In der Spätantike gab es viele Gemeinschaften: die Gruppe der Aristokraten, die aufgrund des überlieferten Briefverkehrs gut belegt ist, die religiösen Gruppen und die angesiedelten Barbaren. Ihnen allen sind zahlreiche Studien gewidmet worden. Nur die ländlichen Gemeinschaften habe man bisher noch nicht genauer betrachtet, es fehle eine eigenständige Untersuchung zu ihren Grundsätzen, Erwartungen und Praktiken, so der Autor. Deshalb nimmt Cam Grey die unzähligen Bauerngehöfte, Dorfgemeinschaften und ländlichen Sozialstrukturen in der Spätantike in den Blick. Untersucht wird der Zeitraum vom Ende des 3. Jahrhunderts bis zum späten 5. Jahrhundert. Diese Eingrenzung ist gut begründet mit der Einführung eines neuen Steuersystems durch Diocletian und der Durchsetzung des Christentums.
Von den kleinen landwirtschaftlichen Kommunen und deren Einbindung in das sozio-ökonomische Umfeld in der Spätantike wissen wir wenig. So nachvollziehbar der Wunsch ist, eine analytische Brücke von regionalen Mikrostudien mit ihren archäologischen und literarischen Befunden zu übergreifenden Studien mit ihren theoretischen Modellen zu schlagen, so schwer ist es, hierbei zu belastbaren Ergebnissen zu kommen. Grey untersucht die einfachen, aber interessanten Fragen nach der Struktur und Funktionsweise der ländlichen Gemeinschaften, den sozio-ökonomischen Mechanismen zum Erwerb des Lebensunterhalts und der Handhabung sozialer Risiken.
In der Einleitung werden die Quellen und die Forschungsliteratur gesichtet und auf ihren Erkenntniswert hin überprüft. Die Quellen stellen die spätantiken Rechtskodifizierungen (der Codex Theodosianus und der Codex Iustinianus), die literarischen Zeugnisse, untergliedert in rhetorische, historiographische und briefliche Texte, sowie religiöse Traktate dar. In der Untersuchung begegnen dem Leser die erwartbaren Autoren wie Salvian, Libanius, Augustinus, Symmachus oder Sidonius Apollinaris. Dass die Perspektive des jeweiligen Autors beachtet werden müsse, wie weiter ausgeführt wird, versteht sich von selbst, nicht zutreffen dürfte aber folgende Feststellung: „In reality, of course, the analytical boundaries between these different types of texts were somewhat fluid“ (S. 5). Zumindest die juristischen Texte müssen mit einem anderen analytischen Instrumentarium als die literarischen Texte untersucht werden, wie sich noch zeigen wird.
Abgesehen von der fragwürdigen Behandlung der Rechtsquellen arbeitet Grey zuverlässig die Lebensumstände der Landbevölkerung in Gallien und Kleinasien sowie die unterschiedlichen Perspektiven der spätantiken Autoren heraus. Als Beispiele dienen ihm das spätantike Patrocinium und der Kolonat. Die Quellen sind allerdings ausnahmslos von Angehörigen der christlichen und paganen Elite verfasst worden. In Anbetracht der dürftigen, tendenziösen und die Perspektive einfacher Landleute nicht wiedergebenden Quellenlage ist die abschließende Ankündigung etwas überraschend, dass in diesem Buch nun, also in den folgenden sechs Kapiteln, versucht wird, den Klang und den Umfang der bäuerlichen Stimme wiederherzustellen (S. 24).
