H. Wolf (Hrsg.): „Wahre“ und „Falsche“ Heiligkeit

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Titel
„Wahre“ und „Falsche“ Heiligkeit. Mystik, Macht und Geschlechterrollen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Wolf, Hubert
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 90
Erschienen
Oldenburg 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 265 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Zander, Theologische Fakultät, Université de Fribourg (CH)

Ein Titel, der beansprucht, über „wahre“ und „falsche“ Heiligkeit aufzuklären, steht in dem Verdacht, fromme Tendenzliteratur zu produzieren, und genau das ist der vorliegende Sammelband nicht. Vielmehr werden in der von Hubert Wolf, Kirchenhistoriker an der Universität Münster, herausgegebenen Aufsatzsammlung Techniken der diskursiven Herstellung der theologischen Kategorie „Heiligkeit“ analysiert. Diese ist als Teil der religiösen Anthropologie eine zentrale Dimension der Religionsgeschichte, in der neben der sozialen Funktion Heiligkeit auch die Konzeptualisierung religiöser Erfahrung greifbar wird. Konkret steht im Hintergrund des Bandes die Darstellung eines berühmt-berüchtigten Falles im römischen Kloster Sant‘ Ambrogio, die Wolf 2013 publizierte1 und die die Beiträge kontextualisieren sollen. Unter den Nonnen des Klosters flog 1859 ein Kriminalroman-reifer Fall auf, als man versuchte, eine deutsche Nonne, Fürstin Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen, zu ermorden, weil sie sexuelle Praktiken in dem Kloster offenlegte, die mit den Visionen einer Nonne legitimiert wurden. Dass in diese Skandalgeschichte auch ein für die Formulierung des Unfehlbarkeitsdogmas wichtiger Theologe, der Jesuit Joseph Kleutgen, verwickelt war, ist nur ein Sahnehäubchen nebenbei. Zentral für den vorliegenden Band ist vielmehr die Frage, wie man zwischen der zugeschriebenen „wahren“ und „angemaßten“ („falschen“) Heiligkeit unterscheiden könne. Dabei geht es letztlich um das Verhältnis des Katholizismus zur Aufklärung, deren Rationalitätskriterien in diesen Auseinandersetzungen diskutiert wurden.

Einleitend stellt Wolfgang Speyer eine religionsgeschichtliche Deutung von Heiligkeit zur Debatte. Sein an Mircea Eliade angelehnter Überblick über mehrere tausend Jahre der Religionsgeschichte ist allerdings aufgrund der dekontextualisierten Verallgemeinerungen für die universitäre Religionswissenschaft heutzutage kaum konsensfähig (siehe unten). Arnold Angenendts engerer Blick auf die katholische Perspektive auf Heiligkeit beruht zwar auf einer profunden Kenntnis der Quellen, geht aber kaum auf regionale, gruppenspezifische oder zeitlich bedingte Entwicklungen ein.

Die Stärke dieses Buches liegt in den Beiträgen zur historischen Detailforschung. Ein erster Höhepunkt ist derjenige von Gabriella Zarri, die nachweisen kann, dass die Kriterien für „wahre“ und „angemaßte“ Heiligkeit einschließlich der Terminologie keine Elemente „der“ katholischen oder gar christlichen Tradition seit der Antike sind, sondern Erfindungen der Neuzeit. Dabei taucht die römische Inquisition in einer unerwarteten Rolle auf, nämlich als Aufklärerin. Sie hatte die Legitimation der Heiligkeit von dem, was man seit dem 19. Jahrhundert eine „außergewöhnliche Erfahrung“ nannte, etwa von Visionen und Ekstasen, gelöst und Heiligkeit stattdessen an moralisches, tugendhaftes Handeln gebunden – ganz im aufklärerischen Zeitgeist. Gegen diese Neudefinition gab es allerdings auch innerkirchlichen Widerstand, wie Claus Arnold nachweist. Er dokumentiert, wie Papst Innozenz XI. (regiert 1676–1689) quietistische Traditionen der Mystik des Spaniers Miguel de Molinos, in denen man die innere Erfahrung von praktischer Tugend freihielt, gegen die neue Tugendethik verteidigte.

Klaus Unterberger verfolgt die Spur konkurrierender Heiligkeitskonzepte ins 19. Jahrhundert hinein, in dem der Schwerpunkt dieses Bandes liegt und das als ausgesprochen religionsproduktive Zeit sichtbar wird. Hier konnte, wie Unterberger zeigt, religiöse Erfahrung, die aufklärerischen Rationalitätskriterien nicht folgte, zu einem Kennzeichen des ultramontanen Katholizismus werden. Joseph Görres‘ „Christliche Mystik“ oder die Erfindung der Semantik des „Übernatürlichen“ nennt er dafür als Indizien. Bernhard Schneider liefert für eine Innovation der katholischen Frömmigkeitsgeschichte im 19. Jahrhundert, die Marienerscheinungen, empirisches Material und weist nach, dass sie mit regionalen Schwerpunkten auftraten (die Mehrheit dieser Erscheinungen wurden in Frankreich diskutiert) und stark von empiristischen Plausibilitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts abhingen. Ein weiteres Phänomen analysiert Otto Weiß mit den Stigmata, den Wundmalen, wobei er klar macht, dass diese zwar in mittelalterlichen Formen der praxis pietatis gründeten, sich aber im 19. Jahrhundert neu entwickelten. Dabei konnten solche Körpermerkmale von rationalistischen Theologen delegitimiert werden – und umgekehrt. In diesem Kontext ist dann die Frage unabweisbar, welchen Stellenwert „Offenbarungen“ außerhalb der Bibel besitzen, weil solche Erfahrungen zumindest implizit eigene Offenbarungsansprüche transportieren. Elke Pahud de Mortanges beschäftigt sich dazu in einem fundamentaltheologisch ausgerichteten Beitrag mit der Geschichte des Konzeptes der „Privatoffenbarung“, die in der frühen Neuzeit in der katholischen Kirche operationalisiert wurde. Anders als die protestantischen Großkirchen hatte die katholische die Eingrenzung von Offenbarung auf die Bibel nicht mitvollzogen. Pahud de Mortanges macht klar, dass die Bewertung einer solchen Privatoffenbarung innerkirchlich umstritten war: Ein spanischer Barockscholastiker wie Franciso Suárez (1548–1617) konnte in ihnen einen qualitativen Mehrwert gegenüber der Bibel sehen, wohingegen der Mainstream der katholischen Theologie genau dies bestritt.

