S. Lyandres: The Fall of Tsarism

Cover
Titel
The Fall of Tsarism. Untold Stories of the February 1917 Revolution


Autor(en)
Lyandres, Semion
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIII, 322 S.
Preis
€ 51,46
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gleb J. Albert, DFG-Forschergruppe "Medien und Mimesis", Historisches Seminar, Universität Zürich

Semion Lyandres, Professor an der University of Notre Dame, hat zehn unbekannte Interviews mit führenden Protagonisten der russländischen Februarrevolution ediert, meisterhaft übersetzt und annotiert. Diese Interviews, im Frühsommer 1917 von einem Historikerteam um Michail Poliektow (1872–1942) aufgezeichnet, galten jahrzehntelang als verschollen. Dies ist an sich schon spektakulär genug, doch damit erschöpft sich die Pionierleistung des Bandes nicht.

Zunächst einmal ist es die spannende Überlieferungs- und Auffindungsgeschichte dieser Dokumente, die Lyandres im Vorwort schildert. Die Transkripte wurden von Poliektow in den an die Oktoberrevolution anschließenden Wirren ins unabhängige Georgien, die Heimat seiner Ehefrau Rusudana Nikoladse, gerettet – und verblieben im Familienbesitz, wo sie der Revolutionshistoriker Eduard Burdschalow in den 1960er-Jahren einmalig konsultieren durfte.1 Nach Ende der Sowjetunion war über den Verbleib der Dokumente nichts bekannt. Zwanzig Jahre lang verfolgte Lyandres hartnäckig jede Spur, bis er die Interviews bei entfernten Nachfahren Poliektows in Tbilissi orten konnte. Diese Überlieferungsgeschichte erinnert uns daran, dass die „Archivrevolution“ bislang vorrangig die staatlich-behördlichen Überlieferungen betraf – und Privatarchive auf postsowjetischem Territorium nach wie vor große Überraschungen bereithalten können.

Ein weiterer Verdienst des Buches betrifft den von der (auch russländischen) Geschichtswissenschaft weitgehend vergessenen Poliektow, zu dem hiermit die erste ausführliche biographische Skizze vorliegt. Der liberale Historiker, der sich bereits vor 1917 als Kenner der Diplomatiegeschichte etabliert hatte, begrüßte die Februarrevolution und machte sich unmittelbar nach dem Sturz des Zarenregimes daran, dokumentarische Zeugnisse der Umwälzung zu sammeln. Im April begründete Poliektow die „Gesellschaft zum Studium der Revolution“, die zwar von der Provisorischen Regierung autorisiert wurde, jedoch weitgehend ein Ergebnis freundschaftlicher und kollegialer Netzwerke war: Es waren enge Mitarbeiter, Freunde und Verwandte, die von Poliektow und seiner Ehefrau zur aktiven Mitarbeit mobilisiert wurden. Den Kern der Aktivitäten der „Gesellschaft“ bildete eine Oral History avant la lettre der Februarrevolution. Dabei waren die im vorliegenden Band publizierten Interviews mit den revolutionären Eliten nur ein Teil dieses sozialhistorisch angelegten Projektes – einzelne Sektionen der „Gesellschaft“ widmeten sich Soldaten, Arbeitern, Studenten.

Das Herzstück des Bandes bilden die zehn Interviews. Unter den befragten Protagonisten finden sich sowohl zentrale öffentliche Personen der Februarrevolution und der Provisorischen Regierung, wie der Duma-Vorsitzende Michail Rodsjanko, der spätere Premierminister Alexander Kerenski und der Vorsitzende des Petrograder Sowjets Nikolai Tschcheidse, als auch Personen, die eher im Hintergrund agierten, wie die Militärs Boris Engelgard und Lew Tugan-Baranowski. Wir erfahren relativ wenig über die Befragungs- und Notationsmodi Poliektows und seiner Kolleg/innen. Die Fragen, die das Forscherteam an die prominenten Zeitgenossen stellten, sind nicht überliefert und lassen sich nur aus den Narrativen der Befragten erahnen, deren überlieferte Fassungen das Ergebnis einer Verschriftlichungs- und Editionsarbeit des Teams sind (siehe den Bearbeitungsvermerk Poliektows, S. 120). Trotzdem sind die Interviews Quellen von hoher Unmittelbarkeit – dazu tragen zwei zentrale Faktoren bei, die Lyandres hervorhebt. Erstens ist es die Zeitnähe der Interviews zum Ereignis der Februarrevolution. Die Befragten mussten sich, ganz anders als in späterer Memoirenliteratur, noch nicht für das Scheitern des demokratischen Projekts rechtfertigen. Zweitens haben einige der Befragten keinerlei publizierte Erinnerungen hinterlassen, so dass die Interviews erstmals ihre Sicht vernehmen lassen.2 Alle Interviews wurden von Lyandres mit ausführlichen Einführungen versehen, in denen der Lebensweg der jeweiligen Akteure vor und nach 1917 gezeichnet und der Informationsgehalt der Interviews mit den vorhandenen Memoiren abgeglichen wird.

