D. Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt

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Titel
Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Weitbrecht, Dorothee
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Marica Tolomelli, Universität Bologna

Seit einigen Jahrzehnten hat sich innerhalb der Sozialwissenschaften eine scharfe Trennungslinie zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen etabliert. Unter „alten“ sozialen Bewegungen seien Formen des kollektiven Handelns zu verstehen, die spätestens nach dem II. Weltkrieg einen Institutionalisierungsprozess durchgemacht hätten und nichts mehr mit unorganisierten Mobilisierungsformen gemeinsam hätten (als exemplarisch hierfür gilt die Arbeiterbewegung). Als „neue“ soziale Bewegungen werden tendenziell diejenige Bewegungen bezeichnet, welche seit den 1960er Jahren insbesondere in den westlichen Ländern aufgrund nicht materieller Forderungen entstanden seien 1. Die Studentenbewegungen, die 1968 in zahlreichen Industrieländern kulminierten, werden tendenziell dazu geordnet. Hinzu kommt, dass die kognitive Orientierungen der meisten „neuen“ sozialen Bewegungen an Prinzipien und Wertvorstellungen der Neuen Linken fest verankert waren. Von solchen Prämissen ausgehend geht die Studie von Dorothee Weitbrecht der Frage nach, ob der Internationalismus – ein wichtiger Bestandteil der historischen Linken – durch die deutsche 68er Studentenbewegung neu gedacht und dekliniert wurde und inwieweit er sich vom traditionellen sozialistischen Internationalismus abgrenzte.

Angenommen wird dabei, dass die Entstehung des neuen Internationalismus der 68er Bewegung in den Wechselwirkungen zwischen kognitiver Orientierung und subjektiven Praktiken zu erklären sei. Um es zugespitzt zu formulieren, behauptet die Autorin, dass der neue 68er-Internationalismus aus den Wechselwirkungen zwischen abstrakten Ideenvorstellungen und kontextbezogenen Praktiken von einzelnen Individuen sowie sozialen Gruppen resultiere. Konkret manifestierte sich die neue internationalistische Ausprägung unter der Bezeichnung „Dritte-Welt-Solidarität“ 2, bzw. Solidarität mit den ärmsten Länder der Welt, welche in den 1960er Jahren entweder noch intensiv in Dekolonisierungskriegen involviert waren (Algerien, Angola, Mozambique usw.) oder Opfer von neokolonialen oder imperialistischen Politiken wurden (Kongo, Vietnam, mehrere lateinamerikanische Länder). Eine Form von Solidarität, die sich keineswegs in bloßem Interesse für ferne Länder der Welt äußerte, sondern zunehmend handlungsrelevant für die bundesrepublikanische Studentenbewegung wurde, sowohl für deren Formierung als auch für deren Aktion. Wie kam es dazu?

Um diese Frage zu beantworten, geht Dorothee Weitbrecht ideengeschichtlich vor. Dabei markiert sie eine erste wichtige methodologische Grenze, indem sie die Dritte-Welt-Solidarität als eine Idee betrachtet, d.h. als ein Leitbild, das anders als ein Dogma das soziale Handeln inspiriert ohne unvermittelt zu diktieren. In Anlehnung an Lutz Raphaels und Heinz-Elmar Tenorths Begriff von Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft 3 wird die Dritte-Welt-Solidarität sowohl inhaltlich als auch in ihrer Denk- und Handlungsrelevanz untersucht und rekonstruiert. Solcher Zugang erfordert natürlich eine historische Rekonstruktion des Internationalismus in allen seinen philosophischen und politischen Akzentuierungen, was die Autorin als ersten Schritt unternimmt. Dabei möchte sie jedoch von der klassischen Vorgehensweise der Ideengeschichte abweichen zugunsten eines komplexeren Ansatzes, der es ermöglichen soll, mit größerer Sensibilität der Wahrnehmung der Idee durch einzelne Individuen oder Gruppen und deren Auswirkungen auf die Subjektivität der Akteure Rechnung zu tragen. Daher der Rekurs auf orale Quellen, auf welche Weitbrecht systematisch zugreift, um die bestehenden historischen Rekonstruktionen sowie die schriftlichen Quellen um die Dimension der Subjektivität zu bereichern.

