K. B. Murr u.a. (Hrsg.): Lassalles "südliche Avantgarde"

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Titel
Lassalles "südliche Avantgarde". Protokollbuch des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Gemeinde Augsburg (1864-1867)


Herausgeber
Murr, Karl Borromäus; Reusch, Stephan
Reihe
Archiv der Sozialgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Edition des Protokollbuchs der Augsburger „Gemeinde“ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) aus den Jahren 1864 bis 1867 ist für jeden an der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung und vor allem ihrer sozialdemokratischen Spielart Interessierten ein unschätzbares Verdienst. Es handelt sich um eine erstrangige Quelle, um an den sozialen Ort heranzukommen, an dem sich die deutsche Sozialdemokratie zuallererst konstituierte, nämlich die nachmärzliche städtische Öffentlichkeit, die mit zahlreichen Vereinsgründungen und einer bald inflationär wachsenden Versammlungskultur nach den repressiven Jahren der obrigkeitlichen Reaktion auf die Revolutionen von 1848 und 1849 in nie gewesenem Maße aufblühte. Das macht die frühe Sozialdemokratie zugleich zu einer dezidiert politischen – im Gegensatz etwa zu einer gewerkschaftlichen oder genossenschaftlichen – und zu einer im Lokalen verhafteten, als lokale Gruppenbildung in allgemeiner Absicht sich formierenden sozialen Bewegung.

Das gilt auch für die aufstrebende Textilfabrikationsstadt Augsburg, in der sich am 19. März 1864, knapp ein Jahr nach Gründung des ADAV in Leipzig, die erste „Gemeinde“ des sich über die gesamten deutschen Territorien erstreckenden „Gesamtvereins“ ADAV auf bayerischem Boden zusammenschloss. Die Bezeichnung „Gemeinde“ war eine Hilfskonstruktion, um das geltende Vereinsgesetz zu umgehen, das für politische Vereine die Bildung von lokalen Zweigvereinen verbot. Sie war auch eine Referenz an Ferdinand Lassalles Antipathie gegen die ausufernde „Vereinsspielerei“, die er unter den deutschen Arbeitern ausgemacht zu haben glaubte und der er die Idee einer straffen zentralistischen Organisation entgegensetzte, die auf ein einziges Ziel, die Erlangung des „allgemeinen Wahlrechts“ ausgerichtet und ausschließlich auf Agitation nach außen gepolt sein sollte. Das Protokollbuch und die zahlreichen Quellen in seinem Umfeld, die zusammengetragen zu haben, ebenfalls ein großer Verdienst der Herausgeber ist, legen lebendiges Zeugnis ab, dass Lassalles Organisationsidee, später noch einmal in verschärfter Form durchzusetzen versucht durch den ADAV-Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer im ADAV und durch die Gräfin von Hatzfeldt, eine Förderin Lassalles, in der zwischenzeitlichen Abspaltung LADAV, nicht viel mehr als eine an der Organisationswirklichkeit vorbeizielende, sie höchstens periodisch störende Ideologie war.

Die zentralistische Organisation des ADAV mit dem auf fünf Jahre gewählten Präsidenten Ferdinand Lassalle an der Spitze, einem „unumschränkten Diktator“, ist in der Arbeiterbewegungsforschung lange für bare Münze genommen und nur – aus gegensätzlichen politischen Richtungen kommend – ideologisch unterschiedlich bewertet worden.1 Nicht zuletzt hatte das der abwertenden Deutung des ADAV als einer „politischen Sekte“ den Boden bereitet (S. 11). Das Augsburger Protokollbuch zeigt das Gegenteil. Der Augsburger ADAV, ursprünglich eine neunköpfige Truppe unter der Führung des Mechanikers und Zeugschmieds Friedrich Dürr, zum Zeitpunkt der Gemeindegründung knapp 30 Jahre alt, die sich in einem Augsburger Wirtshaus traf – also alles andere als eine industrielle Massenbewegung –, entpuppte sich alsbald als selbstbewusste lokale Gliederung, die alle zentralen Entscheidungen aus Leipzig oder Berlin durch eigene Kontrollabstimmungen vor Ort sanktionierte – oder verwarf. Hier bildete sich exakt die Kultur einer „demokratischen Minirepublik“ heraus, die man an den anderen Hauptorten der frühen deutschen Sozialdemokratie genauso fand und die der Kern dieser politischen Bewegung war. So hatten der Leipziger Arbeiterbildungsverein, zu Recht als „Wiege der deutschen Arbeiterbewegung“ bezeichnet, und der Augsburger ADAV wesentlich mehr gemein als die ältere Forschung zugestehen mochte – oder gar überhaupt erkennen konnte.2