Klaus Große Kracht deutet dann den Spiritismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Versuch, quasi empirisch neue religiöse Erfahrungen zu generieren, als ethisch ausgerichtete Bewegung. Diese These ruht allerdings auf einer schwachen Quellenbasis, und überhaupt ist der Beitrag weit vom Stand der Forschung entfernt. Monique Scheer bietet hingegen mit einer Sekundäranalyse des Materials zur Rolle von Frauen als Offenbarungsträgerinnen einen anregenden Blick auf die Motive, mit denen besonders Frauen religiöse Erfahrungen zugesprochen werden konnten. Norbert Lüdecke schließlich weist in einem dichten Artikel zu Heiligsprechungsverfahren im Kirchenrecht nach, in welch großem Ausmaß die kirchenrechtlich formalisierten Verfahren in der frühen Neuzeit zunehmend von der römischen Kirchenleitung an sich gezogen wurden. Dahinter stand der Versuch, ein Gegengewicht gegen die zunehmende Regionalisierung und (national-)staatliche Vereinnahmung von lokalen Kirchen zu bilden, aber auch der Anspruch, Macht durch Disziplinierung zu zentralisieren. Eine Sonderrolle spielt der Beitrag von Joachim Demling, der als Psychologe die Vorgänge in Sant‘ Ambrogio deutet.

Der Band besticht durch die Qualität der meisten historischen Beiträge, in denen einmal mehr deutlich wird, welche religionshistorischen Kompetenzen in der Kirchengeschichtsschreibung stecken. Aber in der Öffnung der Kirchengeschichte auf eine allgemeine Religionsgeschichte, die Wolf in der Forderung nach einer „religions- und christentumsgeschichtlichen Perspektive“ (S. 5) anmahnt, bleibt der Band schwach. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen: Eine religionsgeschichtliche Perspektive, so wie sie die universitäre Religionswissenschaft zumindest in Deutschland mehrheitlich versteht, hat sich normativer Aussagen zu enthalten. Wertungen jedoch durchziehen in vorsichtiger oder massiver Form praktisch alle Aufsätze dieses Bandes. Dass dabei die Absicht leitet, einer rationalen Kritik von „ekstatischen“ Phänomenen eine Stimme zu geben oder kirchliche Machtpraktiken aufzudecken, hilft wenig. Wertungen werden in der Perspektive einer wertneutralen Historiographie nicht besser, wenn sie in „aufklärerischer“ oder „guter“ Absicht erfolgen. In besonderer Weise – und dies nur als Beispiel – finden sich derartige Äußerungen bei dem Allgemeinhistoriker Wolfgang Reinhard, dessen Schlussbericht in der Semantik („sex- und machtgeile Nonnen“ und „Priester“, S. 249) und in den historiographischen Wertungen („Rückfall in Primitivformen von Religion“, S. 250) an seiner Wertehierarchie keine Zweifel lässt.

Zum anderen werden mögliche Anschlüsse an die allgemeine Geschichtswissenschaft (die in Einzelfällen immer noch „Profanwissenschaften“ heißen [S. 196, Herv. HZ]) und an die Religionswissenschaft oft nicht hergestellt; eine Ausnahme bildet vor allem der Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer. Exemplarisch (und in diesem Band extrem) dokumentiert diese Distanz zu den konzeptionellen Debatten in der Religionswissenschaft Wolfgang Speyer, der beispielsweise beansprucht, „die Geschichte des menschlichen Bewusstseins zu befragen“ (S. 11), von einem „alle Kulturen gleichermaßen angehenden Thema“ ausgeht (S. 12) und „den numinosen Menschen“ und „den späteren sittlich-religiösen oder göttlichen“ Menschen kennt (S. 15). Nun ist es nicht grundsätzlich illegitim, unter Berufung auf Eliade die Religionsgeschichte zu analysieren, aber wenn man Religions- und (in der Theologie betriebene) Christentumsgeschichte verbinden will, so wie Wolf es vorschlägt, muss man die Kritik an derartigen Konzepten in der Religionswissenschaft kennen. Dass sich die Religionswissenschaft im Übrigen mit einer unangestrengten Kooperation mit der Theologie schwertut, werden Kenner der Szene vielleicht (und zu Recht) einwenden, aber das wäre nur eine weitere Problemanzeige. Letztlich aber macht dieser Band mit seinen weitenteils höchst anregenden Beiträgen klar, dass eine kooperativ betriebene Religionsgeschichtsschreibung geboten ist. Eine Erforschung einer europäischen Religionsgeschichte ist ohne die kirchenhistorischen Kompetenzen auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen.

1 Wolf, Hubert, Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München, Beck 2013.

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