C. A. Tuczay: Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei

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Titel
Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei.


Autor(en)
Tuczay, Christa Agnes
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 371 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Grünbart, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Neugierig wendet sich der Rezensent diesem Buch zu, das verspricht, eine Kulturgeschichte der Wahrsagerei im Mittelalter zu bieten. Bislang existieren nach den grundlegenden Werken von Marie Theres Fögen, David Potter oder Almuth Lotz1 wenige Untersuchungen zu dieser Thematik für die Zeit nach der Spätantike, wenn man von dem Überblick durch Kocku von Stuckrad und der Studie von Gerd Mentgen absieht.2 Durch einen Blick in die westliche Mediävistik oder germanistische Mediävistik erhofft man sich, Anregungen und Einsichten für das griechische Mittelalter zu gewinnen, denn einzig Paul Magdalino bemühte sich in den letzten Jahren um die Aufarbeitung der Geheimwissenschaften in Byzanz.3

Der Zeitrahmen „Mittelalter“ wird in der hier zu besprechenden Abhandlung nicht genauer definiert. Man findet noch Beispiele und Texte zur Praxis der Wahrsagerei aus dem 16. (S. 110, 240) und 17. Jahrhundert (S. 241), eine Abgrenzung zur Antike findet explizit nicht statt. In dem knappen Forschungsüberblick (S. 1–5) wird darauf hingewiesen, dass „Botschaftsempfänger und Botschaftssender in den Blick genommen“ (S. 4) werden sowie der „offizielle und inoffizielle Rahmen, in der <sic!> vielfältigen Interaktionen stattfinden“. Im zweiten Teil sollen die Einzelkünste und ihre Kontextualisierungen betrachtet werden (S. 5). Man blättert zu Kapitel II weiter („Einleitung“, S. 7–10), wo die Begriffe „Experte“ und „Zukunftsprognose“ eingeführt sowie die Kommunikationskanäle zwischen Divinem und Humanem abgesteckt werden (Traum, Orakel, Omen). Ein Unterschied zur Antike bestünde darin, dass es im Mittelalter „institutionalisierte Wahrsagerei“ nicht gab (S. 10). In Kapitel III steht der Rückblick auf die Antike im Mittelpunkt, der umfangreich – auch durch die großzügig eingestreuten Übersetzungspassagen – ausgefallen ist (S. 11–49). Unterteilt wird der Abschnitt in: „A. Der Mantis“, „B. Wahrsagegeister“, „C. Institutionalisierte Orakel“, „D. Bauchrednerinnen“, „E. Sibyllen“ und „F. Veleda, spakona und seiðkona“. In Kapitel IV geht es um Kontinuität und Wandel in der mittelalterlichen Mantik (S. 51–83). Es werden einerseits theologische Literatur und andererseits die wahrsagenden Akteure (so Kapitel „D. Wandernde Wahrsager“) behandelt, um dann in Kapitel V mantische Einzelkünste des Mittelalters en detail zu behandeln (S. 85–319).

Was hierbei auffällt ist, dass nach wie vor die Antike, die ja eigentlich in Kapitel III gehörte, einen nicht zu übersehenden Raum einnimmt. Ein Beispiel: In Unterkapitel V 3a) geht es um Augurium und Ornithomantie, also Zeichenlesen mittels Tierbewegungen oder -formen. Der Vogelflug ist in der römischen Antike gut belegt und die Nachricht bei Tacitus von den vogeldeutenden Germanen führt flugs zur Sagaliteratur und mittellateinischen Schriften, wobei nicht versucht wird, historiographisches Material miteinzubeziehen: Hatten derartige Praktiken noch aktuelle Akzeptanz und Relevanz (wie im byzantinischen Bereich, wo man zahlreiche Beispiele von Deutungen des Verhaltens von Tieren findet)? Dem Leser fällt spätestens hier auf, dass ständig zwischen historischen Epochen unbekümmert gewechselt wird, ohne ein Wort auf Kontinuitäten/Traditionsbrüche verwendet zu finden. Sicher rekurrieren mittelalterliche Gelehrte und Experten auf antikes Wissen, doch stehen die Belege meist unkommentiert nebeneinander. Und: Kontextualisierung soll nicht nur auf Texte bezogen werden. Die eingangs proklamierte Einbeziehung der Handlungsrahmen findet selten statt.

