Der vorliegende Sammelband ist ein Resultat der Auseinandersetzung mit Fragen nach der Daseinsberechtigung, den Aufgaben und der Zukunft der Historischen Bildungsforschung. Dass dieser Zweig der Erziehungs- respektive Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren an vielen europäischen Universitäten an Bedeutung verloren hat – sei es durch den Verlust von Lehrstühlen oder durch die zunehmenden Schwierigkeiten beim Einwerben von Drittmitteln1 – lässt es wichtiger denn je erscheinen, diese Fragen eingehend zu diskutieren.
Der Raison d’Être der Historischen Bildungsforschung war ein Symposium im Frühjahr 2008 in Kopenhagen gewidmet. Fünf von zwölf Beiträgen des Sammelbandes gehen auf diese Tagung zurück. Weitere sieben wurden beigefügt mit der Absicht, ein umfassendes Buch zum Thema „politics of knowledge“ in der Historischen Bildungsforschung vorzulegen, so zumindest der Anspruch des Herausgebers Jesper Eckhardt Larsen.
In der Einleitung stellt Larsen fest, in der heutigen Zeit seien politische Überlegungen (gemeint ist die Abwägung von Nützlichkeit im Rahmen von politischen Entscheiden) ausschlaggebend für die Beurteilung bildungswissenschaftlicher Forschung. Seit den 1960er/70er-Jahren und zunehmend seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts würde die Forschung vor allem durch das „what works“ und die „evidence based policy“ (S. 11) dominiert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ursprünglich rein historische Fragen bearbeiteten, müssten sich heute zunehmend mit dem Policy-making respektive mit Themen, die einen unmittelbar praktischen Bezug haben, beschäftigen. Larsen will sein Buch daher auch als ersten Schritt zur Eröffnung eines produktiven Dialogs über zukünftige „politics of knowledge“ verstanden wissen, geführt zwischen Forschenden und „research politicians“ (S. 11).
Das Buch ist in drei Sektionen zu je vier Artikeln aufgeteilt. Diese Verteilung ist ausgewogen und die Titel der Sektionen („The present challenges to the history of education“, „Uses and abuses of the history of education“ und „Educational historiography and the raison d’être of the history of education“) scheinen auf den ersten Blick vielversprechend. Beim Lesen der Artikel verlieren diese Kategorien allerdings bald ihren Reiz. Dafür vermag Anderes das Interesse auf sich zu ziehen, wie beispielsweise der Umstand, dass im Buch Beschreibungen der nationalen Entwicklung der Historischen Bildungsforschung in neun verschiedenen Staaten (Argentinien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Norwegen, Schweden und den USA) versammelt sind. In diesen Beiträgen werden nationale Idiosynkrasien genauso deutlich gemacht wie Fragen aufgeworfen und Aspekte aufgezeigt, die nationenübergreifend von Interesse sind. Wenn beispielsweise Pierre Caspard und Rebecca Rogers in ihrem Artikel zur Historischen Bildungsforschung in Frankreich schreiben, „contemporary schools are confronted by a series of problems that the history of education is ill equipped to illuminate“ (S. 79), dann ist das eine Feststellung, die sicherlich nicht nur auf Frankreich zutrifft.
Die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs, die das Buch durch die Artikelauswahl durchaus böte, wird vom Herausgeber des Bandes allerdings nicht ausgeschöpft. Vincent Stolk hat kürzlich in einer Rezension die Frage aufgeworfen, wieso Sammelbände meist kein Fazitkapitel hätten, und er wünschte sich ein solches für das Buch, das er gerade rezensierte.2 Dieser Wunsch ist auch für das vorliegende Buch auszusprechen.
