Das Themenfeld „Tourismus“ und Reisen ist bereits in der Vergangenheit in verschiedener Form immer wieder Gegenstand altertumskundlicher Publikationen gewesen. Die Ergebnisse reichen von populären Behandlungen bis zu der breit rezipierten Monographie von Lionel Casson.1 Die grundlegenden Vorarbeiten hatte allerdings schon Ludwig Friedländer für die einschlägigen Kapitel seiner Sittengeschichte geleistet, die man auch heute noch mit Gewinn lesen wird.2 All diesen Darstellungen ist gemein, dass sie aus der Zusammenziehung von Quellennotizen aus ganz unterschiedlichen chronologischen und räumlichen Zusammenhängen ein möglichst vollständiges Gesamtbild zu entwickeln suchen. Die Ausnahme stellt Victoria Foertmeyers Arbeit zum antiken Tourismus in Ägypten dar, die ausgehend von einer spezifischen Überlieferungssituation eine vertiefende Regionalstudie bietet.3
Mit ihrer Tübinger Dissertation von 2008/09 hat Nicola Zwingmann der nur als Xerokopie veröffentlichten Untersuchung Foertmeyers nun eine analoge Studie für das antike Kleinasien an die Seite gestellt. Das ist schon deshalb zu begrüßen, weil das Amalgamieren verstreuter und disparater Quellen – so alternativlos dieses Vorgehen bei kulturgeschichtlichen Fragestellungen oft ist – immer die Gefahr unzulässiger Generalisierungen birgt, die zeitliche Entwicklungen und regionale Spezifika verdecken. Tiefenbohrungen, die das Material mit einer zeitlichen oder regionalen Einschränkung untersuchen, sind vor diesem Hintergrund ein wichtiges Korrektiv.
Die Verwendung des Begriffes „Tourismus“ wird manche Anhänger strikter Alteritätsthesen wohl zum Widerspruch reizen, doch wie immer kommt es vor allem darauf an, die Begriffe sauber zu definieren. Zwingmann macht in der Einleitung und auch sonst sehr deutlich, dass sie unter „Tourismus“ nicht die Existenz von Reisebüros und Kreuzfahrtunternehmungen modernen Musters versteht. Dass man in der Antike reiste und wenigstens manche Reisenden – unabhängig vom Anlass ihrer Reise – dabei auch ein „touristisches“ Interesse an Denkmälern und Naturwundern entwickelten, wird man kaum ernsthaft bestreiten können. Einen wesentlichen Unterschied zum modernen Tourismus arbeitet Zwingmann zudem im Fehlen einer genuinen Naturromantik heraus. Naturwunder wurden zwar besucht, doch in fast allen Fällen aitiologisch als Erinnerungsort an eine mythische Begebenheit historisiert.
Nach den einleitenden Vorbemerkungen wendet sich Zwingmann zunächst exemplarisch drei städtischen Reisezielen zu: Troia, Rhodos und Pergamon. Gerade Ilion/Troia stellte das vielleicht wichtigste Reiseziel der antiken Welt überhaupt dar. Aufbauend auf den Arbeiten von Hertel und Trachsel bietet Zwingmann einen Katalog der örtlichen Sehenswürdigkeiten, der einen bisher in dieser Vollständigkeit nicht gegebenen Überblick über das Material verschafft.4 Im Anschluss werden mit Ephesos, Kos und Knidos drei berühmte Heiligtümer als Reiseziele behandelt. Es folgt eine Untersuchung der Wahrnehmung nicht-griechischer Überreste in Kleinasien. Danach wendet sich Zwingmann den Naturwundern zu, insbesondere dem Charonion von Hierapolis und der Korykischen Höhle. Die in den ortsbezogenen Kapiteln gewonnenen Ergebnisse bilden die Grundlage des letzten Kapitels mit allgemeinen Überlegungen zum antiken Tourismus. Das Buch schließt mit einer knappen Zusammenfassung und einem Register.
