C. Neubert u.a. (Hrsg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft

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Titel
Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien


Herausgeber
Neubert, Christoph; Schabacher, Gabriele
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Kopper, Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Lange Zeit wurde die Historiographie des Verkehrs von technik-, politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Zugängen dominiert. Wolfgang Schivelbusch war in den 1970er-Jahren ein Pionier, der sich der kulturgeschichtlichen Dimension der Verkehrsgeschichte öffnete, einen methodischen Perspektivwechsel vornahm und die Wahrnehmung von Verkehr und Verkehrsinfrastrukturen durch ihre Benutzer in den Vordergrund rückte.1 Mittlerweile kann die Verkehrsgeschichte auf methodische Anregungen der interdisziplinären Verkehrsforschung zurückgreifen, die aus den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen stammen. Schon seit längerem haben die Verkehrssoziologie und die soziologische Verkehrsplanung die Verkehrsstile entdeckt. Untersucht werden die kulturellen Determinanten der Verkehrsinfrastrukturplanung und die kulturell tradierten Muster der Verkehrsmittelnutzung. In den interdisziplinären Mobility Studies sind kulturelle Verhaltens- und Denkmuster keine Residualgrößen mehr; sie besitzen die gleiche Bedeutung wie „harte“ sozioökonomische und politische Einflussfaktoren.2 Vor allem deutsche und amerikanische Historiker/innen haben sich mit der Vergegenständlichung kultureller Leitbilder in Verkehrsinfrastrukturen wie der Reichsautobahn und den amerikanischen Parkways beschäftigt.3

Der vorliegende Sammelband von Christoph Neubert und Gabriele Schabacher versammelt Beiträge, die an der „Schnittstelle“ zwischen Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft angesiedelt sind. Nach einer grundsätzlichen Einführung der Herausgeberin und des Herausgebers in die Themen und Methoden der interdisziplinären (soziologischen, kulturellen und historischen) Verkehrsforschung beschäftigt sich Bernhard Siegerts Beitrag zum „Historismus als Epoche der Nachrichtenmedien“ am Beispiel der Schriftsteller Gottfried Keller und Karl Gutzkow aus literatur- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive mit der Beschleunigung materieller und symbolischer Zirkulation während der kommunikationsgeschichtlichen Wendezeit nach 1850. Sein Zugang über literarische Quellen vertieft den schon bekannten postgeschichtlichen Befund, dass die Revolution in der schriftlichen Kommunikation erst durch die Synthese des Verkehrssystems Bahn und der Institution Post möglich wurde. Siegerts Beitrag bewegt sich auf der Ebene der kulturellen Repräsentation neuer Verkehrs- und Kommunikationstechniken. Mit seinem originellen methodischen Ansatz bestätigt er letztlich die Ergebnisse der traditionellen Verkehrs- und Postgeschichte, die die organisatorische Kooperation sowie die technischen und wirtschaftlichen Synergieeffekte beider Verkehrs- und Kommunikationsmittel schon vor Jahrzehnten empirisch erforschte.

Christoph Neuberts Beitrag über die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bei Bruno Latour vermittelt einen tiefen Einblick in die Genese eines neuen heuristischen Modells, das in der Technik- und in der Wissenschaftsgeschichte zunehmend an Popularität gewinnt. Das innovative Element der ANT ist nicht die Konzentration auf Netzwerke, sondern die Entdeckung technischer Artefakte als Akteure, die mit menschlichen Individuen und Akteursgruppen interagieren. Neubert vermittelt die Genese des ANT-Modells am Beispiel von Latours Studie über die in den 1970er- und 1980er-Jahren erprobte, aber letztlich nicht realisierte technologische Innovation eines vollautomatischen Personentransportsystems (in der Bundesrepublik als „Kabinentaxi“ bezeichnet). Auch wenn der Hinweis auf die Fiktionalität aller technischen Projekte in ihrer Entwurfsphase aus heutiger technikhistorischer Sicht unbestritten ist, erscheint Latours Text durch die Vermischung nicht-fiktionaler und fiktionaler Elemente aus geschichtswissenschaftlicher Sicht nicht unproblematisch. Während die Akteur-Netzwerk-Theorie ihren heuristischen Wert für die historische Technikforschung zweifellos bewiesen hat, geht Neubert ein wenig zu unkritisch über die methodische Angemessenheit von Latours Darstellungsform hinweg. Latours isolierte Betrachtung der Kabinentaxi-Vision bietet leider zu wenig Anknüpfungspunkte für die mittlerweile boomende Forschung zu den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren als Hochblüte der Planungseuphorie und der Machbarkeitsphantasien.

In zwei klassischen infrastrukturgeschichtlichen Beiträgen beschäftigen sich Dirk van Laak und Gabriele Schabacher mit Infrastrukturen als europäischem Integrationsmedium und mit der Geschichte der Rohrpost. Van Laak fasst die Ergebnisse seiner Pionierarbeiten zur Genesis des Infrastrukturbegriffs und zur Entstehung (trans)kontinentaler Infrastrukturutopien zusammen. Schabacher belegt nicht nur überzeugend die Doppelfunktion der Rohrpost als Verkehrsmittel (für den Versand von Briefen und Kleinsendungen) sowie als Kommunikationsmittel für den geschäftlichen und behördlichen Austausch, sondern bietet auch Einblicke in die Lebenszyklen derartiger Medien und in die Ursachen ihres Niedergangs.

