Title
Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbildes um 1900


Author(s)
Bernet, Brigitta
Published
Zürich 2013: Chronos Verlag
Extent
390 S.
Price
€ 39,50
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jens Gründler, Institut für Geschichte der Medizin, Robert Bosch Stiftung Stuttgart

Die 1908 erstmals der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellte Diagnose ,Schizophrenie‘ ist die wohl wirkmächtigste Erfindung – im Sinne einer Schöpfung – der Psychiatrie im 20. Jahrhundert. Der Begriff erzeugt durch seine weltweite Verbreitung in der medizinischen Wissenschaft und durch die allgegenwärtige Durchdringung der Alltagskultur eine scheinbare inhaltliche, überzeitliche Kohärenz. Brigitta Bernet betont demgegenüber, dass gerade auch Krankheiten konstruiert sind und ihre Inhalte und Zuschreibungen sich historisch verändern, an einen historischen Ort und eine Zeit gebunden sind. Mit ihrem Buch tritt sie den Beweis an. Ausgehend von Ludwik Flecks Konzepte des ,Denkstils‘ und ,Denkkollektivs‘1 sowie Lutz Raphaels Ideen zur ,Verwissenschaftlichung des Sozialen‘2 gelingt Bernet die Verortung und Rückbindung der Schizophrenie an die Gesellschaft und Wissenschaftskultur der Schweiz in beispielhafter Weise. Detailliert zeichnet sie den Entstehungskontext der Diagnose in der Zürcher Anstalt Burghölzli, den Einfluss des dortigen Personals sowie die Bedeutung für Patientinnen und Patienten in den Jahrzehnten um 1900 nach. In den Mittelpunkt stellt sie Eugen Bleuler, ab 1898 Anstaltsleiter, an dessen Person sich die entscheidenden Entwicklungen innerhalb und außerhalb des Burghölzli nachzeichnen lassen – er war die prägende Figur des spezifischen, sehr dynamischen Denkkollektivs dieser Klinik, das die Schizophrenie aus der Taufe hob. Zu diesem Kollektiv gehörte unter anderem auch der Psychoanalytiker C. G. Jung.

Im ersten Teil der Arbeit werden die Konstitutionsbedingungen der Entstehung der ,Schizophrenie‘ dargestellt. Eindringlich führt Bernet die politisch-gesellschaftliche Entwicklung der liberalen Schweiz mit besonderem Fokus auf die verspätete Genese der schweizerischen ,Irrenfürsorge‘ und deren besondere Ausprägung vor Augen. Als Beispiele können hier die Nutzung der Hypnose als psychotherapeutische Heilbehandlung, der frühe Rückgriff auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse und die enge Zusammenarbeit der Ärzte von universitären Kliniken und Pflegeanstalten dienen. Auch Bleuler war vor seiner Zeit in der Klinik Burghölzli als Leiter der Pflegeanstalt Rheinau beschäftigt. Gleichzeitig betont Bernet aber die internationale Entwicklung in der psychiatrischen Medizin, die sich um 1900 in nahezu allen Industriestaaten in einer Krise befand. Auch in der Schweizer Öffentlichkeit nahm man die wachsenden Anstaltspopulationen bei sinkenden Heilerfolgen sowie therapeutischer Ratlosigkeit zum Anlass, deutliche Kritik am System der Versorgung und Behandlung psychisch Kranker zu äußern. Diese Konstellation führte im Burghölzli dazu, dass das von Emil Kraepelin nur wenige Jahre vor 1900 entwickelte Konzept der Dementia Praecox als unzureichend empfunden wurde. Die Fokussierung auf körperliche Ursachen und der unheilbare, degenerative Charakter machten aus Sicht Bleulers und seiner Kollegen eine Rekonzeptualisierung, oder besser: Erweiterung, nötig.

