Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg begann sich die Reichswehr im Geheimen systematisch auf den „Krieg der Zukunft“ vorzubereiten. Im Januar 1921 lag der Heeresleitung der Reichswehr eine Denkschrift vor, in der gefordert wurde, dass mit der Wissenschaft die Waffentechnik gefördert werden müsse, um die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners künftig durch die „technische Vollkommenheit“ der eigenen Waffen auszugleichen. Mit Rückblick auf den „Krieg der Fabriken“ 1914/18 sollte der waffentechnische Vorsprung künftig durch eine enge Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Industrie erreicht werden. Drei Jahre später wurde der Chef der Heeresabteilung beim Truppenamt der Reichswehr, Oberst Joachim von Stülpnagel, noch deutlicher, als er vor höheren Reichswehroffizieren erklärte, dass „unsere Phantasie“ für die künftige Kriegführung „eifrig arbeiten“ solle. Geradezu beschwörend erklärte er, dass schnellstens neue Waffen gefunden werden müssten, „die aus der Verzweiflung geboren, doch von so elementarer Stärke sind, dass sie uns den Sieg oder den gemeinsamen Untergang mit dem Feinde zu verbürgen scheinen.“1 Der Vortrag Stülpnagels war eine klare Vorgabe für die künftige Waffenforschung zu Lande, zu Wasser und zur Luft.
In der Weimarer Republik stellte das Militär die Weichen für die systematische Vereinnahmung von Wissenschaft und Technik. Die Nationalsozialisten schufen ab 1933 im Grunde nur noch bessere Rahmenbedingungen: sie gaben vor allem Geld – „richtig viel Geld“. Welchem Spektrum von waffenrelevanten Themen sich allein das Heer widmete, und wie das Heer zielgerichtet die Wissenschaft für die Waffenentwicklung einspannte, das erzählt Günter Nagel in seinem Buch über die geheimen Forschungsaktivitäten des Heereswaffenamtes (HWA). Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt auf der Tätigkeit der Forschungsabteilung des HWA zwischen 1935 und 1945, aber zugleich verknüpft Günter Nagel die vielen sachlichen und personellen Fäden aus der Zeit vor 1933 mit denen danach. Das Buch erzählt eine höchst spannende Geschichte über Wissenschaft und Krieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Einführung seines Buches hat Günter Nagel mit „Betonrätsel in der Heide“ überschrieben. Die zahlreichen Ruinen, um die es ihm geht, befinden sich im weitläufigen Kummersdorfer Forst, auf halbem Wege zwischen Zossen und Luckenwalde, rund 40 Kilometer südlich von Berlin. Auf dem Areal entstand um 1875 ein Versuchsschießplatz des kaiserlichen Heeres – die spätere „Heeresversuchsstelle Kummersdorf“ des HWA. Über die Jahrzehnte hinweg wurde das Gelände beständig ausgebaut und erweitert. Am Ende des Zweiten Weltkrieges erstreckte sich die Heeresversuchsstelle auf einer Fläche von mehr als 3.500 Hektar. Dort erprobten die verschiedenen Abteilungen des HWA bis 1945 beinahe jede nur erdenkliche Waffe. Die heutigen Ruinen im Kummersdorfer Forst, die „Betonrätsel in der Heide“, gehörten bis 1945 zu den vier Versuchsstellen der Forschungsabteilung. Es waren einst hochmoderne „Waffenlabore“ gewesen: die „Versuchsstelle Ost“ – Zweckbestimmung unbekannt, wahrscheinlich biologische und chemische Waffenforschung (S. 316), die „Versuchsstelle West“ – Raketen, die „Versuchsstelle N“ – Nachrichten und das Kernstück der heereseigenen „Giftküche“, die „Versuchsstelle Gottow“ – Ballistik, Kernphysik und Sprengstoffe. Der Standort der letzteren Versuchsstelle ist noch heute, an den zwei merkwürdig aussehenden Ruinenreihen auf rund einem Kilometer Länge, gut erkennbar. Keine der Betonruinen in der Doppelreihe gleicht der anderen (S. 694). Zuverlässig ist darüber lediglich bekannt, dass in Gottow vor allem die Kernforschungen des Heeres betrieben wurden. Das Forschungsspektrum aller Versuchsstellen dürfte im Grunde alles umfasst haben, was waffentechnisch Anwendung finden konnte. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges verfügten die Versuchsstellen der Forschungsabteilung allesamt über großzügig angelegte und vorzüglich getarnte Forschungs- und Erprobungseinrichtungen. Zudem unterhielt die Forschungsabteilung ein weitgespanntes und engmaschiges Beziehungsnetz zu Hochschulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen. Dahinter steckten vor allem tausende Menschen mit ihren Biographien. Günter Nagel hat deshalb im Anhang seines Buches zur besseren Orientierung nicht nur das übliche Personenregister (S. 535–547) erstellt, sondern auch ein „Wer war wer“ in der Forschungsabteilung des HWA und den damit verbundenen Einrichtungen und Institutionen erarbeitet (Anhang: S. 549–586).
