„Die Wohnungsfrage und alles, was man uns antut und über uns verhängt, ist zu grausam und schwer und kann ich nicht überleben. Liebe Rosa, habe vielen Dank für deine Pflege, leb wohl mit allen Lieben. Dort ist man besser wie hier. Ich halte es nicht mehr aus, wie man uns bedrückt. Verzeihe mir den Schritt!
Rica“1
Der Abschiedsbrief der schwer kranken, 72-jährigen Jüdin Rica Neuburger, welche sich aus Verzweiflung über die Repressionsmaßnahmen der Nationalsozialisten am 13. Oktober 1939 das Leben nahm, ist eines von insgesamt 320 Dokumenten, mit denen der hier rezensierte Band 3 der Reihe „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ die Geschichte der Shoah dokumentiert. Eindrücklich zeigen Dokumente wie dieses auf, wie mörderisch die antisemitische Politik des nationalsozialistischen Deutschland bereits zu Beginn des hier betrachteten Zeitraums zwischen September 1939 und September 1941 war – also noch bevor die Idee einer „Endlösung der Judenfrage“ im Sinne des systematischen Massenmords von der nationalsozialistischen Führung ausformuliert und umgesetzt wurde.
Der von Andrea Löw bearbeitete Band (VEJ 3)2 enthält nach einer 52-seitigen Einleitung im ersten Teil 234 Dokumente zur Entwicklung der Shoah im Deutschen Reich, während der anschließende, zweite Teil 86 weitere Quellen zum Protektorat Böhmen und Mähren dokumentiert, dabei nicht erst im September 1939, wie der Titel des Bandes aussagt, einsetzend, sondern vielmehr mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag im März 1939.
Täterdokumente wie Verordnungen, Anordnungen oder Denkschriften folgen auf Opferdokumente wie etwa Tagebuchaufzeichnungen, Briefe oder Schrifttum jüdischer Selbstverwaltungsorganisationen. Ergänzt werden diese Quellen um zahlreiche Berichte ausländischer Zeitungen sowie durch Zeugnisse von Menschen wie Justizinspektor und SPD-Mitglied Friedrich Kellner, der weder Täter noch Opfer des Holocaust war, aber als aufmerksamer deutscher Beobachter die Entrechtung der Juden wahrnahm und in seinen Tagebuchaufzeichnungen festhielt (Dokument 22). Somit zeigen die ausgewählten Dokumente immer auch wieder deutlich auf, was man im In- und Ausland über die Verfolgung der Juden wissen konnte, wenn man nur wissen wollte.
Durch den Kriegsausbruch waren den Juden wichtige Fluchtwege wie beispielsweise über Polen, Großbritannien oder Frankreich plötzlich verschlossen. Und je mehr sich der Krieg ausweitete, desto verzweifelter wurden die Bemühungen, den Verfolgungen doch noch irgendwie zu entrinnen: So zeigt beispielsweise Dokument 147, wie das Ehepaar Cohen aus Düsseldorf noch im Februar 1941 voller Hoffnung war, bald ein Ausreisevisum zu erhalten und Deutschland in Richtung USA verlassen zu können. Wenige Monate später, im August 1941, mussten sie ihren Kindern jedoch schreiben, dass die Ausreise wegen der kriegsbedingten Schließung der amerikanischen Konsulate sowie der Unmöglichkeit, den Absprunghafen Lissabon zu erreichen, mittlerweile unmöglich geworden war. Knapp ein Jahr später wurden die Eheleute Cohen im September 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet (Dokumente 147 und 211).
Die Dokumente des Bandes zeigen deutlich, wie hoch mitunter der Druck von der nationalsozialistischen Basis – aber auch von „einfachen“ Deutschen – war, die Juden schnellstmöglich aus dem Reich zu deportieren. So veranschaulicht zum Beispiel ein Stimmungsbericht der NSDAP-Kreisleitung Kitzingen-Gerolzhofen vom November 1939 (Dokument 9), wie die paranoide Vision einer existenziellen Gefahr durch das „Weltjudentum“ von einem Teil der Bevölkerung des Reiches verinnerlicht worden war – eine Paranoia, die mit Kriegsausbruch eine weitere Eskalation erfuhr, aus jedem Juden einen potenziellen Agenten und Saboteur konstruierte und sich aus Angst vor Sabotageakten in spontanen Übergriffen, vor allem aber in Forderungen an die NS-Führung nach „Lösungen“ entlud. Sie zeigen auch, wie durch den Krieg radikal-gewalttätige „Lösungen“ zunehmend denk- und machbar wurden und in den Überlegungen der NS-Führung die Idee einer – zunächst undefinierten – „Endlösung“ nun endgültig verbal artikuliert und etabliert wurde.
