Klanggeschichte hat Konjunktur.1 In der Erforschung der akustischen Dimension der Geschichte spielt der Begriff der „soundscape“ eine Schlüsselrolle. Geprägt vom kanadischen Komponisten und Klangökologen Raymond Murray Schafer verweist der Terminus in Analogie zu „landscape“ auf die Gesamtheit des Hörbaren und Gehörten in einer sozialen Umwelt. Soundscapes sind strukturierte Klangräume, sie entstehen durch die kulturelle und gesellschaftliche Produktion von akustischer Wahrnehmung und strukturieren diese wiederum selbst.2 Versuche, historische Soundscapes zu analysieren, sehen sich mit dem nicht umgehbaren Problem konfrontiert, dass die Klangumwelten selbst als Gegenstand nicht direkt erfahrbar sind, sondern über verschiedene Medialisierungen, vornehmlich über textuelle Quellen, vermittelt werden. Der vorliegende Sammelband nimmt sich dieses Problems auf methodisch innovative Weise an.
Auf Seite 25 des anzuzeigenden Bandes ist eine Ansicht des Amsterdamer Hauptplatzes Dam des niederländischen Malers George Hendrik Breitner aus dem Jahr 1898 mit der beeindruckenden Fassade der Nieuwe Kerk und drei Pferdetrams im Bildvordergrund abgebildet. Das Cover des Buches wiederholt diese Ansicht als Fotografie aus dem Jahr 2012. Auch hier sind (etwas weniger) Passanten vor der Kirche zu erkennen, und auch hier queren Straßenbahnen den Platz – diesmal moderne Niederflurtriebwagen. Die Herausgeberin Karin Bijsterveld fordert den Leser und die Leserin auf, kurz über die visuelle Medialisierung der Amsterdamer Klanglandschaft zwischen dem späten 19. und dem frühen 21. Jahrhundert nachzudenken: „What do you think: was it more silent back then? Or should we listen to the sounds as mediated by our cultural heritage rather differently?“ (S. 24) Der Band, dem diese Differenz die Leitfrage vorgibt, bricht mit dem klanghistorischen Klischee der Historiografie, früher, das heißt vor der Verkehrsrevolution Anfang des 20. Jahrhunderts, sei es insgesamt leiser gewesen. Zumindest aber seien vergangene Stadträume als „Hi-fi-soundscapes“ (R. Murray Schafer) charakterisiert gewesen, in denen durch ein geringes Grundrauschen einzelne sinntragende akustische Signale besser hörbar und damit bedeutungsvoller gewesen seien.
Dieser traditionellen Perspektive, die antritt zu ergründen, wie es eigentlich geklungen, setzt der Band einen methodischen Ansatz entgegen, der „rather differently“ auf die „soundscapes of the urban past“ lauscht. Karin Bijsterveld entwirft ein analytisches Modell, das weniger die Klänge der Stadt selbst zum Gegenstand der historischen Rekonstruktion macht, sondern vielmehr ein „staging and dramatization of sound“ (S. 13). Klänge, so die Prämisse, werden nur als Klangerfahrungen, als gehörte Klänge also, zum Gegenstand historischer Forschung. Diese wiederum sind nur durch konventionalisierte Narrative („dramatizations“, „stagings“) kommunizierbar. Erst diese ermöglichen, systemtheoretisch gesprochen, Anschlusskommunikation und erzeugen den sozialen Sinn städtischer Klanglandschaften.
Bijsterveld und die Autorinnen und Autoren des Bandes gehen in der Analyse solcher „stagings“ noch einen entscheidenden Schritt weiter. Sie vertreten die These, dass im Prozess der Dramatisierung von Klängen und Klangerfahrungen im urbanen Raum historisch variable Medien eine entscheidende Rolle spielen. Für das 20. Jahrhundert, das im Zentrum des Bandes steht, sind diese Medien klar benennbar: „[O]ur imagination of such soundscapes has been nourished by the soundtracks the makers of radio plays and films created for their productions.“ (S. 14) Diese Annahme hat weitreichende methodische Folgen. Sie eröffnet die Möglichkeit des Vergleichs von Dramatisierungen urbaner sounds über Mediengrenzen hinweg und sensibilisiert zugleich für die medialen Spezifika der Repräsentationen. Vor allem wird der Quellenwert fiktionaler Medien für die Rekonstruktion verklungener Soundscapes entscheidend erhöht: „We have therefore treated documents referring to putative historical realities on the same plane as media expressing fictional realities, by focusing on the repertoires of dramatizing sound they had in common, while also being open to the genre-specific differences in such repertoires.“ (S. 15) Die Verschaltung fiktionaler und nicht-fiktionaler Quellen ermöglicht einen systematischen Blick auf mediale Aneignungen urbaner Klanglandschaften in der Geschichte. Es zeigt sich, dass mit dem Konzept des „stagings“ aufschlussreiche Verbindungslinien zwischen literarischen, filmischen und radiophonen Repräsentationen städtischer sounds auf der einen Seite und Selbstzeugnissen, Petitionen oder Reiseberichten auf der anderen Seite gezogen werden können.
So demonstrieren Karin Bijsterveld, Annelies Jacobs, Jasper Aalbers und Andreas Fickers in einem mitunter etwas verwirrend multiperspektiven Essay über Amsterdam, London und Berlin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass sich die klangliche Identität dieser Städte in spezifischen, analytisch isolierbaren Dramatisierungsstrategien auffinden lässt: „the urban arrival scene, showing the daily rhythm of urban life, juxtaposing the soundscapes of different neighbourhoods within one city, and contrasting the soundscapes of the present, past and future.“ (S. 59) Obwohl diese Taxonomie in aller ihrer Allgemeinheit durchaus einleuchtet, bleiben die genauen Rückkoppungen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion meist im Dunkeln, können eher rhetorisch nahegelegt als konkret nachgewiesen werden.
Deutlicher noch zeigt sich dieses Problem in einem anderen Text desselben Autorenteams zur Intermedialität des Klangs zwischen Text, Radio und Film am Beispiel verschiedener Adaptationen von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ zwischen 1929 und 2007. Die Argumentation changiert hier zwischen der Betonung des Akustischen als Medium der Darstellung von Urbanität als solcher und der Analyse der spezifischen Medialität des Akustischen in Literatur, Radio, Film und Fernsehen. Intermedialität erscheint hier in eher trivialem Sinne als Transposition einer medialen Konfiguration (Roman) in verschiedene andere (Hörspiel, Film, Fernsehserie), aber auch als Konstruktionsprinzip des literarischen Urtexts selbst (Döblins sogenannter „Kinostil“). Es ist ein Verdienst der Autoren, herauszuarbeiten, dass die spezifisch akustische Qualität des Urbanen paradoxerweise am ehesten im Roman selbst hervortritt, während die mediale Eigenlogik vor allem von Film und Fernsehen durch Konzentration auf die subjektive Erfahrung des Protagonisten Franz Biberkopf die Stadt als akustischen Akteur in den Hintergrund treten lässt. So interessant diese Ergebnisse für sich genommen auch sein mögen, der Anspruch mittels eines „intermedial historiographical approach“ (S. 81) mehr über die Aneignungen Berlins als Klanglandschaft im 20. Jahrhunderts in Erfahrung zu bringen, wird durch eine reine Gegenüberstellung verschiedener Formen von Fiktionen kaum eingelöst.
Dass eine solche historische Grundierung von Dramatisierungen und „stagings“ möglicherweise besser durch Konzentration auf ein Medium geleistet werden kann, zeigt Carolyn Birdsalls Analyse von frühen deutschen Radiodokumentationen. Sie kann überzeugend zeigen, dass verschiedene radiophone Portraits der akustischen Umwelt der 1920er- und 1930er-Jahre durch Strategien des klanglichen Realismus (sogenannte „Hörbilder“ von ganzen Städten oder einzelnen Straßen), der Aktualität (zum Beispiel in Sportreportagen) oder der Authentifizierung (beispielsweise in der Dokumentation von Volkskultur und Dialekten) unmittelbar eingebunden waren in kulturelle und soziale Prozesse der Regionalisierung und Nationalisierung urbaner Identitäten. Radiodokumentationen lieferten damit Dramatisierungen von Soundscapes, die direkt anschlussfähig waren an Diskurse der „Volk und Heimat“-Kultur ebenso wie der Weimarer Arbeiterkultur und damit zentrale politische und gesellschaftliche Konflikte hörbar werden ließen.