Zu Beginn der Recherchen standen Günter Nagel lediglich zwei Telefonverzeichnisse der Forschungsabteilung und ein 1944 verfasster Bericht über die Versuchsstelle Gottow zur Verfügung. Sein Buch verdeutlicht, welches enorme Wissen er über Jahre hinweg zusammentragen hat. Seine beharrliche Suche förderte Erstaunliches zu Tage. Doch vieles wird für immer im Dunkeln bleiben, da es in den Archiven im günstigsten Fall nur eine fragmentarische und keine zusammenhängende Aktenüberlieferung gibt (S. 14). Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Forschungsabteilung bei Kriegsende alles daran setzte, ihre Akten und Dokumente in umfassender Weise zu vernichten. Nach dem alten Motto „Quod non in actis, non in mundom“ wurden im Frühjahr 1945 Tag und Nacht Akten verfeuert (S. 402). Um diesem Forschungsdilemma zu entkommen, suchte Nagel erfolgreich nach den wenigen noch lebenden Zeitzeugen, spürte private Nachlässe auf und nutzte die in amerikanischen und russischen Archiven aufbewahrten deutschen Beuteakten (S. 9–18).
Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile: „I. Organisation“, „II. Experimente“ und „III. Schicksale“: Im ersten Teil werden die Entstehung, Strukturen und die personelle Besetzung der Forschungsabteilung und ihrer Versuchsstellen eingehend dargestellt. Vorangestellt ist ein Exkurs über die Geschichte der verschiedenen Vorgängereinrichtungen der Forschungsabteilung. Dadurch wird ersichtlich, dass die Wurzeln der Waffenforschung des HWA bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Hierbei offenbaren sich erstaunliche sachlich-thematische und personelle Kontinuitäten. Nicht überraschend ist, dass einige davon bis in die Frühzeit der alten Bundesrepublik reichen. Neben der Forschungsabteilung werden auch das II. Physikalische Institut der Universität Berlin, eine Tarninstitution des HWA, und die Abteilung Wissenschaft im Oberkommando der Wehrmacht, sowie die im Frühjahr 1940 aufgestellte „Studentenkompanie“ des HWA thematisiert. Die Einbeziehung dieser Einrichtungen in die Darstellung ergab sich aus der Ämtervielfalt des Leiters der Forschungsabteilung, Erich Schumann (1898–1985), dem „spiritus rector“ der geheimen Waffenforschung des Heeres. Schumanns Wirken und Einfluss zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Zudem bietet der erste Teil auch einen Abschnitt über die brisante Zusammenarbeit des HWA mit der SS. Ergänzend sei angemerkt, dass nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 der Reichsführer-SS Himmler zum Befehlshaber des Ersatzheeres wurde und damit das HWA unter dessen direkte Befehlsgewalt kam. Er hatte damit die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt über die Waffenprojekte des Heeres und deren Einsatz.2
Das Kapitel „Experimente“ stellt das Kernstück des Buches dar. Es werden darin die vielfältigen Projekte der Forschungsabteilung beschrieben. Bei den von der historischen Forschung vielfach bearbeiteten Themen über das deutsche Uranprojekt oder die Fernrakete, vertieft Nagel die Thematik sinnvollerweise nur an den Stellen, an denen er auf bislang kaum beachtete oder neue Zusammenhänge aufmerksam machen kann. Die Bandbreite der im Buch vorgestellten Projekte/Themen ist beachtlich: Akustik, Ballistik, Biochemie, biologische und chemische Kampfstoffe, Elektronik, Ersatzmaterialien, Extremtemperaturen, Fernsteuerung, Fotografie, Hochfrequenztechnik, Hohlladungen, Infrarottechnik, Kernphysik, Kurzzeitbatterien, Meteorologie, Nachrichtentechnik, Pharmakologie, Raketen, Sprengstoffphysik und -chemie, Sondertreibstoffe bis hin zu Zündern. Die Reihe der Forschungsthemen ist damit jedoch längst nicht abgeschlossen, wie der Abschnitt „Aktenzeichen ungelöst“ im zweiten Hauptteil erkennen lässt (S. 373–392).
