C. Kretschmann: Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit

Cover
Titel
Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit. Kultur im geteilten Deutschland


Autor(en)
Kretschmann, Carsten
Reihe
Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert 12
Erschienen
Berlin 2012: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hedwig Richter, Arbeitsbereich Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

Irgendwie muss sich doch die Forschung ändern – im Zeitalter von Wikipedia. Warum sollten wir mithilfe eines Fußnotenapparates oder einer umfassenden Literaturliste so tun, als ob wir unser Wissen mühsam aus Bibliotheken und Archiven gesammelt hätten? Der Mitdreißiger Carsten Kretschmann zeigt sich in seinem Buch über die Kultur im geteilten Deutschland zeitgemäß und setzt die Fußnoten, so scheint es, eher als Ehrerweis an die Gepflogenheiten alter Zeiten. Bei den Komplexitäten der DDR-Literatur etwa verweist der Fachmann für Museen im 19. Jahrhundert und für den Ersten Weltkrieg auf Simone Barcks und Siegfried Lokatis’ „Zensurspiele“, die – anders als der Titel dem Leseunlustigen suggeriert – eine Sammlung launischer Zeitungsglossen über die Absurditäten der DDR-Zensur sind.1 Andere Fußnoten fehlen ganz oder beziehen sich häufig auf Literatur aus den 1980er- oder 1990er-Jahren. In den Literaturempfehlungen am Ende des Überblickswerkes schließlich fehlt fast jede Erinnerung an eine DDR-Forschung, die seit nunmehr über zwanzig Jahren den Arbeiter-und-Bauern-Staat zum besterforschten Fleckchen der Nachkriegswelt gemacht hat. Dass es eine Kulturgeschichte im theoretisch-methodischen Sinn gibt und dass sich Kultur für einen deutschen Geisteswissenschaftler kaum mehr definieren lässt, das kümmert Kretschmann wenig. Kongenial preist auf dem Buchrücken ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung das knapp 200-seitige Kompendium über die Zeit nach 1945 als „komplexe deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik“ an.

Kretschmann gleicht die Flapsigkeiten jedoch mit dem Gestus des unzeitgemäßen Großordinarius aus. Mit seinem Lieblingswort „freilich“ und mit der Wendung „in Wahrheit“ taxiert er die Unabwägbarkeiten der deutsch-deutschen Geschichte. Eine „Stunde Null“ habe es nie gegeben, belegt der Historiker ausführlich eine These, die zum Konsens der Deutschlandforschung gehört, denn: „In Wahrheit ragte die alte Zeit in vielfältiger Weise in die Gegenwart hinein […].“ (S. 13) Und warum ordneten die Siegermächte nach 1945 auch das Kulturleben neu? Weil Politik, Wirtschaft und Kultur zusammengehörten, so Kretschmann, vor allem aber: „Die tiefere Ursache lag freilich darin, dass die Alliierten den Zweiten Weltkrieg, der im Kern ein politischer und militärischer Konflikt gewesen war, immer auch als ideologische Auseinandersetzung betrachtet hatten […].“ (S. 17) Das Buch endet etwas unvermittelt mit dem Satz: „Die Kultur der beiden deutschen Staaten, die immer auch ein Mittel der politischen Auseinandersetzung war, ist sich – mit Goethe gesprochen – am Ende selbst historisch geworden.“ (S. 174)

Aber: Warum eigentlich nicht? Kretschmanns Buch ist gut zu lesen, seine Urteile sind inklusive der altväterlichen Formeln meist treffend, die Fakten kombiniert er schlüssig. Zu dem vergeblichen Bemühen Theodor Adornos etwa, die Massenkultur zu beeinflussen und die Zwölfton-Musik zu protegieren, notiert der Autor: „Doch die Zweite Wiener Schule war von vornherein nicht für die Masse bestimmt gewesen, und dass ein Anhänger der Zwölftontechnik ein moralisch besserer Mensch sei als ein Schlagersänger, ist eine Behauptung, die sich schwerlich beweisen lässt.“ (S. 93) Er spießt den Antiamerikanismus der Deutschen auf, der in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung besondere Blüten hervorbrachte (Christoph Hein: „Wenn wir scheitern, frisst uns McDonalds.“, S. 171). Und gerade weil Kultur in der Geschichtsschreibung so überlastet ist mit Definitions- und Theorieproblemen, tut die Leichtigkeit auch wieder gut, mit der Kretschmann sie angeht. So zeigt etwa das Kapitel zum „Lob der Provinz“, wie befruchtend eine deutsch-deutsche Geschichte sein kann. Die gemeinsamen Wurzeln ost- und westdeutschen Provinzialismus’ in der Kleinstaaterei und im Föderalismus hätten sich in der reichen ostdeutschen Theaterlandschaft ebenso fortgesetzt wie im Bayreuther Wagnerkult oder Ernst Jüngers Albflucht. Gerade was die Nachkriegszeit betrifft, spürt der Historiker interessante Querverbindungen zwischen Ost und West auf. Er benennt beispielsweise die noch gesamtdeutsche Rückbesinnung auf Goethe, mitsamt Friedrich Meineckes Idee, die Deutschen mit „Goethegemeinden“ zu beglücken, und der in den Trümmerstädten landauf, landab gespielten „Iphigenie“ (S. 33). Kretschmann stellt den wilden Optimismus kommunistischer Intellektueller dar, die in den Osten ziehen, bis sie herabgewürdigt und desillusioniert aufgeben, ebenso wie den Versuch konservativer Bundesbürger, einen Weg in die Moderne jenseits der angelsächsischen Kultur zu finden. Und weil Kretschmann einen so breiten Kulturbegriff hat, erklingt dann immer mal wieder ein Schlager, der neuen Schwung und neue Gedanken hereinbringt: Der in den Nachkriegsjahren überall zu hörende Ohrwurm „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ aus dem Kölner Karneval von 1948/49 bringt ein neues Identitätsgefühl der Westzonen zum Ausdruck und zugleich die Selbstironie der gedemütigten Deutschen, die sich fühlten, als lebten sie unter einer Kolonialherrschaft.

