediterrane“ als eine Zugehörigkeit in den Selbstwahrnehmungen und der Praxis vor Ort spielte. Auch in dieser Hinsicht eröffnen beide Werke weite Fragehorizonte auf, die zum Nachdenken anregen und viel Raum für weitere Forschungen bieten.