Es gibt viele gute Gründe, ein monumentales Nachschlagewerk wie das hier zu besprechende in Angriff zu nehmen, und sie sind allesamt im kurzen Vorwort der Herausgeber und in der ausführlicheren Einleitung des Projektkoordinators Claudius Sittig dargelegt. Entscheidend dafür, dass eine differenzierte kulturhistorische Dokumentation zu 51 bedeutenden Orten des alten deutschen Kulturraums sowohl fachlich ergiebig als auch wissenschaftsökonomisch notwendig ist, dürfte die mehrfach beschworene „Polyzentralität“ (S. XXV, XXXIII) des in Frage stehenden Gebietes sein: Die Mitte Europas war zwischen dem Spätmittelalter und der Auflösung des Alten Reiches in eine große Zahl weitgehend souveräner Territorien aufgeteilt, von denen die größeren ihrerseits mehrere Zentren in Form von Residenz-, Universitäts- und Handelsstädten ausbildeten. Ob kaiserliche Residenz oder mittelgroße Reichsstadt, ob katholische Universitäts- oder calvinistische Handelsstadt, alle diese politisch, konfessionell, wirtschaftlich und kulturell höchst markanten, dabei in unterschiedliche Netzwerke eingebundenen Gebilde lassen sich sinnvoll in einer Sequenz monographischer, dabei aber strukturell analoger Einträge von nicht zu geringem Umfang wissenschaftlich aufbereiten: Die Dokumentation zentraler Aspekte der frühneuzeitlichen Entwicklung eines bestimmten Ortes wird auf diese Weise ergänzt durch den impliziten Vergleich mit anderen Kulturzentren im Hinblick auf die jeweils besonderen Gegebenheiten etwa im Bereich der städtischen Herrschaftsstrukturen, der Formen lokaler Geselligkeit oder der literarischen Produktion.
Die einleitenden Passagen des Handbuchs informieren über die kulturwissenschaftlichen Paradigmen, die dem konkreten Arbeitsprogramm von der Auswahl der zu behandelnden Städte bis zur Feinstrukturierung der Artikel zugrunde lagen und in einer vorbereitenden Konferenz am Osnabrücker Institut für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit im April 2009 gemeinsam erarbeitet wurden.1 Allemal sensibilisieren derlei kulturtheoretische Einsichten für eine aufmerksame Benutzung der Bände. Bei der Lektüre der Einträge fällt dann beispielsweise auf, dass manche kleineren Städte eine „additive Anhäufung oder Summierung“ von „Zentralitätsfunktionen“ (S. XXV) eben nicht aufweisen konnten, weshalb ihre Stellung als kulturelles ‚Zentrum’ von Einzelmaßnahmen lokaler Entscheidungsträger (z.B. Verlegung der Universität oder der Residenz) abhing und entsprechend labil war. Subtil ist die auf den französischen Historiker Christophe Charle zurückgehende Bestimmung eines kulturellen Zentrums nach „Anziehungskraft“ und „Ausstrahlungskraft“ (S. XXXVI), die, wenn sie zusammenwirken, „das kulturelle Feld insgesamt zu strukturieren“ (S. XXXVII) in der Lage sind. Wie Claudius Sittig relativierend vermerkt, gilt dies allerdings eher für moderne Metropolen als für Städte der Frühen Neuzeit.
Damit steht die „temporale Dimension von Zentralität“ (S. XXXVIII) in Zusammenhang, womit gesagt ist, dass eine Stadt zuweilen nur durch punktuelle, zeitlich begrenzte Faktoren (Messe, Kaiserwahl, Friedensverhandlungen) eine Zentralfunktion erhielt. Die geläufige Rede von ‚Aufstieg’ und ‚Niedergang’ einer kulturell bedeutenden Stadt ist je nach Perspektive relativ zu sehen: Sicherlich kann man für Heidelberg im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert von einem deutlichen Niedergang sprechen, als der Hof nach Mannheim übersiedelte und an der Universität der Anschluss an die Aufklärung verpasst wurde. Doch wäre das Bild ein anderes, wenn man die pfälzische Hofkultur in ihrer Kontinuität bis zur Aufhebung der nahe gelegenen Mannheimer Residenz betrachten wollte. Umgekehrt stand der Aufschwung des Musenhofes in Weimar fraglos unter Goethes Einfluss, doch entwirft der zugehörige Artikel ein Bild der vorgoetheschen Residenz, das in der Fülle der kulturellen Hervorbringungen die Epochenschwelle zur ‚Weimarer Klassik’ etwas flacher als gedacht erscheinen lässt.