Ähnliches passiert im folgenden Abschnitt zur Hippomantie (S. 123–125) – ist die westliche Überlieferung so dünn?4 Byzantinische Beispiele ließen sich zu Hauf anführen, aber auch ein beiläufiger Blick in Einhards Vita Karoli Magni bringt solche zu Tage (besonders ergiebig ist Kapitel 32).5 Nun kommt der Verdacht auf, dass alle Möglichkeiten des Wahrsagens – einmal begonnen – listenartig abgehandelt werden müssen, auch wenn die mittelalterliche Quellenüberlieferung dazu weitestgehend schweigt. So wird bei der Eingeweideschau das Mittelalter mehr oder weniger ausgeblendet – zitiert wird nach dem Hinweis auf Isidor von Sevilla eine Abhandlung von Anhorn aus dem 17. Jahrhundert. In Kapitel C.4. („Becherwahrsagung oder Kylikomantie“) wird auf Genesis 44,5 verwiesen und dann als ‚mittelalterliche‘ Referenz Athanasius Kircher (1602–1680) angeführt. Aus dem griechischen Osten lassen sich zu diesem Themenkomplex – Lekanomantie – einige Beispiele beibringen (etwa das Namenlesen aus der mit Wasser gefüllten Schale: Andronikos I. Komnenos [1183–1185] setzte auf die Lekanomantie, da er wissen wollte, wer sein Nachfolger würde und wann dieser sich zeigte6).

Eine interessante schriftliche Gattung sind die mittelalterlichen Traumbücher (S. 268f.), ihre Verwendung „setzt allerdings die Kunst des Lesens voraus, was für das Mittelalter nicht gerade wenig war“ (S. 269). Hier müsste man klären, wie Rezeption von Texten in einer bestimmten Epoche funktioniert – die zitierte Aussage greift zu kurz –, wenn Traumbücher sogar kirchlichen Männern zugeschrieben werden, dann muss die Frage anders gestellt werden: Wer besaß die Kompetenz sowie die Hilfsmittel und die Erlaubnis, Träume zu deuten? Wer konnte Visionen übersetzen? Durfte der Klerus mit Wahrsagerei und Prophetie in Berührung kommen? Wie steht es mit dem Vorbild der alttestamentlichen Propheten? Bei den Traumbüchern (S. 251) – der byzantinische Patriarch ist übrigens Nikephoros (wahrscheinlich der I.) – sollte unbedingt auf die Übersetzung mittelgriechischer Traumbücher von Karl Brackertz hingewiesen werden.7

Was die Lektüre des Buches neben der Kumulation von Informationen erschwert, sind bizarre Namensformen und Unsicherheiten in der Wiedergabe antiker Autoren.8 Regelmäßig stößt man auf Druckfehler.9 Daneben befremden – besonders im Schlusswort – die Inkongruenzen im Satzbau.10 Bei der Fülle der verwendeten Literatur kann es natürlich zu Lücken kommen: S. 255 darf Leopold Kretzenbacher, Griechische Reiterheilige als Gefangenenretter. Bilder zu mittelalterlichen Legenden um Georgios, Demetrios und Nikolaos, Wien 1983, nicht fehlen. Von Franz Dornseiff sollte sein Standardwerk „Das Alphabet in Mystik und Magie“, Leipzig 1925, konsultiert werden.

In der Zusammenfassung wird wieder auf das Bedürfnis der Menschen hingewiesen, übernatürliche Mächte zu konsultieren, „um richtige Entscheidungen treffen zu können“ – Fallbeispiele (wie auf S. 162 die Bäckerinnung von Löwenburg – allerdings anno 1589) vermisst man fast das ganze Buch hindurch, da nur antikes Wissen, deutsche und mittellateinische Literatur enzyklopädisch versammelt werden, die literarische Rezeption klassischer Autoren vorausgesetzt wird, aber bei allen Praktiken zu wenig auf den Sitz im Leben geachtet wird. Fazit: Das Buch wird der geweckten Erwartung, Material zu gelebter Wahrsagerei im Mittelalter zu finden, nicht gerecht. Man wünschte sich mehr zu erfahren über die Hofastrologen, die sich „im geschützten Bereich befanden“ (S. 324), die „Spezialisten“ (S. 323) oder den eingangs beschworenen Kontext. In welchem Umfeld durften und konnten diese Akteure wirken (siehe S. 240f., wiederum Personen aus dem 16/17. Jahrhundert), was war geduldet, wo übertraten sie die Grenze zum Unerlaubten, zu schwarzen Praktiken?

