A. Wesselmann: Der Kreis Tecklenburg in der Revolution 1848/49

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Titel
Der Kreis Tecklenburg in der Revolution 1848/49. Deutsche Politik im Spiegel provinzieller Verhältnisse


Autor(en)
Wesselmann, Alfred
Reihe
Vormärz-Studien 22
Erschienen
Bielefeld 2012: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Reininghaus, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen

Kreise bildeten während der Revolution 1848/49 je eigene Kommunikationsräume.1 In ihnen wurden Kandidaten aufgestellt, gewählt, prallten politische Meinungen unmittelbar aufeinander. Der von Alfred Wesselmann ausgewählte Kreis hat über diese für Preußen allgemein gültigen Bedingungen hinaus weiteres zu bieten. Der Kreis Tecklenburg im Norden der Provinz Westfalen wurde nach 1815 gemischt-konfessionell gebildet und war durch Arbeitsmigration in die Niederlande, den sogenannten Hollandgang, sowie durch das kriselnde Leinengewerbe geprägt. Wesselmann wählt eine chronologisch ausgerichtete Darstellungsform. In die Hauptuntersuchung der Monate von März 1848 bis Juli 1849 blendet er mehrfach zeitlich übergreifende Themen ein. Bürgerwehren, Vereine, Lehrer und ihr patriarchalischer Einfluss, sowie die Reaktion auf wirtschaftliche Missstände kommen dabei zur Sprache.

Für März und April 1848 ermittelt Wesselmann Schwerpunkte von politischen Aktionen im protestantischen Lienen und Lengerich sowie im katholischen Mettingen. Aus Akten und Zeitungen ermittelt er eine dichte und detaillierte Abfolge der Ereignisse, wobei eine Klammer die Berichte von Landrat Grüter sind. Die beiden Wahlgänge zur deutschen und preußischen Nationalversammlung im Mai 1848 sahen eine spektakuläre Auseinandersetzung zwischen dem späteren Mainzer Bischof Ketteler, seinerzeit Pfarrer in Hopsten im Kreisgebiet, und dem Redakteur Brüggemann von der Kölner Zeit, der in Hopsten geboren wurde. Weit über die Regionalebene hinaus hat der von Ketteler knapp gewonnene Wahlkampf die Forschung interessiert; Wesselmann recherchiert neue Details. Für die Monate Mai bis Dezember 1848 konzentriert er sich auf das Auftreten der im Kreis gewählten Abgeordneten in Frankfurt und in Berlin. Ketteler mobilisierte die Katholiken gegen den westfälischen Oberpräsidenten Flottwell, der in der Paulskirche einem Antrag zur Abschaffung des Zölibats beitrat. Berlin rückt im Herbst in den Vordergrund. Der Landrat und seine protestantischen Anhänger reagierten auf die Auflösung der preußischen Nationalversammlung und gaben der Linken die Schuld. Deutlich schälten sich nun protestantische und katholische Positionen heraus, die sich in Vereinen niederschlugen. Die neuerlichen Wahlen zur preußischen Nationalversammlung im Januar und Februar 1849 gewannen – abweichend vom Trend in Westfalen – im Kreis Tecklenburg konservative Abgeordnete, die in Berlin wenig Aufsehen erregten. Dennoch kam es im Mai 1849 bei der Einberufung der Landwehr zu Unruhen, die jedoch offenbar keine politischen Motive hatten. Der Termin überschnitt sich mit dem Abmarsch der Hollandgänger in ihre Arbeitsgebiete.

Abschließend wirft Wesselmann einen Blick auf die Wahlen vom Juli 1849 und auf das Verfliegen der letzten revolutionären Spuren bis 1855. Seine Bilanz kommt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Er betont den Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten und wendet sich gegen die Interpretation eines Vorfalls im März 1848 durch Hans-Ulrich Wehler2: „Der Begriff des Religionskrieges passt eher als der des Bauernkrieges“ (S. 286). Auch die Wertung von Albin Gladen, die Auseinandersetzungen seien durch die Konfrontation von Unter- und Oberschicht charakterisiert, teilt Wesselmann nicht. Er hält dagegen (S. 287f.): Die Revolution habe wenig Gewaltpotential entwickelt, der Unterschichtenprotest habe keine politische Zielrichtung gehabt. Allerdings habe das Aufbegehren der Bürger „antiautoritäre Züge“ gezeigt. Das gesamte politische Spektrum, vor allem mit stark konservativ-gouvernementalen und konservativ-klerikalen Kräften, sei vertreten gewesen, gleichwohl blieben die Parteien vergleichsweise schwach entwickelt. Beide Konfessionen seien stark vertreten, die weltliche Obrigkeit sehr staatstreu gewesen.

Diese für den Kreis Tecklenburg herausgearbeiteten Positionen sind insgesamt plausibel nachzuvollziehen. Der Rezensent tut sich jedoch schwer mit dem Befund, „eine proletarische oder gar ‚klassenbewußte‘ (Arbeiter-)Bewegung“ habe gefehlt (S. 287). Spätestens seit 1989 sucht die Forschung gar nicht mehr danach. Möglicherweise hängen die Schwierigkeiten bei der angemessenen Bewertung der Aktionen der Unterschichten mit einer wenig ausgeprägten Quellenkritik zusammen. Wenn die Obrigkeiten als wichtige Zeugen dienen sollen, müssen ihre Aussagen, vor allem die Berichte des Landrats, kräftig gegen den Strich gebürstet werden. Diese Kritik soll nicht den insgesamt positiven Eindruck schmälern, den Wesselmanns Buch hinterlässt. Er macht sehr deutlich, dass der preußischen Herrschaft in Westfalen im 19. Jahrhundert ein konfessioneller Konflikt unterlegt war und die Konfliktparteien sich gerade 1848/49 Gehör verschafften. Wünschen wir uns rechtzeitig vor dem nächsten Jubiläumsjahr 2023 weitere solcher Kreisstudien!

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu mehrere Beiträge in Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Die Revolution 1848/49 in Westfalen und Lippe. Tagung der Historischen Kommission für Westfalen am 18. und 19. Februar 1989 in Iserlohn, Münster 1999.
2 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815 bis 1845/49, Bd. 2, München 1987, S. 712.

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