Cover
Titel
Golden Holocaust. Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition


Autor(en)
Proctor, Robert N.
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 737 S.
Preis
$ 49.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der US-amerikanische Medizinhistoriker Robert N. Proctor will in seiner Studie die Geschichte der Zigarette aus drei Blickwinkeln analysieren: das Design der Zigaretten, die Marketingstrategien der Tabakindustrie und die Rolle von wissenschaftlichen Experten in den Aushandlungsprozessen um die Gesundheitsrisiken des Rauchens. Proctor differenziert damit zwischen dem Artefakt Zigarette und den Diskursen über Zigaretten, die er als politisch aufgeladen und manipulativ einstuft. Während die Zigarettenwerbung Rauchen als „inalienable right of all free people“ (S. 5) darstellt, kontert Proctor: Inwiefern kann es sich beim Rauchen um eine freie Willensentscheidung handeln, wenn Raucher zur Zigarette greifen, weil sie von den Tabakkonzernen gezielt nikotinabhängig gemacht werden? Hier zeigt sich bereits das von Proctor identifizierte Leitmotiv der Tabakindustrie: Täuschung oder bewusste und zielgerichtete Manipulation von Fakten und Konsumenten. Dieses Motiv greift Proctor in seiner Darstellung immer wieder auf und dekonstruiert gekonnt die Strategien der Tabakindustrie.

Während die Studie inhaltlich durchweg überzeugend ist, stört die bisweilen normative Argumentation. Obschon die Wortwahl Proctors vermutlich aus seinen persönlichen Erfahrungen mit den Tabakkonzernen – sei es als Gutachter vor Gericht oder als Zielscheibe der Unternehmen, die die Entstehung dieses Buches verhindern wollten – herrührt, hätte ein sachliches und abwägendes Urteil seine schlüssige Argumentationsführung wesentlich klarer hervortreten lassen. Sicherlich stirbt statistisch gemessen die Hälfte der Raucher an den (Spät-) Folgen des Tabakkonsums. Doch wenn Zigaretten als „a bigger cause of global death than bullets“ (S. 3) gebrandmarkt oder Tabakkonzerne für eine Fülle von gesellschaftlichen Problemen wie Weltarmut, Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung verantwortlich gemacht werden, dann lenkt dies eher vom Kern des Arguments ab. Insbesondere wäre ein weniger problematischer und auf Effekthascherei bedachter Titel wünschenswert gewesen. Während sich insbesondere Prolog und Einleitung wie eine Anklageschrift oder Abrechnung mit der Zigarettenindustrie lesen, argumentiert Proctor jedoch in den vier übersichtlich strukturierten Teilen wesentlich analytischer und greift nur vereinzelt auf drastische und normative Sprachbilder zurück.

Im ersten Teil untersucht Proctor die Gründe für den Erfolg der Zigarette, den er insbesondere auf acht historische Veränderungen zurückführt. Erstens machte die Erfindung der Heißlufttrocknung den Tabak milder und ermöglichte damit überhaupt erst die Inhalation des Tabakrauchs. Zweitens konnten Zigaretten mit der Verbreitung von Streichhölzern an jedem Ort und zu jeder Zeit angezündet werden. Drittens beschleunigte und verbilligte die Massenproduktion die Herstellung der Zigaretten und erschloss somit neue potenzielle Käufergruppen. Viertens kreierten die moderne Werbung in Printmedien, Radio und Fernsehen sowie die gezielte Produktplatzierung von Zigaretten in Filmen und das Sponsoring von Sport- und Kulturveranstaltungen ein positives Image des Rauchens. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Dekonstruktion des Mythos, dass früher wesentlich mehr Menschen geraucht hätten und Zigaretten deshalb in alten Filmen allgegenwärtig seien. Proctor hingegeben belegt, dass die Filmstudios und ihre Stars lukrative Verträge mit den Konzernen hatten und deswegen häufig zur Zigarette gegriffen wurde. So schufen die Tabakkonzerne auf Zelluloid gebannte Fakten, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus wenig mit der Realität gemein hatten.

Der fünfte Grund für den Erfolg der Zigarette war der Krieg. Im Ersten Weltkrieg gehörten Zigaretten zur Nahrungsmittelration der Soldaten und nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie wichtiger Bestandteil des Marshall-Plans. Siebtens verweist Proctor auf die Manipulationen der Tabakindustrie in Bezug auf die Frage, inwiefern von Zigaretten ein Gesundheitsrisiko ausgeht. Abschließend betont er, dass die chemische Zusammensetzung von Tabak gezielt geändert wurde, um sowohl die Wirkstärke als auch die Suchtgefahr der Zigarette zu erhöhen. Das Verhältnis von Teer zu Nikotin im Tabak wurde zum Beispiel gezielt festgelegt: Die Höhe des Nikotingehalts muss gewährleisten, dass Raucher nikotinsüchtig werden, der Teeranteil auf einem Level liegen, welches den bitteren Geschmack des Nikotins verdeckt. Insofern ist Tabak kein natürliches Produkt, sondern vielmehr ein im Labor entworfenes und industriell gefertigtes Erzeugnis.

Während Proctor gerade im ersten Teil eine Unmenge an Informationen auf die wesentlichen Aspekte reduziert, geht er in den folgenden Teilen, die als Kernstück der Studie gelten können, stärker in die Tiefe. Im zweiten Teil beschäftigt er sich mit der Frage, wann wissenschaftlich fundierte Beweise für die vom Rauchen ausgehenden Krebsrisiken vorlagen. Der dritte Teil schließt daran an und zeigt, wie die Industrie die Gesundheitsrisiken verschleiern konnte und welche Rolle technischen Neuerungen wie dem Filter und den Light-Zigaretten zukam.