Allerdings offenbart sich doch für die DDR ein auffälliges Wissensdefizit. In der Regel schreibt Kretschmann einen Teil über die Bundesrepublik mit klugen Einsichten, dann folgt als graue Kontrastfolie die DDR. So analysiert der Autor etwa den Nierentisch im Westen nicht einfach als neues Statussymbol deutscher Spießigkeit, sondern in seiner asymmetrischen Form auch als politisch-ästhetischen Neubeginn. Für den Osten erstickt der Autor allzu oft Nuancen mit dem Hinweis auf eine stillgestellte Gesellschaft. Während er etwa über Bonn den Wertehimmel des Westens aufgehen sieht, der ein neues Selbstverständnis schuf, „war es in der DDR letztlich der Mangel, der die Masse einte“ (S. 101). Tatsächlich weiß der Autor kaum etwas über die tiefe Sehnsucht nach dem Westen, der DDR-Bürger quälte und vielfach in stiller Wut gegen die SED-Diktatur verband. Und während in Kretschmanns Erzählung die Menschen in der Bundesrepublik fröhlich Schlager singen und über die Springerpresse debattieren, verharrt die Bevölkerung in Ostdeutschland als fremde Masse ohne Akteure. Oft bleibt unklar, ob der Autor mit „die DDR“ das Regime meint oder die Bevölkerung oder beide zusammen. Dass im Osten keine Studentenrevolution ausbrach, lag nach Meinung des Historikers daran, dass es sich um eine „reibungslos funktionierende Erziehungsdiktatur“ gehandelt habe. Was aber, wenn ‚Erziehung‘ ein Euphemismus ist und sich Revoluzzerei in Freiheit anders ausleben lässt als in einer Diktatur mit allzeit bereiten Sowjetpanzern?

Natürlich finden sich in einem knappen Überblicksband Lücken und unvermeidlicher Weise entdecken Experten Fehler. So fehlt beispielsweise weitgehend die Religion, was insofern bemerkenswert ist, als diese doch wohl zur „Kultur“ gehört und als sich hier einer der gravierendsten Unterschiede zwischen Ost und West herausgebildet hatte. Auch das Thema Gender bleibt außen vor; dabei erweist sich die von Kretschmann erzählte Nachkriegszeit in dieser Hinsicht als aufschlussreich: Auf der Bühne stehen einsam die Herren; keine Spur mehr von Hitlers arischen Müttern in Haus und Fabrik und kein Wort von den tüchtigen Trümmerfrauen. Schade ist überhaupt, dass Carsten Kretschmann seine Unbeschwertheit viel zu oft in viel zu bekannten Einsichten enden lässt und eigentlich keine geistreiche These wagt. An der Thesenarmut mag es auch liegen, dass das Buch keinen roten Faden hat und der Autor keinen intellektuellen Rahmen anbieten kann. Für einen Einstieg in die deutsche Nachkriegsgeschichte ist das Buch gleichwohl nicht ungeeignet. Und solange Wikipedia noch nicht in der Lage ist, so viele Fakten so plausibel zusammenzustellen, ist es sinnvoll, wenn die Bundeszentrale für politische Bildung (wie im diesem Fall) dergleichen einem größeren Publikum ganz konventionell im Buchformat zugänglich macht.

Anmerkung:
1 Simone Barck / Siegfried Lokatis, Zensurspiele – Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR, Halle 2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension