T. Bierschenk u.a. (Hrsg.): 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika

Cover
Titel
50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven


Herausgeber
Bierschenk, Thomas; Spies, Eva
Reihe
Mainzer Beiträge zur Afrikaforschung 29
Erschienen
Anzahl Seiten
572 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Heinze, Universität Bern

Der vorliegende Band versammelt Beiträge der Jahrestagung der Vereinigung der Afrikawissenschaften in Deutschland 2010, in dem sich das "Afrikajahr" 1960 zum fünfzigsten Mal jährte. 17 Staaten des Kontinents waren allein in diesem Jahr politisch unabhängig geworden. Der Nutzen des umfassenden Bandes liegt vor allem darin, eine Einführung in die mit dem Kontinent Afrika befasste aktuelle Forschung zu bieten. Vier Abschnitte umfassen jeweils Beiträge zu gesellschaftlichen Trends der afrikanischen Zeitgeschichte, zur Nationenbildung, zur politischen Ökonomie sowie zu Entwicklungen in Kunst, Literatur und Populärkultur. Drei Ausblicke auf die Zukunft schliessen den Band ab. Die Beiträge fragen insbesondere nach den Ebenen und Dimensionen, auf denen in der Zeitgeschichte Afrikas historische Kontinuitäten beziehungsweise Zäsuren oder Transformationen feststellbar sind. Dies ist nicht zuletzt deshalb relevant, weil die Periodisierung gerade der afrikanischen Geschichte in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts noch immer umstritten ist. Zu Recht verweisen Thomas Bierschenk und Eva Spies auf die „eher begrenzte“ Bedeutung des Jahres 1960 für eine solche Periodisierung, zumal die blutigen Dekolonisierungskriege des Südlichen Afrikas den Prozess der Dekolonisierung bis 1994 herauszögerten.

Viele Beiträge des Bandes relativieren die Bedeutung des formalen Unabhängigkeitsdatums, indem sie die Kontinuitäten zwischen der spätkolonialen Periode und zumindest den ersten Jahren postkolonialer Regierungen aufzeigen – die Dynamiken der Urbanisierung, Bildungspolitik und Medienentwicklung, wirtschaftliche Abhängigkeiten und kulturelle Phänomene haben ihre Ursprünge bereits in der Zeit vor 1960. Die Autor/innen zeigen überdies, dass diese Phänomene, die bereits seit längerem im Fokus der Forschung stehen, nicht einfach auf lineare Prozesse herunterzubrechen sind. So betont Hans-Peter Hahn, dass Migration auf dem Kontinent nicht allein vom Land in die Stadt, sondern auch von Stadt zu Stadt erfolgt. Auch innerstädtische Mobilität prägt die "urbanen Lebenswelten" von Afrikanern. Rose Marie Beck teilt die Stadtsprachen in „alte“, in vorkolonialen Handelsnetzwerken entstandene, und „neue“ postkoloniale Sprachen ein; letztere, erst seit den 1980er-Jahren auf dem Vormarsch, fungieren als Ausweis eines linguistischen Kosmopolitismus einerseits, in der Form von „Jugendsprachen“ als Abgrenzung von der Elterngeneration andererseits.

Stärker gemacht als die Unabhängigkeit um 1960 wird im Band dagegen der Bruch 1989/90, als ein oft als „zweite Unabhängigkeit“ oder „Second Wave of Democracy“ charakterisierter Zeitabschnitt eingeleitet wurde. Trotz politischer Liberalisierung und sozialer und kultureller Dynamik sei jedoch ökonomische Kontinuität feststellbar; daher werden es, so das Herausgeberduo, „weniger politische und wirtschaftliche Entwicklungen sein […] als vielmehr die gesellschaftlichen und kulturellen Trends, die Afrika eine Möglichkeit zu positiven Veränderungen bieten.“ (S. 11) Diese sollten „produktiv (auch im ökonomischen Sinne)“ (S. 11) genutzt werden.

Die nationalökonomischen Entwicklungen werden im Band von Helmut Asche dargestellt, der die Jahre 1973/74 (Ölkrise) sowie den Beginn der 1980er-Jahre (Beginn der Strukturanpassungsprogramme) in die Periodisierung einführt. Er kann zeigen, wie stark diese Jahre aus wirtschaftlicher Perspektive Brüche markierten. Es wäre hier allerdings zu fragen, inwieweit diese Brüche auf den sozialen Alltag und die politischen Systeme durchschlugen. Welche Bedeutung hatten etwa die weitverbreiteten Formen des so genannten ‚informellen’ Wirtschaftens? Informelle Ökonomien existierten bereits vor der Unabhängigkeit, auch wenn ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt in der Folge der Krise der 1970er und 1980er-Jahre sicher zugenommen hat. Die makrohistorische Periodisierung müsste durch Analysen des ökonomischen Alltags ergänzt werden, so wie es Thomas Bierschenk in seinem Beitrag zum bürokratischen Alltag für den Staat tut. Dabei hinterfragt er Theorien über den afrikanischen Staat, die nach einem „passe-partout“ für das Verständnis des spezifischen Idealtypus des „afrikanischen Staats“ suchten, indem er seine Analyse ‚von unten’, vom „arbeitenden Staat“ her anlegt.