Die Struktur der einzelnen Artikel des Handbuches ist analog. Auf eine zusammenfassende Kurzcharakteristik des betreffenden Ortes folgen die Abschnitte: 1. Geographische Situierung, 2. Historischer Kontext (teilweise nur die Vorgeschichte bis zum Beginn der Frühen Neuzeit rekapitulierend, meist diese aber einbeziehend), 3. Politik, Gesellschaft, Konfession (mit Berücksichtigung der lokalen wie der territorialen Strukturen), 4. Wirtschaft, 5. Orte kulturellen Austauschs (Institutionen wie Hof oder Universität, aber auch materielle Träger wie Bibliotheken und Kunstsammlungen), 6. Personen (meist in Form von Kurzbiographien, auf den jeweiligen Ortsbezug fokussiert), 7. Gruppen (institutionalisiert und informell), 8. Kulturproduktion (nach Sparten oder Trägerinstitutionen gegliedert), 9. Medien der Kommunikation (vor allem Profile der lokalen Druckereien und der Periodika), 10. Memorialkultur und Rezeption (sowohl in der Frühen Neuzeit selbst wie auch in späterer Zeit) und 11. Wissensspeicher (Quellenbestände in Bibliotheken und Archiven). Den Abschluss jedes Artikels bildet eine in der Regel recht umfangreiche Bibliographie der Forschungsliteratur, in – teilweise etwas beliebig erscheinender – Auswahl auch der ortsgeschichtlichen Quellen. Die Darbietung des Materials innerhalb der Rubriken folgt in vielen Fällen der Chronologie und/oder einer sachlichen Gliederung.
Das Konzept, wie es Herausgeber und Projektkoordinator entwickelt haben, kann im Ganzen als überzeugend bewertet werden. Gewiss ist das zurückhaltend formulierte Ziel der Bände, wonach die Einträge, „auf der Basis der vorliegenden Forschung verfasst, […] Ausgangspunkte für kontextualisierende Studien sein“ sollen (S. XL), plausibel und realisierbar. Etwas problematisch erscheint das Verhältnis der Artikelumfänge untereinander. Offenbar war an einen Richtwert von jeweils ca. 40–50 Druckseiten gedacht worden, der um etwa ein Drittel über- oder unterschritten werden konnte. Erstaunlich ist nur, dass bescheidenere Zentren wie etwa die Reichsstadt Ulm, die Universitätsstadt Jena oder die landgräfliche Residenz Darmstadt mit jeweils 56 Seiten einen beachtlichen Raum beanspruchen, während Großstädte von europäischem Rang wie Prag, Nürnberg und Wien auf nur 46 bzw. 42 oder gar nur 40 Seiten abgehandelt werden. Dass die Herausgeber offenbar nicht von vornherein die Städte verschiedenen Umfangskategorien zugeordnet haben, spricht einerseits für konzeptionelle Ergebnisoffenheit, bürdet allerdings den einzelnen Beiträgern die Pflicht einer vergleichenden Einschätzung auf.
Am heikelsten ist bei einem Handbuch immer die Auswahl der Einträge, hier also der vorzustellenden Städte. Sicher waren bei einem Projekt, das erhebliche Anforderungen an die Bearbeiter stellt, nicht für alle Artikel geeignete Autorinnen und Autoren zu finden. Die Herausgeber führen als Beispiele für solche bedauernswerten Ausfälle selbst die Städte Erfurt, Frankfurt an der Oder, Herborn oder Salzburg an. Daneben scheint es aber doch auch grundsätzliche Entscheidungen zu geben, die zu überdenken wären. Während der konfessionelle Proporz und das Verhältnis zwischen den Städtetypen der historischen Relevanz einigermaßen entsprechen dürften, ist ein zu deutlicher Schwerpunkt im Bereich des heutigen deutschen Staatsgebietes gesetzt. Von 51 ausgewählten Städten liegen nur acht (Straßburg, Basel, Wien, Prag, Breslau, Danzig, Elbing, Königsberg) außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland. Unverständlich ist, wieso man auf Zürich verzichtet hat, zumal in den letzten Jahren grundlegende Forschungen zur frühneuzeitlichen Kultur gerade in dieser Stadt entstanden sind. Ähnliches gilt für die Hauptstädte der habsburgischen Territorien, zumal für Innsbruck. Von den Gebieten des ehemaligen deutschen Ostens ist Schlesien mit Breslau vertreten, während Pommern (Stettin) fehlt. Und während aus dem königlichen Preußen zwei der drei führenden Städte (Danzig und Elbing) aufgenommen wurden und aus dem herzoglichen Preußen Königsberg Berücksichtigung fand, sind die baltischen Staaten nicht vertreten. Vielleicht spielte hier die Frage eine Rolle, ob in den Städten nur die kulturtragende Schicht oder auch die Mehrheitsbevölkerung ‚deutsch’ (also wohl: deutschsprachig) war, doch hätte man hier nicht neben Prag wenigstes Riga oder Reval als ‚kulturelle Zentren’ aufnehmen sollen? Beim Blick auf die Städte innerhalb des heutigen deutschen Staates möchte man keinem der aufgenommenen Orte seinen Platz im Handbuch streitig machen. Stattdessen seien unter den Universitätsstädten Göttingen, unter den Residenzen Karlsruhe und unter den Reichs- bzw. Handelsstädten Bremen exemplarisch als Desiderate erwähnt. Bei den Doppelartikeln sind die Entscheidungen vertretbar, aber nicht zwingend: Gemeinsam behandelt werden Berlin und Potsdam, Braunschweig und Wolfenbüttel, Trier und Koblenz/Ehrenbreitstein. Da hätte man zu Köln auch Bonn und Mannheim zu Heidelberg hinzufügen können. Das Lemma ‚Gottorf’ wäre besser ‚Schleswig’ genannt worden.