Der dritte Hauptteil ist mit „Schicksale“ betitelt. Das mag dramatisch klingen – nach der Lektüre ist es das allerdings auch. Es geht hierbei um die Lebenswege der Mitarbeiter der Forschungsabteilung und der „Studentenkompanie“ bei Kriegsende und deren „Schicksale“ in der Nachkriegszeit in Ost und West. Es zeigt sich an dieser Stelle erneut, dass alle alliierten Sieger bei der Vereinnahmung der deutschen Wissenschaftler und Techniker nach dem Grundsatz „Legitimation durch Nutzen“ handelten. Günter Nagel widmet sich zudem in einer biographischen Skizze der ambivalenten Lebensgeschichte des Mannes, der die Forschungsabteilung maßgeblich geschaffen, geleitet und deren Mitarbeiter nachhaltig geprägt hat: Ministerialdirigent Professor Dr. Erich Schumann (S. 452–504). Die schwierige Annäherung an die Person Schumanns war nur möglich, weil Teile von dessen unbekanntem Nachlass vor einigen Jahren bei einem ehemaligen Angehörigen der Studentenkompanie aufgetaucht waren. Inzwischen kann der Nachlass im Militärarchiv in Freiburg eingesehen werden (S. 17).
Die vielen Fachbegriffe werden in einem Glossar erläutert. Im mehr als 100 Seiten umfassenden Anhang; wird neben dem schon erwähnten biographischen Teil auch die nicht einfache Organisationsgeschichte der Forschungsabteilung mit Strukturschemata besser verständlich gemacht. Am Ende präsentiert Nagel einschlägige Dokumente, bei denen ein Bezug zum Text mit Seitenangaben jedoch wünschenswert gewesen wäre. Abgerundet wird die Darstellung mit weitgehend unbekannten Fotographien und Zeichnungen.
Günter Nagel hat mit seiner Untersuchung Forschungsneuland betreten und damit einen wichtigen Beitrag zur Wissenschafts-, Technik- und Militärgeschichte geleistet. Die Fülle des ausgebreiteten Materials geht aber mitunter zu Lasten der Lesbarkeit und zudem waren Wiederholungen scheinbar nicht zu vermeiden. Insgesamt ist es gelungen, die schwierige Geschichte einer bis 1945 einzigartigen militärischen Schattenforschung darzustellen, die im Sinne von Heraklit verständlich macht, warum der Krieg der Vater aller Dinge ist. Wenn im Titel des Buches von „geheimen Arbeiten“ die Rede ist, dann darf es wohl auch nicht verwundern, wenn die Biographie von Günter Nagel im „Geheimen“ bleibt. Im Buch findet sich hierzu kein Hinweis.
Anmerkungen:
1 Carl Dirks / Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle. Hitlers Werkzeuge der Wehrmacht, Berlin 1999, S. 201.
2 Ronald Smelser / Enrico Syring (Hrsg.), Die SS, Paderborn 2000, S. 249–250.