Benjamin Steiningers Aufsatz über die technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte der Treibstoffproduktion betont die Bezüge zur kulturellen Heroisierung und zur symbolischen Aufladung der synthetischen Treibstoffherstellung im nationalsozialistischen Deutschland. Sein Perspektivwechsel vom Verkehrsmittel zum „Kraftstoff“ erweitert die werbungs- und mediengeschichtliche Motorisierungsforschung um einen relevanten Aspekt, der in der fahrzeugzentrierten Motorisierungsgeschichte bislang keine Beachtung erhielt.

Ein Aufsatz von Markus Krajewski über die Entstehung des „Fleurop“-Netzwerks im europäischen Blumenhandel seit den 1920er-Jahren verknüpft die Geschichte der materiellen Produktion (von Blumensträußen) mit der technischen Nutzung medialer Innovationen (der Telegraphie) und dem unternehmerischem Innovationspotenzial der Netzwerkbildung (durch Kooperationsverbund mit standardisierter Kommunikations- und Abrechnungstechnik). So gelingt ein eindrucksvoller Beitrag über eine besondere Form des virtuellen Warenverkehrs mit realen Objekten.

Der methodisch anregende Sammelband zeigt an sehr unterschiedlichen und teilweise sehr speziellen Beispielen, wie sich kulturwissenschaftliche Fragen und Methoden für die verkehrshistorische Forschung nutzen lassen. Leider lässt die starke Konzentration einiger Beiträge auf die kulturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Dimension die Frage offen, wie diese Perspektive durch die Verschränkung mit bewährten sozial-, technik- und wirtschaftshistorischen Ansätzen das Erkenntnispotenzial der historischen Verkehrsforschung steigern kann.

Der Fokus auf Verkehr als Medium und die Medialisierung des Verkehrs – vor allem in den Beiträgen von Hartmut Winkler („Spuren, Bahnen. Wirkt der Traffic zurück auf die mediale Infrastruktur?“), Thorsten Hahn („Waterways. H.A. Innis’ Kanufahrt zum Ursprung des Dominion“), Isabell Otto („Die Zeitmaschine – Vehikel in einer Mediengeschichte des Verkehrs“) und Thomas Waitz („Verkehrsteilnehmer. Ein filmisches Versprechen, 1927/28“) – ist der Tatsache geschuldet, dass die Herausgeberin und der Herausgeber ihren Schwerpunkt in der Medientheorie und Mediengeschichte haben. Eine größere thematische Bandbreite und die Einbeziehung abgeschlossener oder noch laufender Projekte zur Kultur des Verkehrs und der Verkehrsnutzung hätte das Potenzial der disziplinären Verschränkung von Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft noch eindrucksvoller demonstrieren können. So hätten Beiträge zur Geschichte des Fahrradverkehrs zeigen können, dass die Nutzung dieses Verkehrsmittels stark von habitualisierten soziokulturellen Verhaltensmustern geprägt ist, die sich in langlebige nationale und regionale Traditionen eingeschrieben haben. Anne-Katrin Eberts Dissertation über die (Kultur-)Geschichte des Radverkehrs in Deutschland und den Niederlanden von 1890 bis 19404 sollte eine Fortsetzung in die Epoche der Massenmotorisierung und der autozentrierten Stadtverkehrsplanung finden. Eine vergleichende europäische oder sogar globale Kultur- und Sozialgeschichte der Nutzung öffentlicher und individueller Verkehrsmittel vor und während der Massenmotorisierung gehört ebenso zu den Desideraten der historischen Verkehrsforschung wie eine interkulturelle Vergleichsgeschichte zwischen den nationalen Traditionen der Stadtverkehrsplanung im 20. Jahrhundert. Die Kulturgeschichte des Verkehrs bietet einen willkommenen Anlass, um die herkömmliche nationale Fokussierung der Verkehrsgeschichte zu überwinden.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977 (und öfter).
2 Siehe etwa das Jahrbuch „Mobility in History“ (http://journals.berghahnbooks.com/mih [12.04.2013], seit 2009) und die Zeitschrift „Transfers. Interdisciplinary Journal of Mobility Studies“ (<http://journals.berghahnbooks.com/trans/>, [06.04.2013], seit 2011).
3 Z.B. Thomas Zeller, Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderungen in Deutschland von 1930 bis 1990, Frankfurt am Main 2002 (Inga Brandes: Rezension zu: Zeller, Thomas: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderungen in Deutschland von 1930 bis 1990. Frankfurt am Main 2002, in: H-Soz-u-Kult, 28.04.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-057> [06.04.2013]); Benjamin Steininger, Raum-Maschine Reichsautobahn, Berlin 2005 (Reiner Ruppmann: Rezension zu: Steininger, Benjamin: Raum-Maschine Reichsautobahn. Berlin 2005, in: H-Soz-u-Kult, 29.09.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-194> [6.4.2013]); Christof Mauch / Thomas Zeller (Hrsg.), The World beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe, Athens 2007 (Reiner Ruppmann: Rezension zu: Mauch, Christof; Zeller, Thomas (Hrsg.): The World beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe. Athens 2007, in: H-Soz-u-Kult, 12.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-156> [6.4.2013]); Thomas Zeller, Staging the Driving Experience: Parkways in Germany and the United States, in: Mari Hvattum u.a. (Hrsg.), Routes, Roads and Landscapes, Farnham 2011, S. 125–138.
4 Anne-Katrin Ebert, Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940, Frankfurt am Main 2010.