Mit seinem 2006 erschienen Buch „Pol Pots Lächeln“, das nun in einer (gelungenen) deutschsprachigen Übersetzung vorliegt, hat der schwedische Journalist Peter Fröberg Idling keine wissenschaftliche Studie vorgelegt, aber doch ein Geschichtsbuch im besten Wortsinn. Seine Ausgangsfrage ist denkbar einfach: Im August 1978 reisten vier schwedische linke Aktivisten zwei Wochen lang mitten durch einen Völkermord, ohne diesen zu bemerken, nämlich durchs „Demokratische Kampuchea“. Gunnar Bergström, Hedda Ekerwald, Jan Myrdal und Marita Wikander besuchten Infrastrukturprojekte und Sehenswürdigkeiten – darunter eine Krokodilfarm – und sprachen mit politischen Führern und Reisbauern. Zurück in Schweden veröffentlichten sie einen Reisebericht. Die Delegation des „Vereins der Freunde Schweden-Kampuchea“ beschrieb darin ein Land, dessen Bevölkerung nach jahrelanger Ausbeutung zaghafte, aber vielversprechenden Schritte in Richtung Selbstbestimmung und größerer Gerechtigkeit tat. Die Realität war eine andere, furchtbare: Zwischen dem Sieg der Roten Khmer im Bürgerkrieg 1975 und der Invasion der vietnamesischen Volksarmee 1979 starben über eine Million Menschen in Kambodscha an Krankheit und Hunger; vermeintliche Verräter, „Intellektuelle“ und Angehörige von Minderheiten wurden massenhaft ermordet; tausende Menschen wurden infolge der Re-Agrarisierungspolitik und Zwangskollektivierung aus ihren Heimatorten „evakuiert“, insbesondere aus Phnom Penh, das zum Zeitpunkt des Besuchs der Schweden einer Geisterstadt glich.
Fröberg Idling fragt sich, wie man all das übersehen konnte. Seine Antwort ist vielschichtig, schon formal: Seine „literarische Reportage“, so der Klappentext, ist eine Collage aus 265 durchnummerierten Einzelsentenzen unterschiedlicher Länge. Den größten Raum nimmt der Bericht über Fröberg Idlings eigene kambodschanische Reise auf den Spuren der schwedischen Gruppe ein – und über seine teils abenteuerlichen Versuche, dort jene ehemaligen Roten Khmer aufzustöbern, die für die Betreuung der Besucher aus Schweden zuständig gewesen waren. Eingeschoben sind Abschnitte eines Erzählstrangs (jeweils überschrieben: „Wie ein Flimmer weiß“), der vergleichsweise fiktional die Biografien Saloth Sars – später bekannt als Pol Pot – und anderer Funktionäre der Roten Khmer rekonstruiert, die oft stark vom französischen Exil geprägt waren. Unter der Überschrift „Ich sah, was ich sah“ sind zudem Erinnerungen kambodschanischer Opfer von Verfolgung, Mord und Hunger eingestreut. Teils inhaltlich verwoben mit, teils schroff abgesetzt von diesen Narrativen sind Auszüge aus dem Reisetagebuch Ekerwalds und andere zeitgenössische „Hintergrundfragmente“ – darunter revolutionäre Liedtexte des „Stockholmer Volkschors“ –, aber auch Traumsequenzen des Autors selbst. Zwischengeschaltet sind schließlich eher konventionelle Ausflüge in die koloniale und postkoloniale (Leidens-)Geschichte Kambodschas, überschrieben: „Geschichte, wenn man so will“.
Der Kampf der Roten Khmer weckte anfangs Sympathien auf Seiten vieler schwedischer Angehöriger der Antivietnamkriegsbewegung, nicht zuletzt, weil Kambodscha lange unter der US-amerikanischen Außenpolitik gelitten hatte. 1969 hatte Kissinger auf Geheiß Nixons geheime Bombardements gegen den Vietcong im Osten des Landes initiiert, 1970 war die vergleichsweise stabile Entwicklungsdiktatur König Norodom Sihanouks durch das, von den USA gestützte, nationalistisch-autoritäre Regime Lon Nols ersetzt worden. Ohnehin anfällig für eine Romantisierung des vermeintlichen Volksaufstands der Kambodschaner, schoss die antiimperialistische Linke völlig über das Ziel hinaus beim Versuch, nicht den US-amerikanischen Manipulationen der wenigen Nachrichten auf den Leim zu gehen, die aus dem Land drangen, das für Journalisten zeitweise völlig abgeriegelt war. Die Skepsis gegenüber der „westlichen“ Informationspolitik verzerrte die Wahrnehmung teils massiv. Einflussreiche public intellectuals wie Noam Chomsky halfen, Berichte von Flüchtlingen über die Gräueltaten der Roten Khmer als bloße Propaganda zu diskreditierten – die lückenhafte Bevölkerungsstatistik des Landes tat das Ihre.