Im Weiteren werden dann auch die ländlichen Gemeinschaften aus der Sicht der antiken Literaten und der modernen Forschung konstruiert. Auf eine Begriffsklärung der analytischen Termini peasants und rustici folgt eine Definition der Begriffe Familie und Haushalt. Abgeschlossen wird dieses erste Untersuchungskapitel mit einer Erörterung von community und communities, in deren Kontext auch das soziologische Modell der „sozialen Mobilität“ und dessen Bedeutung für die Landbevölkerung besprochen wird.1 Dabei beschränkt sich Grey auf die horizontale Mobilität (Migration). Unter anderem belegt er dies mit einem oft zitierten Brief des Sidonius Apollinaris an einen gewissen Pudens (S. 48f. u. 53).2 Der in diesem Brief geschilderte Sachverhalt bezieht sich auf eine eheliche Beziehung, die zwischen einem rechtlich abhängigen Mann (inquilinus) und einer freien Frau gestiftet werden soll, von denen einer nach erfolgter Heirat seinen Wohnsitz verlegen müsste, was ein Zeichen für horizontale Mobilität wäre. Aber darum geht es nicht; vielmehr haben wir hier ein Zeugnis für die Möglichkeit der Grundherren, auf der Grundlage der Vertragsfreiheit den personenrechtlichen Status eines rechtlich abhängigen Mannes im gegenseitigen Einverständnis zu ändern – also ein Beispiel für die vertikale Mobilität.3 Als weiteren Beleg für diese spezielle Heiratsmobilität gibt Grey das Testament des Bischofs Remigius von Reims an. Dass es nur wenige Zeugnisse für die Heirat von abhängigen Personen verschiedener Grundherren gibt, hätte man als Hinweis für die Alltäglichkeit dieses Vorganges und der entsprechend praktizierten privatrechtlichen Lösungen werten können. Dem steht auch nicht die Rechtslage entgegen, wonach die Mobilität der Kolonen und Inquilinen (und der Sklaven) eherechtlich stark eingeschränkt war.4 Denn eine außergesetzliche Regelung im Konsens der Beteiligten war immer möglich. Mit Sicherheit zutreffend ist die Feststellung, dass es auch den bodengebundenen Bauern erlaubt war, ihre Grundstücke zeitweise zu verlassen. Dies sei aus einem bestimmten Grund, beispielsweise einer Beschwerde, oder aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, etwa einem Marktbesuch, möglich gewesen (S. 53). Es ist ferner zutreffend, dass die Anwesenheit der Kolonen auf ihrem Grundstück nur zu bestimmten Zeiten erforderlich war, etwa während der Ernte (S. 54).
In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Aspekte des Landlebens in der Spätantike anhand der Forschungsliteratur unter Berücksichtigung der Primärquellen erörtert. Hierbei kommt Grey zu durchaus ansprechenden Ergebnissen etwa hinsichtlich der small politics, also der Entscheidungsfindung, der Handhabung von Spannungen und der Klärung von Konflikten im kommunalen Bereich. Er öffnet dann auch den Blick auf das Verhältnis zwischen bäuerlicher Gemeinschaft und Großagrariern, die häufig als Patronen der Kleinbauern fungierten. Gerade zum bäuerlichen Widerstand gegen diverse Bedrückungen durch die Patronen und den Gesetzgeber kann er auf jüngere Studien, unter anderem auch der Konfliktforschung, zurückgreifen. Nicht berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang leider die Flucht der Bauern von ihren Äckern, welche doch die gängigste Widerstandsform gewesen sein dürfte. Dafür erfährt der Leser anhand einiger Bespiele vorwiegend aus Ägypten vom gewaltsamen Widerstand der Landbevölkerung gegen Unterdrückungen durch ihre Grundherren.5 Das Vokabular der zitierten ägyptischen Papyri kontrastiert Grey mit einem neuen, christlichen Vokabular des Widerstandes, das sich etwa in der Vita des Heiligen Martin von Sulpicius Severus zeige (S. 154).
Die Studie wird abgeschlossen mit zwei Kapiteln, in denen die besonderen Probleme der Landbevölkerung in der Spätantike thematisiert werden, zum einen die steuerliche Belastung und zum anderen das Patrocinium. Beide boten reichlichen Konfliktstoff, der sich in einer Vielzahl von Quellen niedergeschlagen hat. Wie auch sonst in der Studie, werden die Forschungsergebnisse zusammengetragen und diskutiert. Dabei wird die Bedeutung der origo für die Landbevölkerung sicher überschätzt, was offensichtlich daran liegt, dass Grey, wie eingangs angedeutet, die Rechtsquellen wie literarische Texte interpretiert. Ohne ein den Rechtsquellen angemessenes Analyseinstrumentarium kommt man freilich über die üblichen Erkenntnisse nicht hinaus. Grey folgert dann auch, es bestehe ein Widerspruch zwischen dem statischen Idealbild landwirtschaftlicher Aktivität, hervorgerufen durch das Steuersystem, und