Geschichtsbewusstsein, Geschichtskonzeptionen und Zeitverständnis sind in der historischen Forschung wie der Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren unter verschiedenen Perspektiven intensiv erforscht worden. Theorien wurden diskutiert und modifiziert, Forschungsprojekte entwickelt1. In diese Strömung ordnet sich auch das DFG-Projekt „Der Geist der Zeiten in den reformatorischen Jubelfeiern“ an der Universität Halle ein, in dessen Rahmen die zu besprechende Dissertation entstand. Annina Ligniez analysiert Wittenberger Feiern zum Universitäts- und Reformationsgedächtnis zwischen 1602 und 1817 und sucht die Entstehung einer „spezifisch wittenbergischen Heilsgeschichte“ zu belegen sowie deren Modifikationen über die Jahrhunderte nachzuzeichnen. Ihre Hauptquelle sind die Jubiläumspredigten; diese werden ergänzt durch Jubiläumsreden, teilweise auch Lieder sowie Anordnungen zur und Beschreibungen von der Durchführung der Feierlichkeiten, die somit den Inszenierungsrahmen vorgaben.
Die Autorin geht nur sehr knapp auf gedächtnistheoretische Theorien ein, indem sie an Halbwachs’ und Assmanns Ansätze zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis erinnert (S. 19f.). Eine Einordnung in die Festkulturforschung wird nicht vorgenommen. Auch neuere Arbeiten zu Geschichtsbewusstsein und Zeitverständnis werden ignoriert, und eine Auseinandersetzung mit christlichen Konstruktionen von Heilsgeschichte erfolgt nicht. Das Christentum wird als Erinnerungsreligion postuliert; grundlegend sei die bei jeder Feier wiederholte anamnetische Praxis von „Erzählen, Bezeugen und Bekennen“ (S. 17), die in Gottesdienst und Abendmahlsfeier gefestigt werde. Durch diese jeweils in den Jahren 02 (Universitätsjubiläum), 17 und 67 (Thesenanschlag) durchgeführte Praxis und die entsprechenden Predigten sei das kollektive Gedächtnis der Gemeinde geformt worden.
In drei Teilen wird für das 17. Jahrhundert „Entwicklung und Konsolidierung“ des Topos des „wittenbergischen Zion“ dargestellt, für das 18. Jahrhundert „Bewahrung und Weiterentwicklung“ der Heilsgeschichte und für das 19. Jahrhundert der „Niedergang“. Die Stärke des Buchs liegt in der Darstellung und Analyse der Quellen. Die Predigtinhalte werden jeweils ausführlich referiert, ebenso, soweit überliefert, der Ablauf der Feierlichkeiten.
Im ersten Teil will Ligniez zeigen, wie Wittenberg in die biblische Zionstradition eingeschrieben wurde und wie gleichzeitig eine „spezifisch wittenbergische Heilsgeschichte“ entstand. Interessant ist, dass Wittenberg auch topographisch mit Jerusalem verglichen wurde, während die umliegenden Orte als weitere biblische Stätten konzipiert wurden. Dies fand sich schon bei Martin Luther, wurde aber später ausgebaut. Am stärksten wurde die Zionstradition allerdings nicht mithilfe der Topographie, sondern mittels einer Auslegung von Zionspsalmen begründet, in der die Merkmale Zions – göttliche Erwählung, Stadt und Tempel Gottes, „besonderer Schutz“, Wahrung von Gerechtigkeit und Verbreitung reiner Lehre (S. 68) – auf Wittenberg übertragen wurden. Mit Blick auf die These irritiert allerdings, wie häufig Wittenberg auch mit anderen Orten aus der biblischen bzw. christlichen Tradition gleichgesetzt wurde (Bethlehem, Kapernaum, aber auch Alexandria, Konstantinopel – so Friedrich Balduin beim Reformationsjubiläum 1617, S. 87). Eine Profilierung des „wittenbergischen Zion“ gegenüber dem „wittenbergischen Konstantinopel“ hätte hier die Besonderheit des Zions-Begriffs deutlicher machen können. Die Abgrenzung vom „römischen Babel“, die ausführlich dargestellt wird, ist allerdings im 17. Jahrhundert keineswegs neu und auch nicht spezifisch für Wittenberg. In den Augen der Autorin untermauert sie die wittenbergische Zionstradition.
Die Abgrenzung vom Papsttum gehörte laut Ligniez bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem der Identitätsmerkmale Wittenbergs. Vielleicht spricht die Verfasserin auch deshalb selbst immer von der „papistischen Kirche“, wenn sie die zeitgenössische römisch-katholische Kirche meint. Abgesehen von der Wortwahl überzeugt das Argument, dass in Wittenberg in besonderer Weise die Abgrenzung von Rom sowie die Betonung der reinen Lehre als Identitätsmerkmale von Stadt und Universität hochgehalten wurden. Dass auch an anderen Orten die reine Lehre als Abgrenzungsmerkmal betont wurde, wird allerdings nicht erwähnt. Insgesamt ist auffällig, wie sehr in Wittenberg anfangs die Einheit von Stadt und Universität hervorgehoben und später immer stärker die Universität zur Statthalterin der reinen Lehre stilisiert wurde.
