Zeiten beschleunigten, tiefgreifenden Wandels stellen menschliche Gesellschaften vor die komplexe Herausforderung, einerseits die bisher ungeahnte Vielzahl neuer Möglichkeiten der Welterschließung und Wissenszuwachs zu erkunden und fruchtbar zu machen, andererseits darüber nicht in Orientierungslosigkeit und im Verlust von Verbindlichkeiten zu versinken. Vielmehr galt und gilt es, die neuen Denk- und Handlungsoptionen in bestehende Ordnungsmodelle einzupassen. Diese müssen sich ihrerseits den neuen Gegebenheiten anpassen. Welche Prozesse dabei zum Tragen kommen, welche Faktoren für den Wandel von gesellschaftsordnenden Normen entscheidend sind, damit befasst sich der vorliegende Band mit Blick vorwiegend auf die Zeit zwischen 1400 und 1550.
Den beiden herausgebenden Theologinnen von der Universität Wien geht es dabei in erster Linie darum, zu klären, inwiefern sich das neu entdeckte kreative Potenzial des Menschen auf den Normenwandel in der Gesellschaft auswirkte und wie in diesem Prozess das Phänomen zu beurteilen ist, dass im 16. Jahrhundert ein stark obrigkeitlich regulierter Normbildungs- und -modellierungsprozess in Erscheinung tritt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage der Moral, ihres Wandels und den damit einhergehenden Verschiebungen im Tugendkonzept, die den Normbildungsprozessen zugrunde lagen. Diese Fragen werden in 13 Beiträgen diskutiert, in denen sich Theologen, Historiker, Musikwissenschaftler und Rechtshistoriker in interdisziplinärer Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Spannungsfeld der frühen Frühneuzeit befassen.
Sigrid Müller zeichnet die Entwicklung der Tugendlehre im Kontext der disziplinären Entwicklung von Philosophie und Moraltheologie im Späten Mittelalter nach und zeigt anhand der Auseinandersetzung der Vertreter der via antiqua und der via moderna, wie sich im 16. Jahrhundert eine Tendenz durchsetzte, tugendhaftes Verhalten nicht als gegeben vorauszusetzen. Vielmehr wurde unter dem Einfluss der Erfahrung von Pluralisierung Tugendbildung als Lernprozesse durch Nachahmung stärker in den Blick genommen und dabei die Rolle sanktionierender Institutionen, wie etwa der Rechtsprechung, stärker betont.
Christian Leitmeyer demonstriert anhand des Wandels der Musiktheorie im 15. Jahrhundert die hohe Bedeutung der intensiven Verankerung jedweder Neuerung in den anerkannten und tradierten Autoritäten. Sie war Voraussetzung, um selbst anerkannt zu werden und normativen Charakter zu erhalten. Meta Niederkorn-Bruck argumentiert ähnlich und diskutiert das Problem von Wissensproduktion und -zuwachs im Spanungsfeld zwischen Infragestellung und Stützung des bestehenden Wissens am Beispiel des Reformprozesses im österreichischen Kloster Melk. Dieser wurde wegweisend für die klösterliche Reformbewegung gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Auch sie verweist auf die Verknüpfung des Rekurses auf Autoritäten mit den Neuerungen, durch den das stabilisierende Element des neuen Wissens stärker hervorgehoben und damit verfügbar gemacht wurde.
Wie stark hingegen vermeintliche Neuerungen des 16. Jahrhunderts bereits in den gelehrten Debatten des 15. Jahrhunderts anzusiedeln sind, zeigen die Beiträge von Marianne Schlosser, Thomas Brogl, Rudolf Schüssler, Henrik Welts und Hans Schelkshorn. Die spezifische Spiritualität der Jesuiten gründete in einer breiten Auseinandersetzung mit den Angeboten etablierter Orden, aus der unterschiedliche Elemente dann in einer eigenen Komposition in die Regeln des Ignatius von Loyola einflossen. Auch die Rechtfertigungslehre Luthers findet ihre Wurzeln in der Debatte um Rolle und Funktion des Gewissens in den Werken von Johannes Nider, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit diesem Aspekt im Kontext der Seelsorge. Dass es nicht unbedingt Gewissensprobleme waren, die Kaufleute des 15. Jahrhunderts von bestimmten Geschäften Abstand nehmen ließen, wie ältere Paradigmen der Wirtschaftsethik glauben machen wollen, zeigt Schüssler in einer sehr methodenreflektierten Relektüre zweier zentraler Quellen. Er arbeitet heraus, dass zwar Moralität vorhanden gewesen sei, diese aber das ökonomische Handeln nicht stärker bestimmte als in der Moderne auch, und ökonomische Erwägungen Priorität genossen. Auch für die Anthropologie lässt sich Wels zufolge zeigen, dass die Erörterung über die Qualität der Seele des Menschen im späten Mittelalter eine entscheidende Folie für die Auseinandersetzungen über das Mensch-Sein der amerikanischen Bevölkerung geliefert habe. Dass die neue Geographie der Welt auch unmittelbaren Einfluss auf die politische Ordnung derselben hatte, zeigt Schelkshorn am Denken Franciscus‘ de Vitorias, dessen Theorie des Völkerrechts er vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit antiken bzw. mittelalterlichen Kosmopolitismus-Konzepten diskutiert. Er zeigt zugleich, dass auch dieser neue Kosmopolitismus Vitorias nicht frei von Ambivalenzen war, gerade im Hinblick auf das Problem einer fehlenden weltweit geltenden Moralität, die der Durchsetzung eines solchen Völkerrechts zugrunde liegen müsste.
