Gibt es in der Geschichtswissenschaft so etwas wie Randthemen? Offensichtlich! Wahrscheinlich werden wir uns aber schnell einigen können, dass es zumindest keine wirklich unwichtigen Themen gibt – denn sobald sich ihnen unser Interesse zuwendet, legen wir ja Gewicht darauf, werden sie uns also im Wortsinne wichtig. Dennoch wird man zugeben müssen, dass dessen unbeschadet zwischen dem persönlichen Interesse einerseits und der publizistischen Präsenz andererseits die eigentliche Bedeutung historischer Themen in ihrer Nachhaltigkeit liegt. Selbige definiert sich natürlich auch über die beiden eben genannten Faktoren – persönliches und öffentliches Interesse –, aber fachwissenschaftlich gesehen bemäße sie sich wohl mehr noch durch die Interdependenzen mit anderen Themen, zumal wenn sie kausaler Natur sind. Und nicht zuletzt ist ein Themenkomplex, der womöglich unbeachtete Bezüge zwischen prominenten Großthemen knüpft, doch wohl von ähnlicher Relevanz wie diese selbst.
So verhält es sich auch mit Jacza von Köpenick. Dieser legendäre Slawenfürst ist mir über Jahrzehnte hin eine selbstverständlich bekannte, ja, vertraute historische Persönlichkeit gewesen, die mir dennoch stets nur Randgestalt geblieben ist – meist mit dem Gefühl, man müsse sich mit ihm irgendwann einmal eingehender beschäftigen, aber für die gerade anhängige Arbeit reichte stets der bloße Befund seines als Episode wahrgenommenen Wirkens im Widerspiel zu Albrecht dem Bären aus.
Zur Kenntnis genommen hatte ich auch immer wieder einmal, dass ihm insbesondere aus dem Bereich der Numismatik erhöhtes Interesse entgegengebracht wird – doch Numismatik per se ist mir stets nur Hilfswissenschaft gewesen, also erwuchs auch hieraus nie ein zusätzlicher Impuls zur Beschäftigung.
Michael Lindner nun gelingt es, mir zu zeigen, wie falsch ich damit gelegen habe. Er entwirft in erstaunlich leichthändigem Wurf ein breit aufgestelltes Fürstenporträt, das er just mit Hilfe auch numismatischer Quellen überzeugend authentisch zu zeichnen weiß. Beigegeben sind zudem zahlreiche adäquate Abbildungen der betreffenden Brakteaten, was nicht zuletzt der Kooperation mit dem Berliner und dem Dresdner Münzkabinett zu verdanken ist. Überhaupt ist es ein besonderes Verdienst dieser Monographie, Ergebnisse verschiedenster Disziplinen zu einem stimmigen Gesamtbild zu fügen: klassisches historisches Quellenstudium, Archäologie, Numismatik, Heimatkunde, Landes- und Universalgeschichte und allgemeine wissenschaftstheoretische Überlegungen. Hierzu gehören ebenso ausdrücklich kulturhistorische und methodenkritische Erwägungen zu Wirkung und Wert der brandenburgischen Sagenwelt, insbesondere etwa der Schildhornsage (S. 15/16).
Bemerkenswert ist umso mehr – obgleich es das im Jahre 2012 eigentlich nicht mehr sein sollte – wie stark auf der Grundlage kollegialer Verbindungen 1 auch der Stand der polnischen Forschung rezipiert und eingearbeitet worden ist, was nicht unerheblich zu dem befriedigenden Eindruck breiter und differenzierter Reflexion des Themas beiträgt und die Darstellung Lindners auch da überzeugend erscheinen lässt, wo er sich zuweilen – zumindest vordergründig – von den harten Fakten zu entfernen scheint. Denn vieles in seinen Ausführungen ist mittelbar erschlossen, ist Theorie, persönliche Lesart, Interpretation. Die einschlägige Quellenlage ist schlicht zu dünn oder zu unspezifisch, als dass Lindner alle Aspekte, von denen er uns berichten will, um uns Jacza als vollständige historische Persönlichkeit vor Augen führen zu können, tatsächlich auf eindeutige Belege stützen könnte. Er muss zwangsläufig extrapolieren und tritt dabei die Flucht nach vorne an.
Ganz offen bedient er sich des Kunstgriffes assoziativer Darstellung. Am gewagtesten gleich in Kapitel I „Blutsbande“, wo er Jacza und seinen Onkel Pribislaw/ Heinrich angelehnt an ein später auch wörtlich eingearbeitetes Tacitus-Zitat ein Streitgespräch über die richtige Macht- und Hausmachtpolitik gegenüber dem benachbarten Reich führen lässt. Konkret geht es natürlich um Pribislaws berühmte Erbeinsetzung Albrechts des Bären und damit de facto und de jure um die Enterbung seines Neffen Jacza. Lindner reflektiert seinen methodischen Ansatz mehrfach und im Ergebnis überzeugend (z.B. S. 11/12, 40, 156).
