L. Budraß u.a. (Hrsg.): Industrialisierung und Nationalisierung

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Titel
Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Budraß, Lutz; Kalinowska-Wójcik, Barbara; Michalczyk, Andrzej
Reihe
Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte des östlichen Europa 40
Erschienen
Anzahl Seiten
372 S., Abb.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Müller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Der Band ist das Ergebnis von zwei Konferenzen, die 2008 und 2009 in Bochum und Kattowitz stattfanden. Die durch den Titel geweckten Erwartungen können nur teilweise erfüllt werden. Über die eigentliche Industrialisierung erfährt man nicht viel Neues. Das ist aus wirtschaftshistorischer Sicht bedauerlich, da es in diesem Bereich durchaus noch etliche Forschungsdesiderata gibt. So ergibt sich aus der Perspektive der deutschen Forschungen zur regionalen Industrialisierung trotz einiger meist im Umfeld Toni Pierenkempers erschienener Arbeiten nach wie vor ein Ungleichgewicht der Kenntnisse über die montanindustriellen Führungsregionen. Zwar ist generell bekannt, dass Oberschlesien insbesondere gegenüber dem Ruhrgebiet aufgrund der ungünstigeren Lage zu Rohstoffen – seit den 1890er-Jahren musste Erz aus Schweden importiert werden – und Absatzmärkten sowie der geringeren Anwendung moderner Technologie – also etwa des Thomas- und des Bessemer-Verfahrens – an Bedeutung verlor. Aber nicht zufällig werden in dem Buch gerade über die Entwicklung Oberschlesiens während der Periode der so genannten „zweiten Industrialisierung“ sehr unterschiedliche Einschätzungen getroffen. So heißt es bei Stefanie van de Kerkhof: „Nach der Gründerkrise stagnierten Steinkohlenförderung und Roheisenproduktion in Oberschlesien“ (S. 148). Demgegenüber betont Harald Wixforth, dass „die Gründung schwerindustrieller Unternehmen während des 19. Jahrhunderts, vor allem während des Deutschen Kaiserreiches erheblich“ zunahm (S. 194). Über andere Industriezweige und die nicht zum Revier gehörenden Gebiete Oberschlesiens gibt es ohnehin nur einige lokal orientierte Studien polnischer Historiker. Es besteht also durchaus weiterer Forschungsbedarf im Bereich der Industrialisierungsgeschichte Oberschlesiens.

Im vorliegenden Band steuert Sebastian Rosenbaum einige Fakten zur wirtschaftlichen Entwicklung von Tarnowitz bei. Ergiebiger ist der Beitrag von Barbara Kalinowska-Wójcik über den Kreis Pless. Die widersprüchliche Wirkung der Magnaten im Industrialisierungsprozess hätte hier allerdings noch deutlicher gemacht werden können. Eine in der Tat „merkwürdig unterbelichtete“ (S. 149) Fragestellung behandelt Stefanie van de Kerkhof in ihrem Beitrag über „Transnationale Kooperation oder national motivierte Expansion? Die schwerindustriellen Interessenverbände bis zur Teilung Oberschlesiens“. Hier wird die Entwicklung und Ausrichtung der verschiedenen oberschlesischen Interessenverbände vor dem Hintergrund der jeweiligen Ziele analysiert und gezeigt, dass es erhebliche Unterschiede zu den westdeutsch dominierten Pendants gab. Inwieweit die transnationalen Bestrebungen jedoch über die Direktinvestitionen in der Montanindustrie des Königreichs Polen und das Eintreten für eine gemäßigte Zollpolitik gegenüber Russland hinausgingen, ob also etwa der Verein der Eisenhüttenleute Oberschlesiens tatsächlich auch Mitglieder aus dem russisch-polnischen und mährisch-schlesischen Hüttenrevier hatte, erfahren wir leider nicht.

Die anderen wirtschaftshistorischen Beiträge beschäftigen sich nicht mit der Industrialisierung Oberschlesiens, sondern mit den Auswirkungen der deutsch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Region. Piotr Greiner gibt einen konzisen Überblick über die wirtschaftlichen Folgen der Teilung Oberschlesiens von 1922 für beide Seiten der Grenze. Harald Wixforth beschäftigt sich mit dem starken Einfluss der Politik auf die Tätigkeit der deutschen Banken im polnischen Teil Oberschlesiens. Durch das Genfer Abkommen von 1922 hatten diese die Möglichkeit erhalten, ihre Filialen in Kattowitz und anderen, nunmehr polnischen Städten 15 Jahre lang fortzuführen. Das Ringen um eine Nachfolgeregelung fand nicht nur zwischen der polnischen und deutschen Regierung, sondern auch zwischen verschiedenen Institutionen des NS-Regimes, insbesondere dem Auswärtigen Amt und dem Reichswirtschaftsministerium, statt. Helmut Maier schildert die Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft und zeigt, dass die Potenziale beider Teile Oberschlesiens aus verschiedenen Gründen nicht optimal genutzt wurden.