Die Ausführungen der Protagonisten sind inhaltlich und formal breit gefächert. Einige der Befragten, wie der Menschewik Matwei Skobelew, legen ausführlich ihre Tätigkeit vor und in der Revolution dar und bieten darüber hinaus eigene Interpretationen der Ereignisse; andere wiederum, wie Tschcheidse, geben nur knapp Auskunft. Die von den Befragten gewählten chronologischen Rahmen unterscheiden sich voneinander, so dass einige ihre Narrative bereits im Weltkrieg beginnen lassen, während andere sich auf die Tage des Machtwechsels konzentrieren. Auch das Ausbalancieren des eigenen Narrativs zwischen Objektivitätsanspruch und subjektivem Erleben fällt unterschiedlich aus. Die Protagonisten eint jedoch, dass sie dem Leser als politische Entscheidungsträger und selbststilisierte historische Persönlichkeiten entgegentreten. Dies ist dem Charakter der Befragung geschuldet: Es war eine historische, keine politische oder juristische Kommission, die an die prominenten Interviewpartner herantrat (S. 5), und ihnen zudem zusicherte, die Interviews jahrzehntelang unter Verschluss zu halten (S. 220). Entsprechend sahen die Befragten ihre Auskünfte in erster Linie nicht als Beitrag zu den aktuellen politischen Debatten, sondern als Dienst an der Nachwelt. Dies führt dazu – und dies hätte der Herausgeber stärker thematisieren können –, dass die vorliegenden Interviews nicht nur Fakten und Interpretationen transportieren, sondern auch als Subjektivierungspraktiken zu sehen sind, mit denen sich die Befragten als revolutionäre Politiker und historische Persönlichkeiten etablieren. Wie bei allen Zeitzeugeninterviews ist es auch hier das „I (the storyteller or narrator) [that] tells stories about the Me (the character of the story).“3

Auf Ebene der Fakten stellen die Interviews eine Fundgrube dar. Sie lassen die Tage des Machtwechsels und ihre unmittelbare Vorgeschichte aus der Perspektive der revolutionär-politischen Eliten minutiös rekonstruieren. Lyandres hat in den vergangenen Jahren in seinen Vorträgen einige Mythen, die sich aus der Memoirenliteratur in die Standardwerke geschlichen hatten, dank der von ihm aufgefundenen Quellen kunstvoll dekonstruieren können. Unter anderem ist es die Vorstellung vom zögerlichen, rein reagierenden Handeln der politischen Protagonisten der Februarrevolution, der Lyandres den interpretativen Schlussteil des Bandes widmet. Vor allem Rodzjanko, der sich nach 1917 im Exil publizistisch als zarentreuer Politiker und „unfreiwilliger“ Revolutionär in Szene gesetzt hatte, erscheint in einem anderen Licht und entpuppt sich als Befürworter einer Absetzung des Zaren durch eine Palastrevolte bereits im Vorfeld der Revolution. Die Existenz mehrerer solcher Verschwörungen und die Teilnahme zahlreicher revolutionärer Protagonisten an ihnen sind ein Faktor, den Lyandres im Text starkmacht, um – wenngleich explizit ohne die Revolution aus den Verschwörungen heraus erklären zu wollen – das Handeln der antizarischen politischen Eliten, auch im Kontrast zur sozialhistorischen Revolutionsforschung, stärker zu gewichten.4 Allerdings lassen sich die Interviews auch anders lesen: Aus ihnen scheint permanent das Unbehagen, ja die Furcht der Protagonisten vor den „Massen“ – die ungeordnet aufmarschieren, sich keiner Vernunft unterwerfen, und die Vertreter der bürgerlich-revolutionären Eliten gar bedrohen (so der befragte Offizier Alexander Tschikolini, der vor aufgebrachten Soldaten flieht und durch Zufall im Kabinett der Duma-Kommission landet, um später von der Revolutionsregierung mit militärischen Aufgaben betraut zu werden, S. 75). So gesehen mögen die Männer der Februarrevolution in ihrem Handeln stark und entschlossen gewesen sein, sie handelten jedoch stets vor dem Hintergrund der ungeduldigen und schwer zähmbaren „Massen“.

Lyandres ist mit der Veröffentlichung der Interviews ein großer Wurf gelungen. An ihnen werden zukünftige Arbeiten zur Februarrevolution nicht vorbeigehen können. Sie verdeutlichen die Abläufe um die Absetzung des Zaren und die Etablierung der ersten russländischen Demokratie viel plastischer und präziser als die bisher bekannten Quellen, und bieten darüber hinaus Stoff für zahlreiche weitere Fragestellungen – nicht nur über die Revolution selbst, sondern auch über Selbstwahrnehmungen und Sinnstiftungen ihrer führenden Akteure.

Anmerkungen:
1 E. N. Burdzhalov, Russia’s Second Revolution, Bloomington 1987.
2 Für eine Gesamtschau der Memoiren der Mitglieder der Provisorischen Regierung siehe neuerdings: Ian D. Thatcher, Memoirs of the Russian Provisional Government 1917, in: Revolutionary Russia 27 (2014), 1, S. 1–21.
3 Lynn Abrams, Oral History Theory, London 2010, S. 40.
4 Dies passt in die allgemeine historiographische Tendenz des letzten Jahrzehnts, die agency einzelner Gruppen in den russländischen Revolutionen stärker in den Blick zu nehmen: Frank Wolff / Gleb J. Albert, Neue Perspektiven auf die Russischen Revolutionen und die Frage der Agency, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 825–858.

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