Die vorliegende Publikation, die generös von der Fondation Suna et İnan Kiraç unterstützt wurde, unterstreicht die fruchtbaren Bemühungen des Institut de Recherche d’Istanbul, Forschungen zur Geschichte der Stadt am Goldenen Horn zu befördern und deren Ergebnisse auch umzusetzen.
Die byzantinische Siegelkunde zählt zu den aktivsten Hilfswissenschaften des Faches Byzantinistik, jährlich wächst die Zahl an publiziertem Primärmaterial an, Großereignisse wie die zu besprechende Veröffentlichung finden allerdings seltener statt.
Im vorliegenden Katalog werden etwa 1.520 Siegel (zumeist aus byzantinischen Kanzleien) und einige Objekte (Tesserae [Nr. 8.28], Amulette [Nr. 9.33–34] sowie Siegelschrötlinge [Nr. 11.152a–c]) aus dem Archäologischen Museum von İstanbul wissenschaftlich beschrieben. Bislang konnte man nur auf alte Publikationen von Jean Ebersolt1 oder indirekte Erwähnungen dieses Sammlungsbestandes zurückgreifen. Im Jahre 2007 beschäftigte sich Vera Bulgurlu im Rahmen ihrer Dissertation mit 350 Stücken, vornehmlich Siegeln mit Familiennamen.2 Die Wichtigkeit dieser Sammlung liegt darin, dass viele der Exemplare in İstanbul selbst gefunden wurden, was für die Interpretation und zukünftige Netzwerkanalysen der byzantinischen Metropole essentiell wichtig ist. Nach 1936 kamen weitere 76 Siegel (durch Fund oder Konfiskation) in das Museum, wobei ihre Fundorte verzeichnet worden sind (Tabellen, S. 18–19).
Die Einteilung des nach den gültigen Standards bearbeiteten Materials folgt dem mittlerweile verbreiteten Schema: 1. Kaisersiegel, 2. Zentralverwaltung, 3. Provinzialverwaltung, 4. Hofämter, 5. Würdenträger, 6. Kirche und kirchliche Verwaltung, 7. Familiennamen, 8. (nur) Vornamen, 9. Anonyme Stücke, 10. Ikonographische Siegel und 11. Unsichere Zuweisungen/Lesungen.3 Vorbildlich werden Spezialindizes zu Ikonographie, metrischen Siegellegenden und bemerkenswerten Wörtern (hinzufügen könnte man: „basiléngonos“ [Nachkomme des Kaisers] Nr. 7.29) beigegeben. Meistens siegelten Männer, der Anteil an Frauen, die als eigenständige Personen auf diesen Dokumenten auftreten, ist gering (Nr. 1.45; 5.45, 5.128, 5.129, 6.148, 6.149). Die Edition der Siegel ist durchgehend qualitativ gut bebildert.
Ein außergewöhnliches Stück stellt die Bleibulle des Usurpators Nikephoros Melissenos dar (Nr. 1.41). Im Februar 1081 wurde er in Nikaia zum Kaiser akklamiert und agierte als solcher bis zum April 1081, als Alexios Komnenos (ab 4. April 1081 gekrönter Kaiser in Konstantinopel) ihm zum Ausgleich die Statthalterschaft Thessalonikes und den Kaisertitel garantierte. Auf dem hier publizierten Bleisiegel wird er auch „basileús“ genannt, der bisher erste Beleg für seine Aneignung des Kaisertitels.4 Deutlich wird, dass es zu den wichtigsten Aktionen eines Usurpators gehörte, sofort einen Kanzleibetrieb mit den notwendigen autoritätsstiftenden Instrumenten (Münzstempel und Siegelzange) einzurichten.
Bei den anonymen Siegeln gibt es Legenden, die zeigen, wie viel Ironie Byzantiner in ihrem Alltag haben konnten; sie reflektieren auch die hohe Wertschätzung von Schriftlichkeit in der byzantinischen Gesellschaft und die Raffinesse der Siegelschneider, auf beschränktem Platz rhetorische Meisterwerke zu fabrizieren: Die Legende von Nummer 9.28 lautet: „Nichts anderes als zwei Verse siegle ich, die zwei Verse schreiben aber nichts weiteres.“ Nummer 9.11 vertröstet: „Aus dem Brief wirst du erkennen, wessen Siegel ich bin.“ Dass mit der Vermeidung der Nennung eines Namens eine doppelte Sicherung eines Dokuments gegeben war, ist klar, denn nicht einmal der Absender war in dem Übermittlungsprozess von Dokumenten bekannt; hin und wieder wird der Aspekt des Sicherns auch explizit ausgedrückt (siehe „asphalēs“ im Index der besonderen Wörter).5
Immer wieder überraschen Siegel von Mönchen – etwa des Inklusen Ioannes aus dem 12. Jahrhundert (Nr. 6.122). Bemerkenswert ist die Verwendung des seltenen Wortes „brontópais“ (Sohn des Donners) für Johannes den Evangelisten (Nr. 8.108).