Dass in Gerichtsverhandlungen gegen die Tabakkonzerne der Fokus auf der Frage liegt, wer wann was von den Krebsrisiken des Rauchens wusste, hat juristische Gründe. Denn während neben dem Tabakkonsum noch viele andere Ursachen Herz-Kreislauferkrankungen auslösen können, ist der Zusammenhang zwischen Rauchen und zum Beispiel Lungen-, Speiseröhren- oder Blasenkrebs relativ leicht nachweisbar. Nur in dieser Frage bestand also die Chance, dass die Schuld der Tabakindustrie zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Um einer Verurteilung zu entgehen, verfolgte die Industrie eine grotesk anmutende Verteidigungsstrategie, die klar zwischen öffentlichem und wissenschaftlichem Wissen unterschied: Die Öffentlichkeit sei stets über die Risiken informiert gewesen und jeder Raucher habe damit das Risiko einer Krebserkrankung selbst in Kauf genommen, der wissenschaftliche Beweis für das Krebsrisiko hingegen sei erst in den letzten Jahren erbracht worden.

Proctor belegt das Gegenteil. Erst seit den 1970er-Jahren sei sich die Öffentlichkeit der Krebsrisiken allmählich bewusst geworden, habe diese jedoch noch immer erheblich unterschätzt. Industrienahe Studien wiederum hätten bereits im Jahr 1953 Tabakrauch eindeutig als Auslöser für Lungenkrebs identifiziert (unabhängigen Forschern war dies übrigens schon in den 1930er-Jahren gelungen). Daraufhin legten die Chefs der US-Tabakkonzerne im Dezember 1953 die Strategie des „fighting science with science, creating doubt, fostering ignorance“ (S. 3) fest. In den folgenden Auseinandersetzungen unterstellten industrienahe Studien den Wissenschaftlern von unabhängigen Forschungseinrichtungen im Regelfall, dass sie „unwissenschaftlich“ arbeiten würden und ihre Ergebnisse damit ungültig seien. Andererseits verwiesen die Konzerne stets auf ihre eigenen Forschungsanstrengungen zu den Krebsgefahren. Allerdings sollten diese Arbeiten nicht die Ursachen für Lungenkrebs untersuchen, sondern lediglich dessen Wirkungsmechanismen aufzeigen. Darüber hinaus war die Substanz Tabak kein primärer Untersuchungsschwerpunkt. Neben diesen für die Öffentlichkeit gedachten Forschungen wurden aber auch streng für den Hausgebrauch bestimmte Studien durchgeführt. Sie untersuchten genau jene Fragen zu den Krebsrisiken, über die öffentlich nichts bekannt werden sollte. In diesem Abschnitt gelingt es Proctor, ein breites Panorama an eindrücklichen Beispielen auszubreiten, das durchweg die Manipulationsintentionen der Tabakkonzerne offenlegt.

Das Design der Zigarette wurde ebenfalls auf die neuen Herausforderungen abgestimmt. Zwei Aspekte sind hier für die Veränderungen seit den 1950er-Jahren von besonderer Bedeutung: Die Illusion einer „sicheren“ oder „gesunden“ Zigarette sollte erstens die verunsicherten Konsumenten beruhigen. Zweitens wurde die chemische Zusammensetzung der Zigaretten verändert und so die Suchtgefahr erhöht. In diesem Zusammenhang kommt dem Zigarettenfilter eine Schlüsselfunktion zu. Er filtere den Rauch und mache ihn somit „sauberer“, lauteten die vollmundigen Werbeversprechen. Dieses Argument trug maßgeblich dazu bei, dass um 1960 Filterzigaretten die Hälfte des Markts erobert hatten und ihre Dominanz in den folgenden Jahren weiter zunahm. Laut Proctor war sich die Industrie jedoch bewusst, dass ein Filter nicht primär die ihm zugeschriebene Funktion erfüllte. Vielmehr seien drei andere Faktoren ausschlaggebend für die Entscheidung der Konzerne gewesen – ein finanzieller, ein praktischer und ein illusorischer: Der Filter senkte erstens die Herstellungskosten, da weniger Tabakmischung für eine Zigarette benötigt wurde. Raucher bissen zweitens nicht mehr auf störende Tabakteilchen. Drittens beruhigten die Filter die verunsicherten Raucher, da sie zumindest die Illusion der „sicheren“ Zigarette verbreiteten. Proctor klassifiziert Zigarettenfilter deswegen als „design fraud“ (S. 365) und dekonstruiert darüber hinaus noch weitere Produktneuerungen wie das „toasting“, Menthol- und Light-Zigaretten, die dasselbe Ziel verfolgten.

Abgerundet wird die Studie durch einen vierten Teil. Hier befasst sich Proctor zunächst mit giftigen Stoffen, die den Zigaretten beigemengt sind: Pestizide, Arsen und radioaktives Polonium. Auch möchte er Ansätze aufzeigen, wie Suchtgefahr und Gesundheitsrisiken der Zigarette reduziert werden könnten. Obschon der Höhepunkt des Rauchens („peak tobacco“, S. 6) bereits überschritten ist, stellt dies ein wichtiges Anliegen Proctors dar. Aus wissenschaftlicher Perspektive balanciert er in diesem Teil geschickt auf der Grenze dessen, was eine Forschungsarbeit leisten kann und sollte.

Zwei Kritikpunkte seien abschließend noch geäußert: Da der Fokus auf den USA liegt, bleibt die europäische Tabakindustrie lediglich eine Randnotiz. Den Lesefluss stören überdies die bisweilen deutlichen Redundanzen in der Darstellung. Diese Einwände sollen jedoch Proctors Leistung nicht schmälern. Ihm ist eine beeindruckende Studie gelungen, die für eine Vielzahl von Lesern eine Fülle an Informationen bereithält.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch