Folgt man Benedict Anderson, so stellt eine Nation eine dynamische Konstruktion, eine „imagined community“, dar, die auf verschiedenen „invented traditions“ (Eric J. Hobsbawm) basiert. Dieses Identitätskonstrukt kann vom jeweiligen Staatsbürger mehr oder weniger stark angenommen und verinnerlicht werden. Unzweifelhaft ist die Idee der Nation maßgeblich durch die individuelle wie gemeinschaftliche Abgrenzung vom „Anderen“ bzw. „Fremden“ bestimmt. Diese Distinktionsleistung kann wiederum als ein komplexes Prisma aus Konstruktionen, Imaginationen und Projektionen verstanden werden, die vom Einzelnen immer wieder neu verhandelt werden. Kurz und stark vereinfacht: Nationen sind „Artefakte menschlicher Überzeugungen“ (Ernest Gellner).
Die vorliegende Monographie setzt sich ausführlich mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem irischen „nation building“ und dessen alltäglicher Beeinflussung durch das mediale Phänomen irischer Werbung, hier hauptsächlich verstanden als Printwerbung, im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auseinander. Dafür scheint der politisch aufgeheizte Untersuchungszeitraum im besonderen Maße geeignet zu sein, umfasst er doch den Zenit der so genannten Irischen Renaissance, der durch die Gründung der Gaelic League im Jahr 1893 markiert wird. Ferner werden die Konflikte um die Home Rule Bill von 1914, die Irland eine eigene Selbstverwaltung und eine unabhängige Verfassung in Aussicht stellte, aber aufgrund des Ersten Weltkriegs und des Osteraufstandes von 1916 nicht realisiert wurde, der Aufstieg Sinn Féins zum Impulsgeber der irischen Unabhängigkeitsbewegung sowie der Anglo-Irische Krieg von 1919 bis 1922 miteinbezogen.
Die Studie von Strachan und Nally ging aus einem „Leverhulme Major Research Project“ hervor, das von 2008 bis 2011 an den Universitäten Durham und Sunderland angesiedelt war. Das erkenntnisleitende Ziel der Arbeit besteht in der Analyse der historiographischen und literaturwissenschaftlichen Resonanzen und Rückkopplungseffekte, die das Phänomen irischer Werbung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, der (Konsum-)Kultur und der Politik in der „Irish Revival era“ hervorrief. Dabei stehen die kulturellen Bedeutungen und gesellschaftlichen Wechselwirkungen kommerzieller Produktwerbung im Hinblick auf das irische „nation building“ im Zentrum des Forschungsinteresses.
Die Kernthese der Autoren lautet, dass sich irische Werbekommunikatoren während des Zeitraums einer wiederbelebten „Irish consciousness“ (Declan Kiberd) selbst sowie auch die von ihnen beworbenen Dienstleistungen und Produkte (hauptsächlich Konsumgüter) sehr stark – mittels semantischer Chiffren – über eine irische Nationalidentität definierten und inszenierten. Vor dem Hintergrund der tiefen religiösen Spannungen in Irland und abhängig vom persönlichen Standpunkt des jeweiligen Werbekommunikators zeigten sich diese Definitionen und Inszenierungen in variierenden Intensitäten in der Eigenwerbung irischer Werber, in Markennamen in Irland hergestellter Produkte, in der Bildsprache von Werbeanzeigen und auch in deren Typographie.
Der Alltag in der irischen „Konsumgesellschaft“ war offenbar in hohem Maße politisch eingefärbt – ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit, kommerzielle Werbung nicht nur als eine persuasive Kommunikationsform und als ein Wirtschaftsfaktor zu verstehen, sondern vielmehr als ein soziokulturelles Medium stärker zu hinterfragen. Davon ausgehend wären einerseits Produkte als in hohem Maße aufladbare Medien zu analysieren. Auf der anderen Seite müssten gerade auch die Werbekommunikatoren als Produktkommunikatoren (von Anzeigenmittlern über Werbeberater und Verkaufsleiter bis hin zu Handelsreisenden) stärker in den konsum- und werbegeschichtlichen Blick genommen werden.1
Die Untersuchung gliedert sich in vier Hauptkapitel, deren Ergebnisse am Ende leider nicht in eine konzise Zusammenfassung münden. Das erste Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der irischen Werbewirtschaft seit den 1850er-Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Insbesondere wird analysiert, in welcher Form das Konzept der „Irishness“ einen öffentlichkeitswirksamen Ausdruck in der irischen Werbung fand und wie die nationalistischen Anliegen der „Support Irish Industries“-Bewegung in kommerziellen Werbemitteln reflektiert wurden. Die Beschäftigung mit den Strukturen und mit den Akteuren der frühen irischen Werbewirtschaft gerät indes leider etwas oberflächlich. Dabei wäre es spannend, mehr über die konkrete Entwicklung der irischen Werbeindustrie, über die Zugangswege in die Werbeberufe, über deren Professionalisierungsprozesse und über die konkrete Veränderung der Arbeitsweise der verschiedenen irischen Werbekommunikatoren zu erfahren.
Der Schwerpunkt der Studie liegt auf dem zweiten Kapitel, das anhand einer nationalistischen Zeitschrift – „The Shan Van Vocht“ (1896–1899) – und einer nationalistischen Zeitung – „The Leader“ (1900–1936) – die irische Werbegeschichte als Kulturgeschichte analysiert. Dabei wird deutlich, dass die nationalistisch bzw. separatistisch stark eingefärbte Werbung als ein komplexes semiotisches System zu verstehen ist, dessen Visualisierungen selbst zu medialen Ikonen avancieren konnten. Aufschlussreich ist auch der anschließende Abschnitt über die Vermarktung genuin irischer Sportarten der „Gaelic Athletic Association“ durch das Unternehmen „Whelan and Son“ in Dublin, das aufgrund seiner radikal nationalistischen und anti-britischen Haltung als „The Sinn Féin Depot“ bekannt wurde.
Anhand der Zeitschrift „The Lady of the House“ (1890–1921) wird ferner deutlich, wie klassisch-traditionalistische Geschlechterrollenverständnisse und Vorstellungen von Häuslichkeit, Erziehung und Mode aus der irischen Gesellschaft in kommerzieller Werbung widergespiegelt wurden. Dabei kann überzeugend gezeigt werden, wie sich die Visualisierungsstrategien irischer Werbung, die primär auf Frauen als wichtige Konsumentengruppe abzielten, von ihrer Orientierung an England und Frankreich im 19. Jahrhundert hin zu einem eher irischen Anspruch seit der Jahrhundertwende veränderten. In einem weiteren Abschnitt wird auch die Bedeutung jener Werbemittel zur Zeit der dritten „Home Rule Bill“ (1911–1914) herausgearbeitet, die unionistischen Zielen dienten. Die Beobachtung, dass die politischen Ziele der Union im Grunde wie ein Markenprodukt beworben wurden, erscheint jedoch angesichts der bisherigen werbehistorischen Forschungen jenseits Irlands kaum überraschend. Schließlich beschäftigen sich einige Studien mit Interdependenzen zwischen den verwandten Phänomenen kommerzieller Werbung und politischer Propaganda.
Im dritten Kapitel wird untersucht, in welcher Weise die Schriftsteller Oscar Wilde und William Butler Yeats auf das Phänomen kommerzieller Werbung und auf die spezifische Konsumkultur während der Irischen Renaissance reagierten. Es ist bemerkenswert, dass Wildes Rolle nicht nur als Poet und Schriftsteller, sondern gerade auch als Herausgeber der Zeitschrift „Woman’s World“ (1887–1889) untersucht wird. Dadurch kann sein höchst ambivalentes Verhältnis zur kommerziellen Kultur detailliert herausgearbeitet werden. Dagegen scheint William Butler Yeats ein eher klassisches Beispiel für die in aller Regel eher konsumkritische Haltung eines Literaten darzustellen.
Im vierten und letzten Kapitel beschäftigen sich die Autoren schließlich mit der nationalistisch stark eingefärbten Werbung in Irland vom Ersten Weltkrieg bis 1922. Die Beobachtung, dass gerade auch kommerzielle Werbemittel darum bemüht waren, sich patriotische bzw. nationalistische Empfindungen aus der irischen Gesellschaft für privatwirtschaftliche Zwecke zu Nutze zu machen, mag für Irland neu sein. Es ist allerdings schon lange bekannt, dass ganz ähnliche Beobachtungen auch für andere Länder zutreffen – gleiches gilt für die Streuung von Rekrutierungsappellen in Zeitschriften- und Zeitungsannoncen oder auf Plakaten. Dagegen sind die angesprochenen Spannungen zwischen irischen Separatisten von großem Interesse, nämlich im Hinblick auf die höchst kontrovers diskutierte Frage, ob Iren im Ersten Weltkrieg in britischen Militärregimentern gegen das deutsche Kaiserreich in den Krieg ziehen sollten oder aber ob solche irischen Soldaten als „Verräter am irischen Volk“ angesehen werden müssten. Wie haben sich diese Spannungen innerhalb der verschiedenen Lager der separatistischen Bewegung in Werbeannoncen geäußert? Gab es einen Bilderkrieg mittels Werbung zwischen den separatistischen Strömungen? Wie reagierten die 1913 gegründeten „Irish Volunteers“ und die 1919 aus diesen hervorgegangene „Irish Republican Army“ mit Werbeannoncen auf den Ausgang des Krieges? Es wäre interessant, wenn insbesondere die symbolpublizistisch ausgetragenen Kontroversen innerhalb der radikalen irischen Nationalisten in weiteren Forschungen genauer analysiert werden könnten.
Insgesamt leistet die vorliegende Studie einen wichtigen ersten Beitrag zur Werbegeschichte der Irischen Renaissance. Sie bereichert damit den überschaubaren Forschungsstand zur Geschichte der Werbewirtschaft in (West-)Europa um ein weiteres Mosaik. Ein besonderer Pluspunkt der Studie liegt in der Konzeption einer dazugehörigen Website, auf der ein reicher Fundus irischer Werbemittel zu finden ist.2 Um die jeweiligen landesspezifischen Zusammenhänge zwischen nationalen Identitätsbildungsprozessen und den Entwicklungen kommerzieller Werbung in (west-)europäischen Ländern besser bewerten zu können, bedarf es jedoch transnational vergleichender Studien. Erst dann können diesbezügliche Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet und reflektiert bewertet werden. Eine solche europäische Werbegeschichte ist aber noch immer nicht geschrieben.
Anmerkungen:
1 Rainer Gries, Produktmedien. Zur Erkundung konjunktiver Erwartungs- und Erfahrungsräume in Europa, in: Ute Daniel / Axel Schildt (Hrsg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 175-200.
2 Vgl. <www.ccalireland.com> (11.01.2013).