Generell geht Zwingmann so vor, dass zunächst die Sehenswürdigkeiten anhand der literarischen und archäologischen Quellen vorgestellt werden, dann ein Blick auf die Zeugnisse zur touristischen Infrastruktur gegeben wird und schließlich eine zusammenfassende Auswertung folgt. Die Quellen- und Literaturdokumentation ist reichhaltig und auch derjenige, der sich mit dem Material schon selbst intensiver auseinandergesetzt hat, wird immer wieder Neues entdecken. Als besonders erhellend empfand der Rezensent die Behandlung der hethitischen Reliefs am Karabel-Pass und des Charonions in Hierapolis. Im ersten Fall kann Zwingmann – ohne Herodot zu idealisieren – zeigen, dass noch die Forschung des 19. Jahrhunderts mit ganz ähnlichen Problemen bei der Beschreibung und Deutung der Reliefs zu kämpfen hatte. Im Fall des Charonions lassen sich einmal mit einiger Sicherheit noch heute sichtbare Überreste mit den Beschreibungen der antiken Autoren zusammenbringen.
Freilich kann auch Zwingmann nichts daran ändern, dass die Quellenlage oft unbefriedigend ist: Anders als im Falle Ägyptens stehen in Kleinasien weder Papyri noch Proskynema-Inschriften als Quellen für Reisetätigkeit zur Verfügung. Die konkreten „Touristen“ entziehen sich daher mit wenigen Ausnahmen wie C. Licinius Mucianus oder Aelius Aristides dem Zugriff. Die Abschnitte zur touristischen Infrastruktur müssen denn auch vergleichsweise knapp ausfallen. Dafür entfaltet Zwingmann jedoch ein breites Panorama der in den antiken Quellen bezeugten Sehenswürdigkeiten. Ihre Arbeit ist daher vor allem auch von jenen zu berücksichtigen, die sich mit Erinnerungsorten und -landschaften beschäftigen.
Für den antiken Tourismus ergibt sich, dass die Anziehungskraft eines Reiseziels stark von seiner Einbindung in die damaligen Verkehrsrouten abhing. Autopsie wird in den Quellen meist dann behauptet, wenn besonders spektakuläre, also kontraintuitive Phänomene berichtet werden. In einigen Fällen kann Zwingmann archäologische Artefakte als mögliche Souvenirs identifizieren, die speziell für Reisende hergestellt wurden. Ferner zeigt sie auf, welche Unterbringungsmöglichkeiten für Reisende bestanden und dass deren Anwesenheit einen nicht unerheblichen Wirtschaftsfaktor dargestellt haben muss. Diese Ergebnisse sind so plausibel, dass man sie für augenfällig erachten könnte, aber die Zusammenhänge sind in der einschlägigen Forschung zuvor eben nicht so klar herausgearbeitet worden. Zudem führt Zwingmann detaillierte landeskundliche Kenntnis von Geographie, Infrastruktur und Denkmälern mit einer kulturgeschichtlichen Fragestellung zusammen. Schon deshalb ist ihr Buch ein willkommener Beitrag zur Erforschung der Reisetätigkeit in der Antike.
Anmerkungen:
1 Populär: Tony Perrottet, Route 66 A.D. On the Trail of Ancient Roman Tourists, New York 2002. Lionel Casson, Travel in the Ancient World, London 1974. Vgl. in jüngerer Zeit den Sammelband Colin Adams / Jim Roy (Hrsg.), Travel, Geography and Culture in Ancient Greece, Egypt and the Near East, Oxford 2007.
2 Ludwig Friedländer, Die Reisen der Touristen und deren gewöhnliche Ziele, in: ders., Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, Bd. 1, 10. Aufl., besorgt v. Georg Wissowa, Leipzig 1922, S. 391–490. Vgl. die Würdigung Friedländers durch Uwe Walter, Der Vater aller römischen Kulturgeschichten – Ludwig Friedländer zum 100. Todestag, in: Antike und Abendland, 22.12.2009 <http://blogs.faz.net/antike/2009/12/22/der-vater-aller-roemischen-kulturgeschichten-ludwig-friedlaender-zum-100-todestag-128/> (07.06.2013).
3 Victoria A. Foertmeyer, Tourism in Graeco-Roman Egypt, Diss. Princeton 1989 (erschienen als Kopie im Verlag Univ. Microfilms Internat., Ann Arbor).
4 Dieter Hertel, Die Mauern von Troia. Mythos und Geschichte im antiken Ilion, München 2003; Alexandra Trachsel, La Troade: un paysage et son héritage littéraire. Les commentaires antiques sur la Troade, leur genèse et leur influence, Basel 2007.