einer dynamischen, ökonomischen Realität. Das Erscheinen der abhängigen Bauern in den Rechtsquellen sei ein Produkt dieses Widerspruchs (S. 193). Er geht wie einige andere Forscher davon aus, dass die Bodenbindung eine Folge der diokletianischen Reformen gewesen sei. Wenn man dies einmal annimmt, muss man aber auch feststellen, dass bereits zwei Generationen nach dem ersten einschlägigen Gesetz eine Lockerung der strikten Bodenbindung zu verzeichnen ist6, bis die Bodenbindung schließlich in der Mitte des 5. Jahrhunderts auch rechtlich bedeutungslos geworden war.7 Die Rechtstexte spiegeln eben doch auch die soziale Wirklichkeit wider. Zumindest sind sie keineswegs statisch, sondern unterliegen einer Vielzahl von Einflüssen und werden vor allem durch die widerstreitenden Interessen der beteiligten Akteure ständig fortentwickelt. Es macht für die Interpretation eines Gesetzes einen großen Unterschied, ob es innovative oder affirmative Instruktionen enthält. Das entsprechende Analyseinstrumentarium hat jüngst Schmidt-Hofner in seiner Dissertation vorgestellt.8
Die an theoretischen Modellen entwickelten Aussagen in der vorliegenden Untersuchung wurden an zwei Phänomenen der Spätantike ausgerichtet: zum einen am aufkommenden Christentum und zum anderen am neuen Steuersystem. Durch die Christianisierung habe sich das Vokabular der sozialen Beziehungen verändert. Die Landbevölkerung habe sich individuell und kollektiv gegen die Ansprüche der Bischöfe als heilige Männer und der Kirche als Institution gewehrt. Das Verhältnis von Christen, christlichen Institutionen und Würdenträgern zur ländlichen Bevölkerung ist indessen, auch unter den hier im Vordergrund stehenden Aspekten, bereits häufiger untersucht worden.9 Auch die Erkenntnis, das Steuersystem könne für die veränderten Lebensumstände in den ländlichen Kommunen ursächlich gewesen sein, ist nicht ganz neu und wird seit dem grundlegenden Aufsatz von Jones diskutiert10, in dem dieser die These aufstellt, durch die Steuerreform des Diocletian sei die ganze Landbevölkerung an ihren Registrierungsort gebunden worden – eine These, die man im Übrigen in Frage stellen kann.
Was in der Einleitung noch verheißungsvoll klingt, muss in der Schlussfolgerung relativiert werden. So stellt Grey abschließend einen Mangel an archäologischen und literarischen Zeugnissen fest. Weshalb aber die durchaus vorhandenen archäologischen Funde und Befunde kaum berücksichtigt wurden, wird nicht klar. Weiter heißt es dann: „However, these limitations and problems should not discourage us, for the rewards are potentially great, particularly when we place our multifarious contexts explicitly in dialog with one another, and with evidence and theoretical perspectives from other contexts“ (S. 229). Vielleicht hätte man doch angesichts der Quellenlage von einer solchen Untersuchung Abstand nehmen sollen, denn auch die Erkenntnisse aus der theoretischen Erörterung der Forschungsliteratur sind nicht überzeugend. Vorgelegt wurde ein intellektuell ansprechendes Werk, dessen Ergebnisse jedoch insgesamt nicht zufriedenstellen.
Anmerkungen:
1 Zur sozialen Mobilität in der Spätantike vgl. grundlegend Ramsay MacMullen, Social Mobility and the Theodosian Code, in: Journal of Roman Studies 54 (1964), S. 49–53.
2 Sidon. Apollin. epist. 5,19.
3 Vgl. hierzu Oliver Schipp, Der weströmische Kolonat von Konstantin bis zu den Karolingern (332–861), Hamburg 2009, S. 199–213.
4 Cod. Theod. 5,18,1 (419) = L. Rom. Vis. 5, 10, 1; Nov. Val. 31 (451) = L. Rom. Vis. (Nov. Val.) 9.
5 Ausführlicher ist hier Geoffrey E. M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, London 1981.
6 Vgl. etwa den Unterschied von Cod. Theod. 5,17,1 (332); 13,10,3 (357) und Cod. Iust. 11,48,7 pr. (371) zu Cod. Iust. 11,48,13,1 (400). Die Kolonen konnten nun innerhalb der eigenen Landgüter von den Grundherren umgesetzt werden.
7 Nov. Val. 35,18 (452). Vgl. Oliver Schipp, Der ökonomische Nutzen des Kolonats? Das System der Bodenpacht und die ökonomischen Folgen, in: Sven Günther (Hrsg.), Ordnungsrahmen antiker Ökonomien, Wiesbaden 2012, S. 181–197.
8 Vgl. Sebastian Schmidt-Hofner, Reagieren und Gestalten, München 2008.
9 Vgl. etwa John H. W. G. Liebeschuetz, Barbarians and Bishops, Oxford 1990. Auch ist Sabine Hübner, Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens, Stuttgart 2005, heranzuziehen, da hier in einer regionalen Studie Überlebens- und Aufstiegsstrategien der Agrarbevölkerung deutlich werden.
10 Arnold H. M. Jones, The Roman Colonate, in: Past and Present 13 (1958), S. 1–13.