A. Opitz: Zur Kulturgeschichte illusionärer Weltgebäude

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Titel
Wahn & Sinn. Zur Kulturgeschichte illusionärer Weltgebäude


Autor(en)
Opitz, Alfred
Erschienen
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Martin Viehhauser, Departement Erziehungswissenschaften, Université de Fribourg

Ausgangspunkt der vorliegenden Studie von Alfred Opitz sind Strömungen, die von einer wahnhaften Sehnsucht nach Sinnproduktion in Bezug auf nationale Identität angetrieben werden. Den für die Untersuchung zentralen Begriff „Wahn“ bezieht Opitz auf Ideen, deren kulturelle Funktion in der Herstellung von Ordnung und der Konstruktion von „Wirklichkeit“ besteht. Konkret geht es zumeist um nationalromantisch fundierte künstlerisch-kulturkritische Strömungen, die besonders im deutschsprachigen Kontext des 19. Jahrhunderts wirkmächtig waren und später im Nationalsozialismus radikalisiert wurden. Woraus die Sehnsucht nach Sinnproduktion erwächst, wird rudimentär neurobiologisch (vgl. S. 15) und keineswegs historisch erörtert – eine der Ursachen, weshalb diese Studie von Beginn an auseinanderfällt. Denn mit einer Kulturgeschichte im wissenschaftlichen Sinn hat Opitz’ Buch, das den Untertitel „Kulturgeschichte illusionärer Weltgehäuse“ trägt, wenig zu tun.

Das Buch behandelt ausgesuchte kulturhistorische Sedimente, die Ausdruck von kulturellem Ordnungswissen sind. In der Materialauswahl geht es Opitz um „einzelne Traditionsfäden und signifikante Spuren“ (S. 22), die er als Autor mehr oder weniger willkürlich zusammenführt. In freier Assoziation schlägt Opitz zudem durchgehend vom historischen Material Brücken in die Gegenwart, die meist anhand von Artikeln aus der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“ ins Blickfeld gezogen wird. Dies alles passiert unsystematisch, was den Ansprüchen der Untersuchung nicht unbedingt widerspricht. Wissenschaftlich betrachtet ist es dennoch unbefriedigend. Problematischer sind die fehlenden Begründungen und Kontextualisierungen von Thema oder Materialien, nicht zuletzt deshalb, weil Opitz im Schlusskapitel für eine „intentionale[...] Distanz“ (S. 296) zu „Selbst- und Weltmodelle[n]“ (S. 298) plädiert. So bleibt vage, wo der eigene Ort dieser distanzierten Position ist, was für eine solche normativ verstandene Position konstitutiv sein müsste. Methodologisch wählt Opitz den distanzierten Blick, um die zu untersuchenden Phänomene von der „marginalen Position“ (S. 18) aus einfangen zu können, die letztlich zu einer auktorialen Position wird. Der historische Verlauf wird von dort aus teleologisch in eine Verfallsgeschichte eingepasst, die im Nationalsozialismus kulminierte.

Die Studie lässt sich hauptsächlich in drei Themenblöcke unterteilen, zu denen einordnende oder weiterführende Teile hinzukommen. Im Kapitel „‚Hunger nach Kunst‘ im ‚Schlamm dieser Erde‘“ bearbeitet Opitz die Konstruktion von nationaler Identität in der Kunst bzw. Kunstkritik. Einerseits kommen Äußerungen von (irgendwie) exponierten Kunsthistorikern und Museumsdirektoren zur Sprache. Unter Bezug auf Reden, etwa des Nazareners Philipp Veit, der von 1830 bis 1843 auch als Direktor des Städelschen Instituts in Frankfurt wirkte, oder des Braunschweiger Kunsthistorikers und Museumsdirektors Hermann Riegel, der seinerseits den Nazarenern nahe stand, zeigt Opitz auf, dass die deutsche „Nation“ als Kulturnation mit dem Mittel des Bezugs auf antike Mythen und teilweise religiöse Traditionen (Opitz führt den Topos der Maria lactans aus) hergeleitet wurde. Dementsprechend beschreibt Opitz Museen als Orte, an denen nationale Bedeutung imaginär hergestellt wurde. Andererseits wählt Opitz eine Buchreihe des Leipziger Kunstverlags E. A. Seemann, in der in einzelnen Monographien die Kunst unterschiedlicher Länder aus der Perspektive ihrer nationalen Eigenheiten dargestellt wird. Diese Monographien handelt Opitz dann jede für sich und geordnet nach Publikationsdatum ab: beginnend mit der Studie von Karl Eugen Schmidt über Frankreich, anschließend Ludwig Hevesi über Österreich, Henri Hymans über Belgien, Georg Nordensvan über Schweden und schließlich Emil Hannover über Dänemark. Diesen Reigen lässt Opitz in nationalsozialistischen Bemühungen zur Konstruktion einer „deutschen“ Kunst gipfeln; entsprechende Elemente werden unter anderem bei Julius Langbehn, Henry Thode und Paul Schultze-Naumburg herausgeschürft.