Weitere Dokumente beschäftigen sich mit den zunehmenden Bestrebungen, die Ausbeutung von Juden durch Zwangsarbeit zu forcieren, und dem Prozess, der schließlich zur Kennzeichnung aller Juden mit dem gelben Stern führte. Zahlreiche Quellen des Bandes belegen, wie die deutsche Führung trotz des Krieges noch lange aktiv an einer „territorialen Lösung“ der „Judenfrage“ arbeitete – bis hin zu dem weithin bekannten und schließlich gescheiterten Plan, die europäischen Juden nach Madagaskar zu deportieren. Leider hat es der „Madagaskarplan“ jedoch nicht in den systematischen Dokumentenindex geschafft, der auch sonst etwas grobmaschig aufgebaut ist und dadurch das zielgerichtete Suchen unnötig erschwert.
Die im zweiten Teil zum Protektorat Böhmen und Mähren versammelten Quellen zeigen, wie auch hier die Verfolgung der Juden dem Einmarsch der Wehrmacht auf dem Fuße folgte. Die Versuche, die Tschechen das „Judenproblem“ im Mai 1939 zunächst in Eigenregie „lösen“ zu lassen, werden dabei ebenso dokumentiert wie das Scheitern dieser Idee. Denn trotz einiger antisemitischer Übergriffe tschechischer Faschisten – welche der Band auch thematisiert – zeigte sich die tschechische Bevölkerung vielfach, und häufig offen, mit den verfolgten Juden solidarisch.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Auswahl der Quellen durchweg überzeugt. Insbesondere da, wo zu einem Sachverhalt sowohl Dokumente aus Täter als auch aus Opfersicht versammelt wurden, zeigt der Band – oft eindrücklicher als dies eine Darstellung zur Shoah je könnte – den zerstörerischen und mörderischen Charakter der nationalsozialistischen Judenpolitik auf.
Zwei kleine Kritikpunkte dürfen nicht unerwähnt bleiben. Der erste betrifft Ungenauigkeiten in der Einleitung. Dort heißt es zu Böhmen und Mähren: „Nach dem Münchner Abkommen wurde das tschechoslowakische Landesinnere von Flüchtlingen aus dem neu geschaffenen Sudetengau förmlich überrannt: Demokratisch gesinnte Sudetendeutsche suchten Zuflucht, vor allem aber Juden – bis zum Dezember 1938 mindestens 15.000.“ (S. 18) Abgesehen davon, dass die die größte Flüchtlingsgruppe im Zuge des „Münchner Abkommens“ von 1938 zunächst einmal rund 125.000 Tschechen und Slowaken waren, gefolgt von etwa 20.000 bis 25.000 (vornehmlich sozialdemokratischen) sudetendeutschen Henleingegnern3, stellt sich die Frage, warum mit der Qualifizierung „vor allem aber Juden“ eine Formulierung gewählt wurde, die einer wirklich unnötigen Opferkonkurrenz Vorschub leistet. Auch wurde die Sudetendeutsche Partei (SdP) nicht erst, wie behauptet, im Zuge des „Münchner Abkommens“ zur „dominanten deutschen Partei“ (S. 18) in der Tschechoslowakei, sondern war dies – je nach Sichtweise – entweder bereits seit den Kommunalwahlen von 1935, spätestens aber seit Anfang 1938.
Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf das fehlende Literaturverzeichnis. Will man sich die verwendete Literatur erschließen, muss man sich durch hunderte Fußnoten arbeiten. Das ist schade, zumal die Hilfsmittel ansonsten hervorragend und reichhaltig sind: Personen-, Orts- und Firmen/Institutionenregister, der systematische Dokumentenindex (mit der oben gemachten Einschränkung) sowie das umfangreiche Abkürzungsverzeichnis und das Glossar lassen kaum Wünsche offen und werfen die Frage auf, warum ausgerechnet am Literaturverzeichnis gespart wurde.
Anmerkungen:
1 Dokument 21 aus dem besprochenen Band.
2 Vgl. auch die Rezension des ersten Bandes von Susanne Willems: Aly, Götz; Gruner, Wolf; Heim, Susanne; Herbert, Ulrich; Kreikamp, Hans-Dieter; Möller, Horst; Pohl, Dieter; Weber, Hartmut (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 1: Deutsches Reich 1933–1937, bearb. von Wolf Gruner. München 2008, in: H-Soz-u-Kult, 06.06.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-158> (29.12.2013).
3 Den Forschungsstand fasst zusammen: Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Essen 1999, S.66f.