Zwischen diesen drei Hauptessays sind verschiedene kürzere und teils etwas disparate Texte gestreut, die entweder als Kommentare dienen (wie Patricia Pisters’ Reflexionen über Filmsounds oder Evi Karathanasopoulous und Andrew Cristells Thesen zur immanenten Urbanität des Mediums Radio) oder einzelne theoretische Aspekte des Bandes vertiefen (wie Jonathan Sternes arg strapaziert-spekulative Diskursanalyse des Begriffs „soundscape“).
Neben diesen medienhistorischen Applikationen birgt das „staging“-Modell aber auch erhebliches Potenzial für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Ansprüchen der gegenwärtigen Geschichtskultur, vergangene Klangumwelten tel quel zu rekonstruieren. Museale Inszenierungen insbesondere städtischer Geschichte kommen je länger, je weniger ohne akustische Medien aus, unterschätzen aber – wie Holger Schulzes kleine Phänomenologie des Audioguides zeigt – oftmals die Komplexität verschiedener historischer Klangschichten im Klangraum Museum. Was auf akustischem Wege als historische Erfahrung vermittelt werden soll und kann, ist keinesfalls immer klar. Die Konzentration auf vermeintliche „keynote sounds“ (R. Murray Schafer) einer verklungenen Stadt und ihre unkritische Reproduktion unterschätzt die akustische Komplexität der urbanen Soundscapes und ignoriert vor allem die konstitutive soziale Aneignung von Klängen, welche nur in „stagings“ und Dramatisierungen zum Ausdruck kommt. Der Sammelband ist in direkter Auseinandersetzung mit neueren Ausstellungsprojekten in den Niederlanden und anderswo entstanden, die eben diese Nicht-Hintergehbarkeit der narrativen und medialen Rahmung zum Thema machen.3 Der titelgebende Begriff des „cultural heritage“ ist in diesem Sinne doppeldeutig. Einerseits verweist er auf die „heritage industry“, welche vermehrt Klänge als Ressource zur Inszenierung historischer Authentizität nutzt. Andererseits begreift er das intermediale Repertoire der Dramatisierungen selbst als kulturelles Erbe, das seinerseits neue „stagings“ von Klangerfahrungen hervorbringt.
Zusammenfassend bleibt der etwas zwiespältige Eindruck, dass das innovative Potenzial des „staging/dramatization“-Konzepts zur Auflösung der epistemologischen Differenz zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Medien in der Klanggeschichte durch die Beiträge des Sammelbandes bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Eine multiperspektivische, mediensensible Geschichte des Akustischen könnte es auch dazu nutzen, den Graben zwischen technischen und textuellen Klangaufzeichnungsmedien zu überwinden. Alle sind in je eigener Weise in kulturelle und soziale Rahmen eingebunden, die erst in wechselseitiger intermedialer Vernetzung je spezifische „stagings“ von Klangerfahrungen entwickeln und zur klanghistorischen Signatur einer Epoche beitragen.
Anmerkungen:
1 Vgl. als Forschungsüberblicke Daniel Morat, Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen, in: Jens Schröter / Axel Volmar (Hrsg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013, S. 131–144; Jan-Friedrich Mißfelder, Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte & Gesellschaft 38 (2012), S. 21–47; Jürgen Müller, „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 1–29; Sophia Rosenfeld, On Being Heard. A Case for Paying Attention to the Historical Ear, in: American Historical Review 116 (2011), S. 316–334.
2 Vgl. Raymond Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, 2. Aufl., Rochester 1994 (1. Aufl. 1977); deutsche Ausgabe: ders., Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010.
3 Vgl. z.B. die Ausstellung „The Sound of Amsterdam“ im Amsterdam Museum, <http://amsterdammuseum.nl/en/sound-amsterdam> (26.08.2013).