Die dazu nötige Konstruktionsarbeit an der Diagnose ,Schizophrenie‘ ist Thema des zweiten Teils, in dem Bernet in die innere Struktur des Denkkollektivs am Burghölzli eindringt. Dieses bestand neben Bleuler aus einer ganzen Reihe von Assistenzärzten und wenigen Assistenzärztinnen, Doktorandinnen und Doktoranden sowie deren Familien – so wurden z. B. die Ehefrauen von Bleuler und Jung in das Kollektiv eingebunden. Für viele war der Arbeitsplatz gleichzeitig Wohnraum, man teilte auch das Privatleben, welches rigiden Normen und Normalitätsansprüchen unterworfen war. Bleulers striktes Abstinenzlertum, das er auch von allen Mitarbeitern verlangte, kann hier nur als ein Beispiel dienen. Die moralisch hoch aufgeladene therapeutische Gemeinschaft formulierte die Schizophrenie als ein auf gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen begründetes Konzept, das es erlauben sollte, Abweichungen frühzeitig und auch in Latenzphasen zu erkennen. Als diagnostisch besonders aussagekräftig wurden Störungen der Sprache angesehen – in diesen Störungen, so Bleuler, manifestierte sich die Schizophrenie. Bernet weist ausdrücklich darauf hin, dass sich die Definition des ,Normalen‘ im Burghölzli an den Ärzten und deren Familien selbst orientierte – mit ihnen führte man psychologische Experimente und Tests durch und deren Antworten wurden als Ausdruck einer normalen Psyche festgelegt.

Die Formulierung der Schizophrenie als Erweiterung der Dementia Praecox hatte für die Mediziner zwei Vorteile. Zum einen erweiterte sich die zu behandelnde Gruppe bedeutend. Durch die Implementierung gesellschaftlicher Normen konnten individuelle Faktoren der Patientinnen und Patienten zum Tragen kommen. Abhängig von der gesellschaftlichen Stellung waren unterschiedliche Grade der Anpassung erforderlich. Gleichzeitig konnten die Ärzte die Heilungserfolge erhöhen, weil nun auch eine ,soziale Heilung‘ konzeptionell aufgenommen wurde. Das heißt, von nun an konnten diejenigen, die als gesellschaftlich wieder eingliederbar angesehen wurden, als geheilt entlassen werden. Die Bilanz der Anstalten verbesserte sich dadurch nachhaltig.

Im dritten Teil wird die Konsolidierung der Schizophrenielehre nachgezeichnet. Bernet verdeutlicht hier, wie die Anschlussfähigkeit dieses Konzepts an allgemeine, gesellschaftliche Krisenphänomene und deren Lösung(svorschläge) hergestellt wurde. In der Schweiz wurde „der weite Schizophreniebegriff […], dessen Referenzpunkt das Soziale bildete,“ (S. 333) zur Grundlage einer neuen Sozialfürsorge, in der Mediziner, Juristen und Sozialarbeiter zusammenarbeiteten. Während die Diagnose in der Schweiz relativ schnell eine weite Verbreitung erfuhr, verzögerte sich die Akzeptanz in anderen nationalen Wissenschaftsgemeinden merklich. In Deutschland lässt sich eine Verwendung erst am Ende des Ersten Weltkriegs in Krankenakten feststellen.3 Aber schon diese erste Rezeption zeichnet sich durch deutliche Anpassungen an den deutschen Psychiatriediskurs aus – so entfernte man z. B. die psychoanalytischen Bestandteile der Bleulerschen Schizophrenielehre und schuf ein eigenes Verständnis der Krankheit, das an die nationalen, bisweilen auch lokalen oder klinikeigenen Verhältnisse angepasst wurde.

Letztendlich, das macht Bernet in ihrer Schlussbetrachtung noch einmal deutlich, sind auch Erkenntnisse der psychiatrischen Medizin eingebettet in Wissenschaftskulturen und haben Verfallsdaten. Die Genese und die Infragestellung von Konzepten wie der Schizophrenie Zürcher Prägung sind an gesellschaftliche und innerwissenschaftliche Entwicklungen gebunden. Im vorgestellten Fall war bereits am Ende der 1920er Jahre, nach der Einführung von Schock- und Insulintherapien, die Hoffnung laut geworden, die Schizophrenie auch somatisch behandeln zu können. In der Psychiatrie verstärkten sich (wieder) biologische Vorstellungen, die sich auf Forschung und Zusammenarbeit anderer Denkkollektive beriefen – an anderen Orten und mit anderen Halbwertzeiten. Brigitta Bernet hat in ihrem Buch mustergültig gezeigt, dass Wissenschaftsgeschichte immer auch Gesellschaftsgeschichte sein muss, die, nicht nur an Personen, sondern immer auch an Strukturen, Zeiten, Räume und Orte rückgebunden werden sollte. Man kann darauf hoffen, dass ähnliche Arbeiten erstellt werden.

Anmerkungen:
1 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980 (zuerst Basel 1935).
2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; ders. (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne: Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012.
3 Vgl. Alexander Friedland / Rainer Herrn, Die Einführung der Schizophrenie an der Charité, in: Volker Hess / Heinz-Peter Schmiedebach (Hrsg.), Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne, Köln 2011, S. 207–258, hier S. 207f.

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