Das kam auch im Selbstverständnis der Augsburger ADAV-Mitglieder zum Ausdruck. Als der Tuchscherergeselle Johann Leonhard Wahl, 36-jährig, am 21. Mai 1865 eine Rede anlässlich der Stiftungsfeier des ADAV hielt, rühmte er zwar die „ächt demokratische kraftvolle Verfassung“ (S. 161) des Gesamtvereins, betonte dann aber eindrucksvoll das vereinsmäßige Eigenleben einer durch und durch radikaldemokratisch verfassten lokalen Gliederung, der die Bezeichnung „Verein“ nur gesetzlich verwehrt blieb: „Bei uns herrscht das freie Wort der Debatte! Dem Geringsten von uns ist das Wort gegönnt; direkt oder auf indirektem Wege, kann und muß jede Frage, sei selbe persönlich oder anonym durch den Briefkasten gestellt, vor öffentlicher Versammlung besprochen und durch Abstimmung entschieden werden; bei Stimmengleichheit wird die Appelation an die höhere Instanz ergriffen und so die Sache zum Austrag gebracht. Wir fürchten keine Kritik, jeder Gegner ist uns höchst willkommen; jedes Problem, das gegnerischerseits in der Arbeiterfrage auftaucht und in der Presse erscheint, wird sofort der Prüfung unterzogen. Außer unserer Literatur werden alle Fragen der Neuzeit pro und contra diskutirt, den Mitgliedern zur Kenntniß gebracht, und somit gewiß eine Bildung angestrebt, die zur Freiheit führen muß.“ (S. 161). Genau das war in den Augen Lassalles „Vereinsspielerei“.

Auch von der sozialen Gliederung her unterschied sich die Augsburger „Gemeinde“ nicht wesentlich von der anderer sozialdemokratischer Lokalvereine, was bedeutet, dass das Handwerk der zunehmend in die werkstattliche Massenfertigung expandierenden Gewerbe sowie in Augsburg die Metallhandwerke, später federführend, nicht aber zahlenmäßig Buchdrucker und Schriftsetzer, das Gros der Mitgliedschaft stellten, jedoch nicht die in der industriellen Textilfabrikation Augsburgs in eigentlichem Sinne beschäftigten Arbeiter.3 Unter den Schneidern und Schuhmachern, die gegenüber den Webern zahlenmäßig dominierten, befanden sich auch selbständige Meister. Textilarbeiter waren 1869 in der Minderheit, und ob der Tuchscherergeselle Wahl in einer Fabrik oder in einer Werkstatt in der Stadt Augsburg, die eine „protoindustrielle“ Geschichte hatte, arbeitete, wird nicht geklärt. Sein Bruder Konrad Wahl, geboren 1831, war jedenfalls Schriftsetzer, also alles andere als ein „geborener Proletarier“ (Hartmut Zwahr)4. Der handwerkliche Charakter der frühen deutschen Sozialdemokratie kommt am lokalen Beispiel des Augsburger ADAV noch einmal besonders deutlich zum Ausdruck. Daran sollte sich ergiebig weiter forschen lassen.

Überhaupt wäre zu wünschen, wenn eine lokal fokussierte, aber die generellen Perspektiven aufnehmende Forschung sich wieder verstärkt der Frühzeit der deutschen Sozialdemokratie zuwenden würde. Mit den Studien über Augsburg und Leipzig verfügen wir nun über wertvolle lokale Vertiefungen zum Beispiel von Toni Offermanns sehr differenzierter Organisationsgeschichte des ADAV und seiner Nebengliederungen, die ja wesentlich mehr Materialsammlung als eigenständige Deutung und gerade deshalb so verdienstvoll ist.5 Karl Borromäus Murr und Stephan Resch haben eine superb recherchierte und souverän auf dem neuesten Forschungsstand basierende und selbst Perspektiven künftiger Untersuchungen aufzeichnende Edition vorgelegt, die das Arsenal an gedruckten Quellen und Periodika aus dem Verlag J.H.W. Dietz ideal ergänzt. Es bleibt zu wünschen, dass die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Frühzeit wieder stärker in den Fokus der Forschung etwa zu Parteien oder sozialen Bewegungen rücken würde. Der Stoff ist da. Und der ist aufregend.

Anmerkungen:

1 Thomas Welskopp, „Die Einigkeit, das ist der Funke, der alles zusammenschmilzt …“ – Die deutsche Arbeiterbewegung von 1863 bis 1890, in: Technoseum Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim (Hrsg.), Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863–2013. Katalog zur Großen Landesaustellung 2013 Baden-Württemberg, Mannheim 2013, S. 77–108, 77f.
2 Wolfgang Schröder, Leipzig – die Wiege der deutschen Arbeiterbewegung. Wurzeln und Werden des Arbeiterbildungsvereins 1848/49 bis 1878/81, Berlin 2010.
3 Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 128.
4 Siehe ebd., S. 219, mit den entsprechenden Verweisen auf Zwahr.
5 Toni Offermann, Die erste deutsche Arbeiterpartei. Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863–1871, in: Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft Nr. 22, Bonn 2002.

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