Zu den wohltuenden Funktionen jeder Nationalgeschichte gehört, dass sie Ordnung stiftet, intellektuell wie politisch-moralisch, und diese Ordnung über einen gewissen Zeitraum stabilisieren kann. Hier wird wissenschaftlicher Fortschritt möglich, weil er sich innerhalb einer Fragestellung bewegt. Die Frage wird zuerst in einer klassischen Studie aufgeworfen, partiell beantwortet, erneut aufgegriffen, ausdifferenziert und auf immer neue Gegenstandsfelder ausgedehnt. Mit wachsendem Kenntnisstand aber zieht sie sich auch aus der öffentlichen Diskussion zurück, wird zum Feld für Experten, erlahmt gerade durch ihre erfolgreiche Bearbeitung und versandet schließlich in Forschungsberichten. Das „Licht der Kulturprobleme“ (Max Weber) ist weitergezogen.
Zu diesem Typus gehört auch die Frage nach dem „antidemokratischen Denken in der Weimarer Republik“. 1962 von Kurt Sontheimer aufgeworfen und zunächst auf die politische Rechte bezogen, entstand in den folgenden Jahrzehnten ein heute kaum mehr überblickbares Feld an Studien, in denen die politische Haltung aller möglicher Individuen und Gruppen vermessen und auf ihre Verantwortung für das kommende Unheil geprüft wurde. Das begann bei den konservativen Revolutionären, wurde ausgedehnt auf die obrigkeitshörige bürgerliche Mitte, bezog dann zuerst die innere, dann die äußere Emigration mit ein und endete nicht bei den Widerständlern, die ihr Leben ließen. Diese expansive Logik entspringt weniger dem Zwang des geschichtlichen Stoffes als der Funktion der Untersuchungen. Denn mit jeder Studie, die etwas entdeckte, was „gefährlich nahe“ an der nationalsozialistischen oder totalitären Logik gestanden habe, wurde die Sensibilität erhöht, mit der man diese Nähe maß. Und mit jedem Ausschluss politisch-moralischer Vorbilder versicherte sich die westdeutsche Nachkriegsdemokratie ihrer eigenen Fortschrittlichkeit, Richtigkeit und Andersartigkeit.
Bezeichnenderweise sperrt sich diese historisch gewendete politische Pädagogik auch allen strukturgeschichtlichen Relativierungen und konzentriert sich ganz auf den Menschen als Handlungssubjekt, wie es die alte Nationalgeschichte mit ihrer Suche nach Helden und Schurken schon immer tat: Weimar scheiterte, wie es Hagen Schulze einmal formulierte, weil alle falsch gedacht und deshalb falsch gehandelt haben. Und wir, so muss man ergänzen, handeln richtig, wenn wir nur die Kontrolle über die Richtigkeit unseres Denkens behalten. Dies ist die sancta simplicitas des rein ideengesteuerten politischen Handelns, das sich nur ungern durch den Blick auf ungewollte Nebenfolgen lähmen lässt. In der Geschichtsforschung entwickelt es eine wohltuend erkenntnisbeschränkende Ordnungsfunktion, die allerdings dann problematisch wird, wenn wesentliche Entwicklungen der Gegenwart übersehen werden. Die Eule der Minerva sieht eben nur gegen Abend gut.
Die vorliegende Studie ist in der Spätphase dieser Forschungsrichtung anzusiedeln. Das zeigt sich schon an ihrem Gegenstand: Wenn die undogmatische Linke darauf befragt wird, inwiefern sie antidemokratischem Denken in der Weimarer Republik nahestand, ist man so ziemlich bei der letzten noch relativ unverdächtigen Gruppe angelangt. Alexander Gallus hat sich mit großem Fleiß der „Weltbühne“ angenommen, die führende Zeitschrift dieses politischen Lagers. Sie hatte Ausstrahlungskraft weit über den engeren Kreis ihrer politischen Anhänger hinaus, und wer in dieser Szene Rang und Namen hatte, publizierte in ihr: Bert Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Else Lasker-Schüler, Walter Mehring, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Alfred Polgar, Friedrich Sieburg, Fritz Sternberg, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Arnold Zweig. Um es vorweg zu nehmen: die Studie ist ein Standardwerk, wie es nur aus Habilitationen heraus entstehen kann. Sie gehört in die ehrenwerte Reihe solider materialorientierter Geschichtsschreibung, die den Erkenntnisfortschritt ihrer Quellenaufarbeitung nicht durch eine Generaltheorie in eine bestimmte Richtung drängt, die dann immer zeitgebunden ist, sondern diese Einordnung anderen überläßt. Auch der Rezensent fühlt sich hier herausgefordert.