Das Monogramm auf dem Siegel des Romanos Tornikios (Nr. 2.167) entspricht den in der mittelbyzantinischen Zeit üblichen, auch auf anderen Objekten vertretenen Formen (Kombination aus Rho und Omega).6 Mit Nummer 8.87 existiert ein weiteres Exemplar, das einen Namen in Kreuzmonogrammform samt seiner Auflösung auf der Rückseite bietet (leider ‚nur‘ den Namen Ioannes).7
Die vorliegende Edition stellt mannigfaltiges Material zur weiteren Beschäftigung und methodischen Weiterentwicklung der Siegelkunde bereit: So könnte mehr auf die Siegelikonographie eingegangen werden. Die Masse an publizierten Dokumenten erlaubt mittlerweile die Nachzeichnung von Moden, Veränderungen und Intentionen der Siegelbesitzer/-innen. Überhaupt könnte verstärkt auf die Gestaltung der Siegellegenden geachtet werden, da sie ja an eine Öffentlichkeit gerichtet waren. Die Meisterschaft der Komposition metrischer Siegellegenden (im byzantinischen Zwölfsilber) wurde schon lange erkannt, aber welche Informationen oder Propaganda (neben der Angabe von Amt und Titel) damit transportiert wurden, wurde noch kaum – auch in den gerade erscheinenden Sammelwerken – gestellt. Was heißt es etwa, wenn besonders auf das „génos“ (Familiengeschlecht, Nr. 2.231, 6.29, 7.102) hingewiesen wird? In welcher Beziehung steht man beziehungsweise stellt man sich zu einem dargestellten Heiligen? Insbesondere bei den Legenden mit Heiligenabbildungen, aber ohne Namensnennungen scheint das wichtig zu sein.
Dem Autorenteam ist für die entbehrungsreiche Editionstätigkeit zu danken – möge es ein Impuls für weitere Erschließungen von Sammlungen in der Türkei sein!8
Anmerkungen:
1 Jean Ebersolt, Sceaux byzantins du musée de Constantinople, in: Revue Numismatique IVe ser. 18 (1914), S. 207–243 und S. 377–409.
2 Vera Bulgurlu, İstanbul Arkeoloji Müzelerindeki Bizans kurşun mühürleri, İstanbul 2007.
3 Zum Teil gibt es die Texte parallel auch auf Türkisch, insbesondere im Kapitel 2 und 3, nicht aber in Abteilung 6.
4 Die Transkription der Legende ist allerdings nicht ganz richtig wiedergegeben, anstelle Omega lies Omikron und das Betonungszeichen bei „basileûs“ ist inkorrekt.
5 Christos Stavrakos, Ein unpubliziertes byzantinisches Siegel aus der Sammlung Savvas Kophopoulos. Einige Bemerkungen zur Sicherung mit Blei, in: Claudia Ludwig (Hrsg.), Siegel und Siegler. Akten des 8. Internationalen Symposions für byzantinische Sigillographie, Frankfurt am Main 2005, S. 163–174, S. 169: „aspháleia“ als Garantie.
6 Michael Grünbart, Zum Monogramm der mittelbyzantinischen Zeit, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 52 (2002), S. 243–248.
7 Walter Fink, Das frühbyzantinische Monogramm. Untersuchungen zu Lösungsmöglichkeiten, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 30 (1981), S. 75–86; jetzt Robert Feind, Byzantinische Monogramme und Eigennamen. Alphabetisiertes Wörterbuch, Regenstauf 2010.
8 Jean-Claude Cheynet hat in den letzten Jahren bereits mehrere Sammlungen türkischer Museen bearbeitet, siehe z.B. Jean-Claude Cheynet, Sceaux byzantins des Musées d’Antioche et de Tarse, in: Travaux et mémoires 12 (1994), S. 391–478; Ders., Sceaux de plomb du musée d'Hatay (Antioche), in: Revue des études byzantines 54 (1996), S. 249–270, oder Ders., Les sceaux byzantins du Musée de Manişa, in: Revue des études byzantines 56 (1998), S. 261–267.