Es stellt sich die Frage, was die Zusammenstellung Neues oder Weiterführendes in die Diskussion um die Daseinsberechtigung der Historischen Bildungsforschung einbringt. Zuerst einmal ist Folgendes festzustellen: Der Sammelband als Ganzes ist ein aufschlussreiches Abbild der Probleme, mit welchen die Historische Bildungsforschung seit geraumer Zeit zu kämpfen hat. Carola Groppe schreibt in ihrem Beitrag, das Buch sei ein Ausdruck der Krise, in welcher sich die Historische Bildungsforschung befinde (S. 188). Die krisenbedingte Auseinandersetzung der Historischen Bildungsforschung mit sich selbst ist seit längerer Zeit im Gange und wurde vornehmlich in den einschlägigen Journalen (wie etwa der Paedagogica historica, der Zeitschrift für pädagogische Historiographie, der Zeitschrift für Pädagogik etc.) geführt.3 Etliche Autorinnen und Autoren des Sammelbandes haben sich an diesen Diskussionen beteiligt. Garry McCulloch hat beispielsweise vor kurzem eine Monographie vorgelegt, in welcher er sich fundiert mit dieser Thematik auseinandersetzt.4 Marc Depaepe ist seit langem einer der aktivsten Diskussionsteilnehmer in dieser Sache. Er hat zum vorliegenden Sammelband einen Text beigesteuert, der allerdings weitgehend auf einem bereits 2001 in der Zeitschrift Paedagogica historica veröffentlichten Artikel beruht.5 Auch andere Autorinnen und Autoren wie Jukka Rantala, Pierre Caspard und Rebecca Rogers, Barry M. Franklin und Patricio R. Ortiz, Esbjörn Larsson, Carola Groppe oder Christian Larsen und Jesper Eckhard Larsen nehmen mehr oder weniger direkt Bezug auf diese Diskussionen und führen sie in ihren Beiträgen weiter.
Dass die Wahrnehmung des drohenden Untergangs der Disziplin nicht überall die gleiche ist, zeigt etwa der Artikel von Marcelo Caruso zu Südamerika respektive Argentinien, wo die (europäische) Krisenwahrnehmung nicht geteilt zu werden scheint. Auch Alfred Oftendal Telhaug ist mit dem eher pessimistischen Unterton von Larsons Einleitung nicht einverstanden. In seinem Text zeigt sich, dass die Debatte um die Raison d’Être der Historischen Bildungsforschung nicht frei von Kontroversen ist. Hier wird kurz die Dynamik spürbar, die eine Debatte über das Wesen und die Zukunft der Historischen Bildungsforschung entwickeln könnte, allerdings verfliegt dieser Eindruck sogleich wieder, weil die Kritik Telhaugs im Rahmen eines Sammelbandes unbeantwortet bleiben muss.
Alles in allem enthält das Buch mehrere lesenswerte Artikel mit vielen interessanten Ansatzpunkten, Feststellungen und Vorschlägen. Die Beantwortung der Fragen, die Larsen eingangs des Bandes aufwirft, nämlich wie sich die Historische Bildungsforschung angesichts von drohender akademischer Marginalisierung, zunehmend schwieriger werdender Finanzierung und den alles dominierenden Forderungen der Politik nach unmittelbar wirksamen Handlungs- und Entscheidungshilfen in Zukunft positionieren kann und soll, bleibt indessen weitgehend Stückwerk. Larsons Feststellung, die beste Strategie für die Historische Bildungsforschung „within the new paradigm of the politics of knowledge“ sei „to readdress the true market mechanisms and sell well-told narratives in the history of education“ (S. 16), bliebe zu diskutieren.
Anmerkungen:
1 Vgl. dazu auch Daniel Tröhler, Historiographische Herausforderungen der Bildungsgeschichte, in: International Journal for the Historiography of Education. Bildungsgeschichte 1 (2011), S. 9–22.
2 Vincent Stolk: Rezension zu: Aubry, Carla; Westberg, Johannes (Hrsg.): History of Schooling. Politics and Local Practice. Frankfurt am Main 2012, in: H-Soz-u-Kult, 29.07.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-3-066> (12.09.2013).
3 Vgl. Paedagogica Historica 35 (1999), 3; Zeitschrift für pädagogische Historiographie 16 (2010), 1; Zeitschrift für Pädagogik 5 (2010).
4 Garry McCulloch, The Struggle for the History of Education, London 2012. Siehe dazu auch die Rezension Philipp Eigenmanns in: H-Soz-u-Kult, 15.02.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-104> (12.09.2013).
5 Marc Depaepe, A Professionally Relevant History of Education for Teachers: Does it Exist? Reply to Jurgen Herbst’s State of the Art Article, in: Paedagogica Historica 37 (2001), S. 631–640.