Zielen diese Beiträge im Kern auf die Verankerung von Neuerungen in ihrem Rückgriff auf Entwicklungen des späten Mittelalters, widmen sich die fünf letzten Beiträge stärker dem Prozess der Normativierung von Moral im 16. Jahrhundert aus unterschiedlichen Perspektiven. Heribert Smolinsky rahmt diesen Prozess, indem er ihn – erstmals in diesem Band – an das Zusammenspiel verschiedener Aspekte eines fundamentalen Wandels im 14. und 15. Jahrhundert rückkoppelt. So führt er die sozioökonomischen Kontexte für die Hochkonjunktur der Frage nach Moral und danach, wie es gelänge, ein besserer Mensch zu sein, nochmals gebündelt vor Augen. Die drei Beiträge von Volker Leppin, Renate Dürr und Thomas Simon greifen sehr eng ineinander, indem sie auf die verschiedenen Bezugsrahmen und Faktoren einer zunehmenden Normativierung der Moral aufmerksam machen. Leppin kann in seiner Untersuchung des Zusammenhangs von ethischer Fundierung und Rechtfertigungslehre Luthers zeigen, wie sich im Lauf des konfessionellen Normativierungsprozesses bis zur Konkordienformel beide Aspekte zu einem kohärenten Konzept verbinden, dem jedoch im Sinne des „Reibungsverlusts“ zwischen den Reformatoren der zweiten und dritten Generation die starke Verwurzelung im Freiheitskonzept verloren ging. Dürr zeigt anhand der bisher nicht näher erforschten katholischen und lutherischen Beichtbücher, dass die Institution der Beichte ein zentrales Mittel im Hinblick auf die Durchsetzung moralischer Vorstellungen auch im Luthertum war. Wie bei den Katholiken spielte dabei die Gewissensfrage im Hinblick auf die Rolle des Beichtvaters eine doppelte Rolle – einerseits galt es, sich mit den Verfehlungen und moralischen Nöten des Beichtenden auseinanderzusetzen und diese einzuordnen. Andererseits war die Entscheidung, ob Absolution erteilt werden kann oder nicht, eine Gewissensfrage für den Beichtvater selbst. Einen entscheidenden Unterschied sieht Dürr hier in der Funktion des Wissens um richtiges Handeln und den damit verbundenen Erkenntnisprozess, der bei den Lutheranern sehr viel stärker beim Beichtenden selbst im Sinne einer Selbsterkenntnis angesiedelt war, als in der katholischen Beichtlehre. Thomas Simon erörtert in seinem Beitrag die Frage, warum die weltlichen Obrigkeiten im 16. Jahrhundert so deutlich in die institutionelle Normativierung von Moral eingriffen. Er argumentiert, dass man angesichts der Dringlichkeit der Durchsetzung von Moral im Angesicht des strafenden Gottes nicht mehr auf die Autorität und Durchsetzungsfähigkeit der Kirche als Institution und Trägerin habe setzen können, da diese in ihrem Ansehen im 15. Jahrhundert zu sehr an Ansehen eingebüßt hatte.
Der letzte Beitrag des Bandes von Hermann Hold zur Bedeutung des Umgangs mit dem Tod anhand der Metapher des Heiligen Christophorus bleibt in ihrer Zielrichtung unscharf, zumal gegenwartsbezogene Texte mit eine Fülle von Forschungszitaten zusammengebracht werden. Die Analyse von bildlichen Repräsentationen und der Legenda aurea verweisen auf den spätmittelalterlich-humanistischen Kontext und zeigen einen neuen Umgang mit dem Tod als Teil der Unsicherheit des Lebens.
Der Band versammelt also eine Fülle von interessanten Einblicken aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und Frageansätzen heraus, die sich mit der Frage der Normierung von Moral als einem Kernthema der Wissens- und Weltordnung dieser Zeit beschäftigen. Der sehr umfassend angelegte Titel ist indes irreführend, wenn man hier eine übergeordnete Einbettung in Fragen von Normsetzungsprozessen in ihrer ganzen sozialen, politischen und kulturellen Vielfalt und Komplexität erwartet hat. Der starke Fokus auf die Moraltheologie greift ein spannendes Feld auf, bietet Ansätze in eine weitere Diskussion, zumal ja größere Forschungsverbünde durchaus das Thema von „Ordnungen und Normen“ (Frankfurt, Mainz) wieder in den Fokus rücken. Gleichwohl hätte sich der Leser in der Einleitung zu einem solchen Band stärkere Orientierungspunkte durch die Definition und Einordnung leitender Begriffe wie „Norm“ und „Kreativität“ gewünscht. Auch „Autorität“ und „Pluralisierung“ spielen in den Beiträgen eine ähnlich strukturierende Rolle, die leider offen bleibt. Hierzu bietet die Forschungslandschaft reichlich Material, so etwa der Münchner Sonderforschungsbereich „Autorität und Pluralisierung“, dessen Ansatz und Ergebnisse nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch sicherlich eine spannende Referenzgröße gewesen wäre.