Seine „Geschichtserzählung“ – Lindner benutzt diesen Begriff selbst (z.B. S. 154f.), so dass ich glauben darf, seinem Ansatz damit nicht Unrecht zu tun – legt er darüber hinaus fast durchgängig in einem sehr unterhaltsamen, fließenden Erzählton an. Warum schließlich sollte Fachliteratur nicht unterhaltsam geschrieben sein? In der angloamerikanischen Geschichtsschreibung ist das seit Langem gute Tradition. Schon allein drei Überschriften mögen exemplarisch als Beleg dienen: „Jacza – der Fürst, der aus dem Dunkeln kam“ (Prolog mit allgemeinen Voraussetzungen und Betrachtungen zum Thema), „Blutsbande oder: Wer solche Verwandte hat, braucht keine Feinde“ (Kapitel 1, zum Verhältnis zwischen Jacza und seinem Onkel Pribislaw/ Heinrich) oder „Jacza – Wer war er und wenn ja, wie viele?“ (Kapitel 2, zur Problematik der Zuordnung und Identifikation verschiedener Quellen zum historischen Individuum Jacza).
Lindner hat dabei nicht nur Herz und Verstand für sein Thema, er hat auch noch Humor. Beispielsweise weist er bei der Frage, ob der wenig schmeichelhaft als z.B. „Kotlache“ oder „Saustall“ aufzulösende Name „Susudata“ aus einem kartographischen Werk der römischen Kaiserzeit mit dem dann ja immerhin antiken Köpenick zu identifizieren sei, diesen Bezug mit frotzelndem Augenzwinkern lieber dem Ort Fürstenwalde zu. Zuweilen mag das auch ins Burschikose oder Populäre gleiten – immerhin hätte man bei Verwendung der Phrase „The winner takes it all“ als Bezugsquelle statt auf die Popgruppe ABBA (S. 163 Anm. 12) auch auf das bei US-amerikanischen Präsidentschafts- und Kongresswahlen gängige (absolute) Mehrheitswahlrecht verweisen können –, doch geht das nie zu Lasten der wissenschaftlichen Seriosität. Im Gegenteil: Lindners Arbeit besticht durch eine sehr breit aufgestellte Quellenbasis, einen umfassenden Frageansatz und aktuellste Forschungsergebnisse. Besonders eindringlich ist seine Auswertung numismatischer Beobachtungen (vor allem in Kapitel 2, S. 67–95; aber auch im Epilog, S. 147–152), aus denen er überzeugend Identifikationsargumente und Herrschaftscharakteristika Jaczas herleitet. Die Persönlichkeit des Fürsten entwirft er in ungewöhnlichem und, wie bereits angemerkt, auch ausdrücklich reflektiertem Zugriff in Kapitel 1 (S. 37–66), das daneben aber vor allem auch Jaczas Territorialherrschaft um Köpenick und seinen Anspruch auf Brandenburg thematisiert.
Schon im Prolog (S. 7–36) setzt sich Lindner mit der dem allen zugrundeliegenden Forschungsgeschichte, der Quellenbasis, dem bereichernden Zusammenwirken verschiedener Disziplinen, den methodischen Problemen und Möglichkeiten des Themas sowie dem „Anlass“ seiner Publikation auseinander, der in ihrer Datierung fragwürdigen 800-Jahrfeier Köpenicks. Die Kapitel 3 („Freunde oder Feinde“, S. 97–116, zu den verschiedenen Konkurrenten und Verbündeten Jaczas) und 4 („Nachfolger“, S. 117–146, zu Markgraf Konrad von der Lausitz und zur Ersterwähnung Köpenicks im Jahre 1210) weiten den Blick über die unmittelbare Region hinaus und bieten eine überzeugende Einbindung Jaczas in die weiterreichenden Ereignisse der deutsch-slawischen oder deutsch-polnischen Geschichte des 12. Jahrhunderts.
Lindner zeigt auf (zusammenfassend auch im Epilog „Jacza – der Fürst, der aufgerieben worden war“, S. 147–163), dass Jacza von Köpenick nicht nur ein landesgeschichtliches Phänomen ist. Der Slawenfürst agierte in seiner Zeit auf überregionalem politischem Niveau. Durch sein Engagement in der Germania Slavica, einem Expansionsgebiet deutscher Fürsten, sowie in einem mit dem Reich in Dualismus stehenden Polen hat seine Person internationale Facetten. Seine Persönlichkeit als selbstbewusster Slawe des 12. Jahrhunderts gegenüber einem damals übermächtig scheinenden Deutschtum aus dem Westen gibt ihm im Reflex auf heutige Machtverhältnisse in der Europäischen Union und der dabei zuweilen ignorant oder gar arrogant erscheinenden Dominanzpolitik Deutschlands gegenüber seinen Nachbarn und Partnern gerade auch im Osten eine zusätzlich aktuelle Rezeptionsfarbe, die Interesse wecken sollte. Und gerade eingedenk der wachsenden Durchlässigkeit früher trennender Staats- und Kulturgrenzen in Europa ist so ein Grenzgänger und gleichzeitiger Grenzkämpfer wie Jacza womöglich eine lohnende Bezugsfigur für Menschen in einem ‚Europa der Regionen‘.
Lindners Buch gelingt es in unterhaltsamem Ton und auf hohem fachlichem Niveau, aus einem vermeintlichen Randthema ein bereicherndes Stück Wissenschaftsliteratur zu machen, dessen Lektüre hiermit jedem anempfohlen sei!
Anmerkung:
1 Die Danksagung auf Seite 168 verdeutlicht Lindners Methodengrundlagen wie auch seine offenbar kollegiale Arbeitsweise in ebenfalls begrüßenswerter Freundlichkeit.