Um diese von Bierschenk aufgewiesene Perspektive wäre auch der Beitrag von Ute Ruppert und Dörte Rompel zum Verhältnis der Frauen und ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Staat zu erweitern. Die Autorinnen beschränken sich auf eine Dichotomie von Zivilgesellschaft (reduziert auf NGOs) und Staat, auch wenn sie deren Verhältnis als dynamisch, uneindeutig und komplex darstellen. Sie teilen zwar die in der Einführung des Bandes formulierte Kritik, dass die Debatte um zivilgesellschaftliche Themen wie Frauenrechte von internationalen Organisationen und damit einem „westlichen Diskurs“ überformt ist, betonen aber den Austausch und die lokale Aneignung der aus diesem Diskurs stammenden Normen. Einige der Aufsätze könnten schließlich durch eine Kontrastierung gewinnen, um Widersprüche produktiv zu machen. So stellt sich beispielsweise bei einer Lektüre des Beitrags von Carola Lentz zu den Jubiläumsfeiern als „Erinnerungsorten“ der Nation die Frage, warum die im Kontext dieser Feiern stattfindenden Debatten über die Nation so sehr an einzelne (männliche) Führungsfiguren gebunden sind. Und diese Frage könnte vielleicht mit der von Andrea Behrends und Julia Pauli vorgeschlagenen Analyse der Rolle von Eliten in den postkolonialen Nationen verbunden werden. Anita Oeds lesenswerter Überblick über afrikanische Literatur und die Forschung dazu würde von einer ökonomischen Perspektive profitieren: Wie beeinflussen auf die alten Metropolen bezogene Verlagssysteme afrikanische Literatur? Oed legt den Schwerpunkt dagegen auf die Frage der Rolle der Literatur in der Nation – hier ergänzt der Text die vorhergehenden Ausführungen von Lenz und Fricke.

Insgesamt bleibt der Band stark auf Nationen als Bezugsrahmen beschränkt, auch wenn meist aus vergleichender Perspektive und unter Berücksichtigung transnationaler Trends im sub-saharischen Afrika. Zudem bildet Westafrika den regionalen Schwerpunkt, in dem die meisten verwendeten Fallbeispiele angesiedelt sind. Aber gerade die in der Einleitung vorgenommene Betonung auf die besondere Bedeutung von 1989/90 als Zäsur wirft die Frage auf, inwieweit die analysierten Prozesse mit globalen Prozessen zusammenhängen. Der Optimismus von Carlos Lopes' Beitrag über die Rolle afrikanischer Staaten auf der internationalen Bühne wird allerdings vor dem Hintergrund vieler anderer Beiträge einzuschränken sein. Leider fehlt eine Analyse der Bedeutung globaler, meist im Westen ansässiger Nachrichtenagenturen (mit der wichtigen Ausnahme der staatlichen chinesischen Xinhua) für die – im vorliegenden Band von Thilo Grätz umfassend dargestellte – Medienlandschaft südlich der Sahara.

„50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika“ präsentiert in vielfältigen Perspektiven einen ausführlichen Überblick über die aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Afrikaforschung; gleichzeitig historisieren viele Beiträge die Forschung selbst. Neben einigen deskriptiven Abschnitten, welche die politischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen des Kontinents zusammenfassen, stellen die meisten Beiträge auch, oft anhand konkreter Fallbeispiele, die wichtigsten theoretischen Konzepte und Methoden vor, mit denen in der afrikabezogenen Forschung gegenwärtig gearbeitet wird. Abgeschlossen wird der Band von Patrick Nganang mit einem Entwurf einer politischen Philosophie des zeitgenössischen Afrikas, der auf die Grundsätze der Redefreiheit, der Autonomie und der Souveränität gründet. Diese Souveränität nahm, so der Autor, erst nach 1990 den Charakter einer vitae potestas an, eines Rechts zu leben. Vorher habe das Recht zu töten die unabhängigen Staaten definiert. Damit werden in diesem Beitrag die – durchaus weiter zu diskutierenden – politisch-philosophischen Konsequenzen aus den vorhergehenden empirisch-analytischen Studien gezogen.

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