Eine vergleichende, wenn auch angesichts des Umfangs nicht in jeder Hinsicht detaillierte Durchsicht der Artikel zeigt, dass die elf Kategorien, die analog in jedem Eintrag abzuhandeln waren, in der Regel sorgfältig bearbeitet wurden. Es steht außer Frage, dass die Autorinnen und Autoren hier vielfach aus zweiter Hand referieren mussten, die wenigsten dürften sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Städte oder mit den Facetten der künstlerischen (und kunstgewerblichen) Produktion in eigenen Forschungen beschäftigt haben. Doch selbst genuin historische Themen wie die Details der städtischen Verfassung – meist auch in den Fällen berücksichtigt, in denen eine Stadt nicht viel mehr als den infrastrukturellen Rahmen eines Hofes abgab – oder kulturgeschichtliche Fragen etwa zur Ausdifferenzierung der Medienlandschaft erfordern gründliche Recherchen: wo nicht in den Quellen selbst, so doch zumindest in den kompendiösen oder auch hochspezialisierten Abhandlungen teils älterer Provenienz. Eine ausgesprochene Herausforderung stellte die Schul- bzw. Universitätsgeschichte dar, die in den letzten Jahrzehnten eine besonders dynamische Entwicklung durchgemacht hat. Hier sind deutliche Unterschiede bei der Aufbereitung der vorliegenden Forschungsergebnisse zu bemerken, wenn man etwa die Einträge zu benachbarten und strukturell vergleichbaren Orten wie Leipzig und Halle, Straßburg und Basel, Ingolstadt und Dillingen nebeneinander stellt. Über die zu Rate gezogenen Hilfsmittel geben jeweils ausführliche Literaturverzeichnisse am Ende jedes Artikels Auskunft, schon der Blick auf diese Bibliographien vermittelt – freilich nur dem jeweils Kundigen – einen Eindruck von Richtung und Intensität der Forschungsrezeption.
Dass die disziplinäre Herkunft und die wissenschaftlichen Interessen der einzelnen Beiträger/innen bei der Konzeption und Realisierung der Einträge eine gewisse Rolle spielen, soll exemplarisch an drei Artikelpaaren demonstriert werden. Die westpreußischen Städte Danzig und Elbing waren in ihrer Struktur als quasi-autonome Gemeinwesen innerhalb des polnischen Staates, als Kristallisationspunkte der Wirtschaft und gelehrten Bildung einander sehr ähnlich, worauf die Verfasser/innen der entsprechenden Einträge auch verweisen. Gleichwohl legt die Literaturwissenschaftlerin Fridrun Freise in ihren Ausführungen zu Elbing einen besonderen Akzent auf die (deutsche und lateinische) Gelehrtenkultur der Stadt, wie sie sich in den literarischen Netzwerken, im Schultheater und im kultursoziologisch aufschlussreichen Phänomen der Kasualdichtung manifestiert. Der Allgemeinhistoriker Edmund Kizik hebt mit Blick auf die kulturelle Produktion Danzigs die mäzenatisch geförderten Bereiche der Malerei und der Musik gegenüber dem Literaturbetrieb stärker hervor.