Der historische Verlauf mündet nach Opitz’ Lektüre unweigerlich in die Katastrophe des Nationalsozialismus. Aus diesem Blickwinkel ist es irrelevant, zwischen Historismus und nationalromantischen Ästhetiken zu unterscheiden. Was die Neo-Stile des 19. Jahrhunderts von nationalromantischen Stilen wie dem Heimatstil1 unterscheidet – bei Opitz sucht man nach solchen Differenzierungen vergeblich. Inwiefern darin durchaus auf modernistische Weise regionale und lokale Verankerungen bestimmend waren, kommt nicht in den Blick. Die Moderne von Expressionismus bis Bauhaus bleibt schließlich weitgehend ausgeklammert, obwohl es auch in diesen Ansätzen um Utopien und Illusionen geht.

Im zweiten großen Themenblock, für den das Kapitel „Serial Heroes“ steht, geht es um das, was Opitz den „mnemographischen Historismus“ nennt: die „Gesamtheit aller aus heterokliten Traditionsfragmenten zusammengebastelten Konstruktionen und Konstrukte mit identitätsstiftender Funktion“ (S. 109). Was ist damit gemeint? Opitz interessiert sich hier für die Verfestigung von Traditionsbeständen in Form von Serien, die in die Zukunft hin offen bleiben für Anknüpfungen: Museen, Ruhmeshallen wie Pantheon oder Walhalla, Denkmäler, Sammelalben oder eine Geschichtsdidaktik, die die Nationalgeschichte anhand der Porträts ‚großer Männer‘ zeichnet. Unter Bezug auf Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, die 1807 erschienen sind, arbeitet Opitz die Bedeutung solcher Serien für die Erziehung zu nationalem Bewusstsein heraus, die erst, so seine Ausführungen, im Rahmen eines Narrativs der zeitlich kohärenten Kette einer jeweiligen Kultur Sinn erhält.

Der dritte Themenblock schließlich behandelt wieder verstärkt räumliche „lieus de mémoire“ (Pierre Nora). Dabei geht es Opitz um die Entdeckung des städtischen Raums zur Inszenierung von Nation, vor allem in Form von allegorischen Denkmälern und Skulpturen auf öffentlichen Plätzen und von Figuren an repräsentativen Gebäuden. Die zwei Aufhänger der hier versammelten Ausführungen sind einerseits die historistisch-klassizistische Vorliebe, Allegorien in Form von nackten Figuren darzustellen, und andererseits die Mythisierung des Todes, die im Ersten Weltkrieg in Bezug auf den Heldentod am Schlachtfeld eine entscheidende Triebfeder der Kriegseuphorie gewesen sei. Diesbezüglich nimmt Opitz auch Friedhöfe und Kriegerdenkmäler in den Blick.

Nicht als wirkliche Themenblöcke, sondern als Weiterführungen erscheinen die anschließenden Teile. Zunächst thematisieren sie Anstrengungen der „Erziehung“ (S. 232) des Auges, die darauf abzielen, den ästhetischen Sinn am Material heimatlicher, öfters auch explizit „deutscher“ Kunst auszubilden. Opitz bezieht sich hauptsächlich auf Abhandlungen aus dem Begleitbuch zur ersten Tagung der kunsterzieherischen Vereinigung „Die Kunst im Leben des Kindes“, die 1901 in Dresden stattfand. Waren die kunsterzieherischen Bestrebungen, die das ‚wahre‘ Sehen lehren wollten, im Kontext der Vereinsaufgabe auf das Kind beschränkt, das ganz im Sinne der um 1900 wirkmächtigen reformpädagogischen Strömungen als die ursprüngliche Unschuld bewahrend gedacht wurde, nimmt Opitz in einem weiteren Schritt kulturpolitische Splitter im Nationalsozialismus in den Blick, besonders in den Bereichen Architektur und Kunst. Material sind hierbei hauptsächlich die Begleitdokumentationen der ab 1937 in München stattfindenden „Großen Deutschen Kunstausstellung“.