Die Verbreitung der reinen Lehre sei in Übertragung von CA 7 Anfang des 17. Jahrhunderts zu einem Ausweis für eine „Stadt Gottes“, so Ligniez, zu „notae sioni“ (S. 101), die vornehmlich für Wittenberg gegolten hätten, geworden. Allerdings ist dabei – das erwähnt Ligniez nicht – wohl aus den „notae“ eine „nota“ geworden. Erste Elemente der „spezifisch wittenbergischen Heilsgeschichte“ seien in den Predigten 1617 etabliert worden: Zu nennen ist die Betonung, Wittenberg sei zunächst „klein und unbedeutend“ gewesen, aber von Gott auserwählt worden, und von ihm verbreite sich nun die Wahrheit (S. 103); hinzu kam der göttliche Schutz, den die Stadt erfahren hatte. Damit wurde Wittenberg deutlich in die biblische Heilsgeschichte eingeschrieben. Inwieweit diese Einschreibung spezifisch war, ob sie die biblische Geschichte ersetzen, fortführen oder nur nutzen wollte, wie sich diese Heilsgeschichte zu anderen christlichen Heilsgeschichtskonstruktionen verhielt, ob sie den Schwerpunkt auf das Heil für Wittenberg legte (eine eigene wittenbergische Heilsgeschichte) oder auf das von Wittenberg ausgehende Heil für die ganze Welt (eine in Wittenberg etablierte, aber darüber hinausweisende Heilsgeschichte), wird leider nicht klar. Hier hätte ein Seitenblick auf andere christliche Geschichtskonstruktionen weiterführen können. Als weiteres Merkmal gibt Ligniez den „Überlegenheitsgestus“ der Stadt und der Leucorea an. Obschon die fortwährende Betonung ihres Bevorzugtseins in den Quellen sehr spürbar ist, bleibt der Bezug des „Überlegenheitsgestus“ zur „Heilsgeschichte“ undeutlich, da „Heilsgeschichte“ an keiner Stelle definiert wird.
Im weiteren Verlauf werden die Fortentwicklung und die Modifikationen des Zions- und Geschichtsbewusstseins dargestellt. Aus dem Jahr 1640 wird eine Predigtreihe des in Wittenberg aufgewachsenen und an der Leucorea ausgebildeten Diakons der Stadtkirche, Caspar Schmidt, als Beleg angeführt, wie die Konstruktion der „spezifisch wittenbergischen Heilsgeschichte“ ins „kollektive Gedächtnis der Gemeinde“ eingegangen sei (S. 274). In der Tat finden sich hier viele der stärksten Belege für die Beschreibung Wittenbergs als Jerusalem. Inwieweit aber der ausgebildete Theologe und Sohn des Stadtkirchen-Diakons Schmidt als exemplarisch für die Gemeinde stehen kann, mag dahingestellt bleiben.
Gegen Ende des Jahrhunderts und im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm die Hervorhebung Wittenbergs als Hüterin der reinen Lehre in Abgrenzung von Pietismus und Aufklärung einen immer größeren Raum ein, bevor im 19. Jahrhundert mit Theologen wie Karl Immanuel Nitzsch die Vermittlungstheologie auch in Wittenberg Einzug hielt. Bereits im Lauf des 18. Jahrhunderts war infolge der Konversion der Kurfürsten das individuelle Gewissen in den Vordergrund der Ausführungen zur reinen Lehre gerückt. Mit den Kriegszerstörungen von 1760 war das Vertrauen in den besonderen Schutz Gottes gebrochen worden; die „Katastrophe“ (S. 220) wurde als Strafe Gottes erklärt, und es wurde zum Dank für den Schutz vor Schlimmerem aufgerufen. So konnte die Hervorhebung der Bedeutung der reinen Lehre und des rechten Lebenswandels ebenso fortgeführt werden wie die Vorstellung von einer besonderen Protektion des „wittenbergischen Zion“.
Ein vergleichendes Vorgehen hätte die Thesen schärfen können, denn, wie Ligniez selbst in ihrem Resümee feststellt, gab es auch an anderen Orten Selbstzuschreibungen als Zionsstadt. Die Autorin vermutet jedoch, dass die spezifische heilsgeschichtliche Konstruktion Wittenbergs dort trotzdem nicht zu finden sei (S. 279). Zuletzt sei angemerkt, dass dem Buch angesichts einer hohen Zahl von Grammatik- und Ausdrucksfehlern eine genauere sprachliche Überarbeitung nicht geschadet hätte.
Anmerkung:
1 Vgl. z.B. in sachlicher Nähe zu Ligniez’ Arbeit die GGK-Sektion 1 „Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen“ in Gießen; URL <http://ggk.uni-giessen.de/wps/pgn/home/GGK/sektion_1/> (24.09.2013) oder die Forschungsgruppe „Geschichte und Gedächtnis“ in Konstanz; URL <http://cms.uni-konstanz.de/geschichteundgedaechtnis/willkommen/> (24.09.2013).