Helmstedt und Marburg hatten in der Frühen Neuzeit ausschließliche Bedeutung als Sitz der jeweiligen Landesuniversität. Von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aus wird seit geraumer Zeit das ‚Athen der Welfen’ in einem großangelegten Forschungsprojekt untersucht, wobei von der Rekonstruktion des Lehrbetriebs bis zur sozioökonomischen Struktur des Professorenhaushalts zahlreiche Aspekte Beachtung finden. Der Universitätshistoriker Jens Bruning konnte als langjähriger Projektmitarbeiter auf einen breiten Fundus an Material zurückgreifen und zeichnet recht detailliert nicht nur die unvermeidlichen Spannungen innerhalb des Lehrkörpers nach, sondern zeigt auch disziplinengeschichtliche Entwicklungen und Paradigmenwechsel anhand der Gelehrtenprofile auf. Im Vergleich damit verfährt der Theater- und Musikwissenschaftler Bernhard Jahn bei der Darstellung des Wissenschaftsbetriebs in Marburg etwas zurückhaltender, hingegen finden bei ihm eher peripher erscheinende Aspekte wie die Festkultur in der kurzen Zeit der Marburger Hofhaltung um 1600 verstärkte Beachtung.
Als letztes Städtepaar seien Dresden und Köln herausgegriffen. In der sächsischen Residenzstadt waren alle Aspekte des kulturellen Lebens vom Personaltableau über die wirtschaftliche Produktion bis zur Konzeption von Sammlungen auf den Hof und seine Repräsentationsbedürfnisse ausgerichtet. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Helen Watanabe-O’Kelly kann aufgrund eigener langjähriger Forschungen zur Dresdner Hofkultur ein detailreiches Panorama entwerfen, das auch spezielle performative Praktiken wie Reiterturniere oder höfisches Ballett pointiert einbezieht. Bei der Bearbeitung des Eintrages zu Köln hat sich der Stadthistoriker Klaus Wolf für eine reichsstädtische Perspektivierung entschieden. Dadurch gerät die persönliche Handschrift der Erzbischöfe, die ja in Bonn residierten, etwas aus dem Blick, wenngleich die städtische Kultur ohne die geistlichen Institutionen natürlich nicht zu denken ist und diese – wie etwa die Ordensniederlassungen – ja auch Berücksichtigung finden.
Alles in allem sieht sich der Benutzer unabhängig von den Interessenschwerpunkten der Verfasser/innen in den meisten Fällen solide bis sehr gut informiert. Es liegt nicht an den Autor/innen, wenn die Artikel mit ihrer analogen Strukturierung, übersichtlichen Anlage, Detailgenauigkeit und substantiellen bibliographischen Orientierung – leserfreundlichen Aspekten also – doch nicht voraussetzungslos zu lesen sind. Die Einträger/innen konnten, auch wenn ihnen relativ viel Raum zur Verfügung stand, in ihre Einzelabschnitte keine fachgeschichtlichen Einführungen integrieren. Deshalb wird ein Leser, der sich vorrangig mit protestantischen Territorien beschäftigt, die komplexen kirchenrechtlichen Strukturen eines katholischen Fürstbistums nicht ohne Weiteres erfassen, wird der ereignisgeschichtlich interessierte Benutzer sich über die Spezifika der frühneuzeitlichen gelehrten Netzwerke erst orientieren müssen oder der Literatur- und Kunstwissenschaftler die Auswirkungen konfessioneller Spannungen auf die jeweilige kulturelle Produktion und Rezeption in Betracht zu ziehen haben. Wie ergiebig der Blick über die eigenen Forschungsschwerpunkte hinaus sein kann, wie vielfältig die ‚polyzentrale’ Kultur im frühneuzeitlichen Mitteleuropa war, das zeigt am eindrucksvollsten die Lektüre von Einträgen zu Städten, über deren historische Bedeutung man aus heutiger Perspektive vielleicht zunächst erstaunt sein wird – etwa Emden, Ingolstadt oder Halberstadt. An solchen womöglich nicht erwarteten Artikeln lässt sich überprüfen, wie weit eine Definition von ‚kulturellem Zentrum’ trägt, die „weniger klare Konturen“ (S. XXXV) aufweist und auf „kulturraumbezogene Mittelpunktsfunktionen“ abzielt, „die auf eine bestimmte Region als Vorbild, Maßstab und Bezugsinstanz zurückstrahlen“ (S. XXV).
Anmerkung:
1 Vgl. Tagungsbericht von Claudius Sittig zu: Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit. Arbeitsgespräch des Handbuchprojekts ‚Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit‘. 24.04.2009-25.04.2009, Osnabrück, in: H-Soz-u-Kult, 11.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2681> (02.10.2013).