Den Abschluss findet die Untersuchung in Überlegungen, die unter dem Titel „Von Ikarus bis Uterus“ das Scheitern illusionärer Bewegungen postulieren, welche in der Suche nach einem utopischen „Dort“ (S. 282) bestehen, wie Opitz unter Anspielung auf Schiller schreibt, sowie die Sehnsucht nach „umfassender Geborgenheit“ (S. 284) ausdrücken – hier bezieht sich Opitz auf Freud. Als Fazit resultiert eine auf heutige Auseinandersetzungen bezogene dritte Option, die zwar sympathisch, aber etwas in den Raum gestellt, die „Perspektive einer kontingenzbewussten Gegenwart“ (S. 302) postuliert. Hierbei stellt sich Opitz in die Tradition von Pico della Mirandolas selbstreflexivem Humanismus.

Der „Wahn“, wahlweise auch metaphysisches Denken, Halluzination, Mythos, autohypnotisches Denken, Imaginieren usw., gründet gemäß Opitz in einer „alte[n] Sehnsucht nach einer horizontübergreifenden Wirklichkeit und Wahrheit“ (S. 15). Opitz spielt damit auf Nietzsche an, um die in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ (1873) ausgeführte Formel des menschlichen Triebes zur Metaphernbildung auf die Erfahrungen der „Moderne“ zu beziehen. Opitz’ Kritik des Wahns führt allerdings nicht in Richtung einer Dekonstruktion des „nationalromantischen“ Willens, ein Programm zu entwickeln, das auf einer allseits verbindlichen Weltinterpretation aufbaut; darin könnte der Sinn einer „Wahngeschichte“ liegen, die, wie Opitz es in seinen einleitenden Bemerkungen vornimmt, von Nietzsches moralistischer Kritik ausgeht. Ins Gewicht fällt hierbei in erster Linie die Stoßrichtung von Opitz’ Text, die selbst in eine kulturkritische Polemik gegen gegenwärtige Zustände führt. Sentenzenhaft liest man beispielsweise, dass „[w]ir […] es heute mit polyzentrischen, stark fluktuierenden und konkurrierenden Meinungsfeldern zu tun [haben]“ (S. 17), um diese Verfasstheit „heute“ dann zum Erklärungsansatz für die „Volkskrankheit“ (S. 17, Fußnote) Depression und die „enorme[n] Gewinnmargen für die Pharmaindustrie“ (ebd.) zu machen. Oder die Skulpturen von nackten Göttinnen, die Allegorien von Flüssen oder demokratischen Institutionen repräsentieren, werden mit der erotisierten Schaulust des (männlichen) Betrachters erklärt. Dabei ließe sich Schaulust auch auf einen anderen Schauplatz beziehen, der für eine Geschichte des nationalromantischen „Wahns“ aufschlussreich scheint: auf eine imaginierte Harmonie des Menschen mit dem Universum, die keine geschichtliche Verankerung in der Zeit und im Ort und deshalb auch keine Gewänder kennt, wohl aber einen schamhaften Erotizismus zulässt. Opitz’ Untersuchung behandelt durchaus interessante Elemente einer Kulturwissenschaft imaginärer Gesellschaftsentwürfe. In dem Zustand, in dem der Text vorliegt (der notabene zahlreiche Druckfehler aufweist), ist er allerdings zu disparat im Zugang – bruchstückhaft finden sich sowohl Anthropologie, kunstwissenschaftliche Stilkritik wie auch Ideengeschichte – und zu wenig fokussiert auf den Gegenstand – in Bezug auf Periodisierung und die Entscheidung für das Material –, um der Theorie des „mnemographischen Historismus“ ein begriffliches Gepräge geben zu können.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu etwa Elisabeth Crettaz-Stürzel, Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896–1914. 2 Bände, Frauenfeld 2005.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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