Fröberg Idling rekonstruiert also, was die schwedischen Besucher 1978 vor ihrer Abreise wissen konnten, aber auch, was sie nicht wissen wollten. Obwohl sie durchaus mit geschönten Eindrücken rechneten, machten ihre ideologische (maoistische) Prägung und ihr Wohlwollen gegenüber ihren Gastgebern die Reisenden besonders anfällig für Techniken der Besuchertäuschung, wie es sie in vielen kommunistischen Staaten gab. Fröberg Idling arbeitet aber auch heraus, dass die Funktionäre der Roten Khmer teils selbst ihren radikalutopischen Erwartungen und der Übererfüllungslogik der Planwirtschaft anheimfielen. Die örtlichen Kader beschönigten die jeweilige Lage bei Inspektionen durch die Führungsriege der Partei, die sogenannte „Organisation“. Sie taten dies aus purem Selbstschutz angesichts der großen Gewaltbereitschaft und der Denunziationskultur, die sich im Land breitgemachte hatte. Es war nicht zuletzt dieser Mechanismus, so Fröberg Idling, der die Hungerkatastrophe herbeiführte, die die Bevölkerung zu erdulden hatte: Vorauseilende Erfolgsmeldungen führten zur Erhöhung der Sollquoten der neuen landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften, deren eigener Anteil an ihrer Nahrungsmittelproduktion auf diese Weise stetig abnahm.
In guter quellenkritischer Manier legt Fröberg Idling offen, wann sein eigenes Verstehenwollen an der Überlieferungslage scheitert. Ab und an wird sein Buch aber ein wenig zu „gefühlig“ beim Versuch, die schwedischen Besucher nicht vorschnell moralisch zu verurteilen und sich die Standortgebundenheit seiner retrospektiven Besserwisserei vor Augen zu führen. Die Distanz wird aber wieder hergestellt, wenn er Slogans der Roten Khmer einfügt, deren Menschenverachtung immer wieder überrascht: „Freiheit ist die Abwesenheit von Disziplin, die Abwesenheit von Moral!“ (S. 168) Insgesamt erweisen sich die stilistische Heterogenität und die fragmentarische, multiperspektivische Anlage des Buchs so als gelungener Ansatz, die Frage nach der Reise durch den Völkermord, wenn schon nicht abschließend zu beantworten, so doch differenzierter zu stellen. Der Leser verliert dabei nie den Überblick, auch dank sinnvoller Dreingaben wie einem Personenverzeichnis und einer Karte der Hauptschauplätze.1
Lediglich ein Aspekt der Reise kommt etwas zu kurz: die Auseinandersetzung mit der spezifisch schwedischen Intellektuellengeschichte, die das – ansonsten instruktive – Vorwort implizit verspricht, das der Schriftsteller Steve Sem Sandberg zur deutschen Ausgabe beigesteuert hat. In Schweden war Fröberg Idlings Buch wohl auch deshalb ein Bestseller, weil einer seiner Protagonisten, Jan Myrdal, ein inzwischen über 80-jähriges ehemaliges linksradikales enfant terrible, öffentlich verärgert auf die Publikation reagiert hat. Anders als Ekerwald und Bergström, die bereit waren, mit Fröberg Idling über die Reise zu sprechen, zeigte sich Myrdal vollkommen uneinsichtig (was im Buch auch thematisiert wird). Die Diskussion schlug noch höhere Wellen, als das „Forum für Lebende Geschichte“ – es wurde 2003 im Anschluss an die Stockholmer Holocaust-Konferenz gegründet – die Reise in der Ausstellung „Zu Tisch mit Pol Pot“ („Middag med Pol Pot“) erneut thematisierte. Insbesondere über einen Werbefilm der Ausstellungsmacher entrüstete sich Myrdal, wobei er nicht mit Faschismusvergleichen geizte.2 Der im 1970er-Jahre-Look gehaltene Clip nimmt unmissverständlich auf Myrdal Bezug, wenn er „Mao-Brillen“ anpreist, die die Weltsicht nicht etwa pink, sondern rot färben.3 Die darauffolgende Debatte lässt auf zu historisierende innerschwedische Befindlichkeiten schließen; schon vor einiger Zeit wurden demgemäß Reiseberichte aus der revolutionären „Dritten Welt“ als Medien der Selbstauslotung der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft untersucht.4 Diese Binnensicht zu berücksichtigen, hätte freilich den Rahmen von Fröberg Idlings ebenso spannendem wie lehrreichem Buch gesprengt.
Anmerkungen:
1 Außerdem ist eine Auswahlbibliografie angehängt. Auch das Umschlagbild des Buchs ist Teil des Arguments: Es zeigt eine idyllische ländliche Szene, diese ist allerdings ein ironischer Kommentar des Malers Vann Nath, selbst Überlebender des Foltergefängnisses S 21, zu den Verklärungen des kambodschanischen Kommunismus.
2 Zu sehen unter <http://adland.tv/commercials/dinner-pol-pot-middag-med-pol-pot-2009-212-sweden> (15.10.2013).
3 <http://www.expressen.se/debatt/jan-myrdal-statsfilmen-om-mig-ar-skamlig/> und
<http://www.newsmill.se/node/10674>. Bergström und Myrdal haben auch öffentlich miteinander über die Reise gestritten: <http://www.newsmill.se/artikel/2009/09/07/ska-det-vara-s-sv-rt-att-erk-nna-att-vi-hade-fel-jan-myrdal> (15.10.2013)
4 Vgl. David Kuchenbuch: Rezension zu: Mohnike, Thomas: Imaginierte Geographien. Der schwedische Reisebericht der 1980er und 1990er Jahre und das Ende des Kalten Krieges. Würzburg 2007, in: H-Soz-u-Kult, 08.12.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-209> (15.10.2013).