Über den im zweiten Teil des Buchtitels genannten Prozess, also die „Nationalisierung“, enthält der Band eine ganze Reihe von interessanten Erkenntnissen. Zunächst gibt es den klaren, hier an vielen Beispielen demonstrierten Befund, dass die Nationalisierung der oberschlesischen Gesellschaft relativ spät erfolgte und auch wesentlich instabiler war als in den benachbarten Regionen. Nationale Identitäten genossen eben in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Stellenwerte. Regionale Herkunft, ökonomische Rationalität, berufliche Qualifikationen erwiesen sich auch im 20. Jahrhundert oft als wesentlich handlungsrelevanter. Dies belegt insbesondere der Beitrag von Lutz Budraß über die Oberschlesier in Bottrop, der geradezu beispielhaft verschiedene Migrationsmuster aufzeigt. Aber auch die Aufsätze über lokale „Wir-Gruppen“ und „Hiesige“ in Oberschlesien (Nawrocki, Kloch, Ploch) während der sozialistischen Zeit bzw. Oberschlesier in der Bundesrepublik (ebenfalls Ploch) behandeln Wandel und Beharrungskraft von Identitäten und Stereotypen.

Insgesamt liefert der Band außerdem zahlreiche Indizien für die These einer Revitalisierung des Religiösen, wobei eben in Oberschlesien das katholische Bekenntnis viel häufiger mit der nationalen Identität konkurrierte als in (anderen) polnischen Regionen und der katholische Klerus gegen den Nationalismus beider Seiten auftrat. So widersetzten sich die Einwohner in Bielschowitz, die kurz zuvor mit deutlicher Mehrheit für ihre Zugehörigkeit zum polnischen Staat gestimmt hatten, im Jahre 1923 gegen die Abberufung ihres deutschen Pfarrers. Auch ihr Wahlverhalten orientierte sich nur ausnahmsweise an den nationalpolitischen Lagern, sondern war meist Ausdruck sozialer Interessen (Michalczyk, S. 31–35). Die Instabilitäten nationaler Identitäten werden auch dadurch deutlich, dass im östlichen Oberschlesien die Polonisierungspolitik des Woiwoden Grażyński seit 1926 einen deutlichen Rückgang des öffentlichen Bekenntnisses zur deutschen Nationalität und Kultur bewirkte. Unter der deutschen Besatzung nach 1939 gab es wiederum außerordentlich elementare Motive, um sich selbst als „Deutscher“ zu deklarieren oder zumindest in die Gruppe 3 der Deutschen Volksliste aufgenommen zu werden. Nach 1945 knüpften die Kommunisten aufgrund ihres mangelnden Rückhaltes in der Bevölkerung an Grażyńskis Nationalismus an, wodurch sich für Oberschlesier mit einem polnisch-nationalen Bekenntnis bis etwa 1950 durchaus Chancen eröffneten, in die Elite des neuen Staates (wieder-)aufzusteigen, wie Bernard Linek im Gegensatz zu älteren Thesen eines radikaleren und raschen Elitenwechsels konstatiert.

Die angeführten Belege zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Nationalisierung durchaus nicht so eindeutig ist, wie es die Nationalismusforschung normalerweise postuliert. Diese geht gewöhnlich davon aus, dass die mit der Industrialisierung einhergehenden Prozesse der Marktintegration zur Konstituierung von Nationen beigetragen haben. Sie sieht in stärker urbanisierten Gesellschaften eine deutlichere Tendenz zu überlokaler Identität. Und sie betont gerade mit Bezug auf das multiethnische Ostmitteleuropa, dass die mit der Modernisierung verbundene höhere soziale Mobilität auch der „non-dominant ethnic groups“ zu einer Stärkung nationaler Bewegungen führt. Vor diesem Hintergrund ist es schon erstaunlich, dass die nationale Segregation im ländlichen Großpolen viel stärker ausgeprägt war als in Oberschlesien. Andrzej Michalczyk konstatiert jedenfalls in seinem einleitenden Beitrag, dass auch in Oberschlesien die Industrialisierung die Kenntnis einer standardisierten Sprache sowie die Mobilität gefördert habe. Dennoch brachte erst der Kulturkampf eine erste politische Mobilisierung hervor, der Nationalitätenkonflikt brach erst nach 1900 aus, und eine eigentliche Massenpolitisierung setzte erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ein. Die Korrelation zwischen Industrialisierung und Nationalisierung scheint in Oberschlesien sogar negativ gewesen zu sein.

Eine verblüffend einfache Erklärung dafür liefert Harald Wixforth, der eher en passant bemerkt, die wirtschaftliche Prosperität habe ethnische Konflikte eingedämmt (S. 195). Bernard Linek zeigt, wie die Verlegung des Borsig-Stahlwerkes inklusive 130 Berliner Arbeiterfamilien von Moabit nach Biskupitz in den 1860er-Jahren zunächst zwei parallele Gesellschaften schuf, dann aber doch überkonfessionelle und übernationale Vereine entstanden. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges konkurrierten hier drei „kulturelle Angebote“, ohne dass bereits eines davon dominant geworden wäre (S. 77). Der preußische Staat und die deutschen Liberalen strebten eine kulturelle Einheit auf der Grundlage der deutschen Sprache an, das Zentrum wollte ein Nebeneinander von deutscher Hoch- und polnischer Subkultur, die Zeitschrift „Katolik“ näherte sich der polnischen Nationalbewegung an, deren Einfluss freilich der relativ geringste war. Offenbar verringerten auch die im Falle Oberschlesiens sehr vielfältigen Formen der Immigration nationalistische Segregationstendenzen.

Alles in allem stellt also Oberschlesien ein sehr geeignetes Beispiel dar, um das Potenzial einer Mischung von kultur-, sozial- und wirtschaftshistorischen Ansätzen für die Revision gängiger Interpretationsschemen aufzuzeigen. Dies wird in dem Band zwar zu selten explizit auf den Punkt gebracht, aber doch an vielen Stellen angedeutet, was für die eine oder andere nicht erfüllte Erwartung entschädigt.

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