Die Kompilation oft weit auseinanderliegenden Materials und die Präsentation in Handbuchstil erschweren dem Rezipienten die Orientierung und die Verfolgung eines roten Fadens. Wenn man die Wahrsagepraktiken im Westen mit denen im byzantinischen Mittelalter vergleicht, dann ist man ernüchtert über die wenig konkreten Hinweise (vage und nebenbei wird zum Beispiel auf Karl den Großen, S. 125, oder auf Friedrich Barbarossas Ende, S. 265, Bezug genommen), doch scheint es dem Rezensenten, dass nicht systematisch danach gesucht wurde. Für die Deutung der Wahrsagerei im historischen Kontext bleibt also noch viel Spielraum.

Anmerkungen:
1 Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt am Main 1993; David Potter, Prophets and Emperors. Human and Divine Authority from Augustus to Theodosius, Cambridge, Mass. / London 1994; Almuth Lotz, Der Magiekonflikt in der Spätantike, Bonn 2005.
2 Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003 (Byzanz spielt dort keine Rolle); Gerd Mentgen, Astrologie und Öffentlichkeit im Mittelalter, Stuttgart 2005.
3 Paul Magdalino, L‘orthodoxie des astrologues. La science entre le dogme et la divination à Byzance (VIIe – XIVe siècle), Paris 2006; Paul Magdalino / Maria Mavroudi, The Occult Sciences in Byzantium, Genf 2007.
4 Siehe Ioannes Aloysius van Dieten (Hrsg.), Nicetae Choniatae historia, Berlin 1975, S. 339,10–341,64 deutsche Übersetzung bei Franz Grabler, Abenteurer auf dem Kaiserthron, die Regierungszeit der Kaiser Alexios II., Andronikos und Isaak Angelos (1180–1195) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, Graz/Wien ²1971, S. 138f.
5 Zur symbolischen Bedeutung des Schimmels siehe Martin Kintzinger, Der weiße Reiter. Formen internationaler Politik im Spätmittelalter, Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 315–353 sowie Georg Jostkleigrewe, Noch ein weißer Reiter? Zwei Kaiserbesuche in Paris. Zur Funktion eines politischen Symbols im Spannungsfeld von diplomatischer Inszenierung, juristischer Fiktion und kultureller Differenz, in: Ingrid Bennewitz (Hrsg.), Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 1. bis 5. März 2009 in Bamberg, Berlin 2011, Bd. 1, S. 919–932.
6 Einhard. Vita Karoli Magni / Das Leben Karls des Großen. Lateinisch/Deutsch, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow, Stuttgart 1996, S. 59–61 (Himmelserscheinungen, Hippomantie, Geräusche im Gebälk, Buchstabenzauber).
7 Karl Brackertz, Die Volks-Traumbücher des byzantinischen Mittelalters, München 1993. Zur Traumforschung siehe jetzt den Sammelband Steven M. Oberhelman (Hrsg.), Dreams, Healing, and Medicine in Greece. From Antiquity to the Present, Farnham 2013.
8 Fn. 579 „Europides“ statt Euripides, Porphyrius wird zu „Porphyros“ (S. 262), Fn. 605 „Nikodros von Kolophon“ gibt es nicht (wohl für Nikandros), „Nekephoros“ und „Kiephoros“ stehen für Nikephoros (S. 269). „Artimedor“ für Artemidor (S. 271), „Achmet bei Sirin“ für Achmet ben Sirin, der Oneirocritica und nicht „Oneirociritica“ verfasst hat (S. 271), „Stius“ muss Statius sein (S. 296), „Silius Talicus“ lässt sich unschwer in Silius Italicus verbessern (S. 296), „Valerius Falccus“ (für Flaccus) ist in der Antike unbekannt, „Lukan“ ist Lukian S. 300; auf S. 30 ist nicht „Hadrian“ sondern Julian gemeint, der dem Heidentum eine letzte Renaissance gewährte. S. 189 drei Mal „Kudlen“ für den Altphilologen Kudlien.
9 Zum Beispiel S. 182: „Aectryomantie“; S. 268 Fn. 664: „Mueseum“; S. 295: „Gurppe“; ebd.: „Polymath“ (gibt es im Deutschen nicht).
10 S. 321: „kommt Eigenwille und Eigenentscheidung“; S. 322: „Die Vielfalt ... der Fragen reichten“; ebd.: „Ekstatische Gotterfülltheit und Geistbesessenheit prägte“.