Gallus möchte das Intellektuellenmilieu der „Weltbühne“ charakterisieren, und zwar mit einer dezidiert epochenübergreifenden Fragestellung: Was wurde aus den Theorien und Personen in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten? Zu diesem Zweck wählt er anhand einer klar beschriebenen Kriterienliste vier Köpfe aus: Kurt Hiller, Axel Eggebrecht, William S. Schlamm und Peter Alfons Steiniger. Alle vier gehören nicht zur Prominenz der Weltbühne-Autoren, sondern standen eher in der zweiten Reihe der fleißigen Beiträger, spielten aber in unterschiedlichen Phasen der Zeitschrift eine wichtige Rolle. Sie sind zwischen 1885 und 1904 geboren und starben zwischen 1978 und 1991, können also mit Fug und Recht als eine Generation bezeichnet werden, die wie keine andere in ihre Selbstdeutung den politischen Systemwechsel integrieren mußte. Nach einer einleitenden Kurzgeschichte der „Weltbühne“ und ihrer Nachwirkung in der Bundesrepublik besteht der Kern der Arbeit in der detaillierten Rekonstruktion der politischen Haltungen dieser vier Personen, eingebettet in den jeweiligen Lebenslauf. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Profession des politischen Publizisten durch alle Etappen ihrer wechselhaften Biographie hindurch zu verteidigen verstanden, freilich mit sehr unterschiedlichem Erfolg und – spätestens ab 1945 – auch mit unterschiedlichen politischen Positionen, die sie freilich alle als folgerichtige Entwicklungen ihrer gemeinsamen Herkunft aus dem Weltbühne-Milieu ableiteten. Ihre äußeren Lebenswege verliefen ab den 1930er-Jahren auch unterschiedlich: Kurt Hiller emigrierte nach England und suchte dort im Schulterschluß mit anderen Emigranten seine publizistische Stellung zu wahren, bevor er Mitte der 1950er-Jahre wieder nach Hamburg zurückkehrte und gegen den Adenauer-Staat anzuschreiben begann. Axel Eggebrecht überlebte in der inneren Emigration und arbeitete anschließend erfolgreich für den NDR. William S. Schlamm entwickelte sich im amerikanischen Exil zum Verteidiger McCarthys, und Peter Alfons Steiniger wurde in der DDR zum linientreuen Parteiideologen.
Die Irrungen und Wirrungen ihrer politischen Dauerpositionierungen nachzuvollziehen, wie es Alexander Gallus mit großer Belesenheit gelingt, ist mühsam und drängt einem geradezu die alte französische Sicht der „querelles allemandes“ auf, wie sie in „Asterix bei den Goten“ paradigmatisch verewigt wurde. Denn alle vier eint, solange sie nicht im Schraubstock mächtiger Interessen wie dem Kalten Krieg eingespannt waren, die Lust am Nonkonformismus, am ständigen Widersprechen, an der Abgrenzung von allem und jedem, an der Kritik, und diesem Verlangen gingen sie mit einem unglaublichen Talent zu Polemik und Polarisierung nach. Parteiarbeit verachteten sie, und deshalb fällt auch das mäßigende Element, das aus dem Pragma politischer Tätigkeiten erwächst, nahezu aus. Hier sind im wahrsten Sinne des Wortes freischwebende Intellektuelle zu gange, und man kann das Set an Ideen, die sie im Laufe ihrer schreibenden Tätigkeit mit großer Leidenschaft und geringem Blick für die institutionellen Konsequenzen entwickelten, mit gleichem Recht für seinen Reichtum bewundern oder für seine Verstiegenheit bestaunen.
Nur eine dieser Ideen sei hier exemplarisch genannt, Kurt Hillers Pläne für eine „Logokratie“, also der Versuch, Intellektuellen in der Staatsführung einen institutionell privilegierten Ort zu verleihen, etwa durch einen „geistigen Rat“, der dem Parlament vorstehen und dem Wahlvolk grundsätzlich die Richtung weisen solle. Nun brauchen Demokratien ohne Zweifel institutionalisierte Relationen zwischen der Kontingenz politischer Strömungen und dem rationalen Lenkungsinteressen ihrer Eliten, und das us-amerikanische Vertrauen in den common sense ist nicht die einzige demokratische Variante, wie die französische und englische Elitenorientierung zeigen. Man könnte Hillers Idee insofern einfach als typisch deutsches Fossil des politischen Platonismus interpretieren, wenn eben nicht Max Weber bereits 1917 in „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ alles Nötige zur Privilegierung von Bildungspatenten gesagt hätte: Was hat eigentlich der Doktor der Philosophie oder Physik mit politischer Reife zu tun? Gallus’ Material bestätigt den Verdacht: nicht viel.
Die entscheidende Frage, die an Weimar zu richten ist, lautet mithin nicht: Warum wart ihr noch nicht so weit?, sondern: Wie konntet ihr das alles vergessen? Die Antwort ist bitter, weil sie auf die Eingangsproblematik dieser Rezension verweist, den Kontext der Forschungsfrage. Es ist der Fortschrittsglaube, der blind macht. Gerade weil alle diese unabhängigen Linken der Überzeugung waren, das alte Kaiserreich mit seiner bürgerlichen Gesellschaft durch die Revolution von 1918 hinter sich gelassen zu haben und nur diese Revolution vollenden zu müssen, um endlich an völlig neuen Ufern des Menschseins ankommen zu können, waren sie nach hinten nicht lern-, nur kritikfähig. Max Weber, Tocqueville, die ganze Tradition des politischen Pragmatismus war erledigt, weil sie Tradition war, durch den Fortschritt der neuen Epoche zum Staub der Geschichte geworden, von dem man sich umso leuchtender abhob, je mehr man ihn ignorieren oder verurteilen konnte.
Und genau hier schließt sich der Kreis, denn dieses Verhältnis zur Geschichte eint die Weimaraner Linksintellektuellen mit ihren bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigern. Beide trennen Revolutionen, die von Soldaten gemacht wurden, von der alten Epoche, in der alle falsch dachten und deshalb falsch handelten, und diese Revolutionen gilt es immer noch zu vollenden. Und so wie die Weltbühne-Publizisten Ende der 1920er-Jahre für die linke Einheitsfront warben, weil sie auf 1918 blickten, und in Mussolini nur einen neuen politischen Stil des dynamischen Sportsmanns sahen, so schauen wir durch die Linse von 1945 auf das antidemokratische Denken der Weimarer Republik, während sich ein wachsender Anteil politischer Entscheidungen über Europa der demokratischen Willensbildung entzieht. Es ist das große Verdienst von Alexander Gallus’ Studie über die „Weltbühne“, zu solchen Überlegungen anzuregen, ohne sie vorzugeben. Dies ist eine Möglichkeit für Geschichtsforschung Dauerhaftes zu liefern.