Was daraus resultiert ist eine extrem informationsreiche Geschichte von Verflechtungen, Zusammenhängen und Ereignissen, welche durchaus eine Erklärung für die Entstehung einer besonderen Ausrichtung des linkssozialistischen Internationalismus in der Bundesrepublik der 1960er Jahre bietet. Dabei werden vier verschiedene Bereiche untersucht:
a) Die Rolle von Intellektuellen und intellektuellen Avantgarden, um den Einfluss einzelner Persönlichkeiten und einzelner kultureller Initiativen zu erwägen. Dem Publizisten Hans-Magnus Enzensberger und seinen europäischen Mitstreitern (Jean-Paul Sartre in erster Linie), sowie den Zeitschriften Konkret, Neue Kritik, Das Argument wird dabei eine Vorreiterrolle zugeschrieben, weil sie bereits Mitte der sechziger Jahre eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit für Dekolonisationskonflikte und andere Situationen von Menschendiskriminierungen oder Menschenrechtsverletzungen in Dritte-Welt-Ländern weckten.
b) Die Rolle der Kirchen. Diesbezüglich betont Weitbrecht nicht so sehr die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils für die spätere Resonanz der Befreiungstheologie in bundesrepublikanischen katholischen Milieus. Vielmehr legt sie Wert auf die in den 1960er Jahren wechselnden Stellungnahmen der evangelischen Kirche gegenüber den Problemen der Rückständigkeit und der Abhängigkeitsverhältnisse der Dritten-Welt-Länder zur westlichen Welt. Die teilweise christliche Färbung des deutschen studentischen Internationalismus führt die Autorin auf zwei Hauptfaktoren zurück: Zum einen die christliche Prägung von Schlüsselfiguren der 68er Bewegung (der „christliche Internationalist“ Rudi Dutschke und der „internationalistische Christ“ Helmut Gollwitzer); zum anderen die zunehmende Kooperation insbesondere der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland (ESGiD) mit der Trägergruppe der 68er deutschen Bewegung, dem Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS).
c) Die Rolle des Charismas von Persönlichkeiten und Ideen zur Verbreitung des neuen Internationalismus. Zur charismatischen Aura Rudi Dutschkes erfährt man nicht viel Neues, da bereits viel darüber geschrieben wurde. Auf das „Charisma der Vision von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im globalen Rahmen“ (S. 197), was die Idee der Dritten-Welt-Solidarität in sich stark beinhaltete, hat die Autorin hingegen zurecht die Aufmerksamkeit gerichtet. Denn das Charisma von Ideen kann eine erhebliche Rolle insbesondere bei der Entwicklung von sozialen Bewegungen spielen, da letztere per definitionem keine organisatorische Struktur besitzen und ihren Erfolg auf die Integrationskraft von Personen und Ideen angewiesen ist.
d) Die Wirkung von konkreten transkontinentalen Kontakten über verschieden Institutionen – Kirchen, Stiftungen und Parteien, akademischen Institutionen (DAAD) - und innerhalb unterschiedlicher Milieus. Aus der Rekonstruktion ergibt sich, dass im Laufe der 1960er Jahre die Zirkulation von Personen – Studenten, Intellektuelle, Aktivisten – und die daraus entstehenden Netzwerke dramatisch zunahmen. Was letztendlich in den Augen der 68er Bewegung eine gute Prämisse darstellte, um der einheitlichen politischen Front zwischen den Protesten in den westlichen Metropolen und den Kämpfen in der Dritten-Welt, einem der utopischsten aber auch der wichtigsten Ziele der deutschen 68er Bewegung, näherzukommen.

Der Forschung bringt diese Studie sicherlich ein Stück weiter, indem sie die komplexe Zusammensetzung des „neuen“ bundesrepublikanischen 68er Internationalismus sorgfältig analysiert, wobei die Rekonstruktion der Dritten-Welt-Solidarität letztendlich über den zeitlichen Kontext der 68er Bewegung hinaus geht, und dies weist im gewissen Sinne auf eine Schwachstelle des analytischen Bezugsrahmens hin. Einem Aspekt wird jedoch unzureichend Rechnung getragen: Dass die Dritte-Welt-Hinwendung der deutschen Studentenbewegung unmittelbar mit der Gesellschaftskritik der internationalen Neuen Linken und deren Frage nach den revolutionären Kräften in den westlichen Industrieländern zu tun hatte. In Europa traf diese Frage insbesondere die bundesrepublikanische Gesellschaft, in welcher aus verschiedenen Gründen – dem Antikommunismus des Kalten Krieges, den sozialen Verhältnissen – das marxistische Paradigma des Klassenkampfes als anachronistisch galt. Diese Situation bekamen die deutschen Studenten durch die relative soziale Isolation, in welche sie aufgrund der schwachen Legitimität sozialer Konflikte in der bundesrepublikanischen politischen Kultur getrieben wurden, deutlich zu spüren. Vor solchem Hintergrund erwies sich die Idee der Dritten Welt-Solidarität im Laufe des Mobilisierungsprozesses der deutschen Studentenbewegung zunehmend als handlungsrelevant. Die deutschen Studenten versuchten, in der Dritten Welt die erwünschten Bündnispartner zu finden, um ihren gesamtgesellschaftlichen Protest strategisch weiterzuentwickeln. Solch eine funktionale Dimension der Dritten-Welt-Solidarität berücksichtigt die Studie kaum, da der länderübergreifende Rahmen der 68er Bewegung unterbeleuchtet bleibt. In der Tat kam der Internationalismus der 68er Bewegung auch durch eine ausgeprägte transnationale Kommunikation zwischen den Trägergruppen der studentischen Mobilisierung erheblich zum Ausdruck. Die Hervorhebung dieses Aspekts erforderte jedoch eine Fragestellung, welche vom zentralen Erkenntnisinteresse der Autorin letztendlich abweichen würde.

Anmerkungen:
1 Charles Tilly, Social movements, old and new, New York 1985; Karl-Werner Brand (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt/Main 1985.
2 In anderen Sprachgebieten wurde sie als terzomondismo, bzw. tiers-mondisme oder third-worldism genannt. Im Schweizerischen Sprachgebrauch wird der Neologismus Tiermondismus als historische Kategorie benutzt. Vgl. Monika Kalt, Tiersmondismus in der Schweiz der 1960er und 1970er Jahre. Von der Barmherzigkeit zur Solidarität, Bern 2010.
3 Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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