Seit deutlich mehr als zehn Jahren reagieren verschiedene geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen auf den Boom an autobiographischen und biographischen Veröffentlichungen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich ihrer formalen und medialen Erscheinungsformen eine nahezu unüberschaubare Breite erreicht haben. Das Sprechen und Schreiben über das eigene Leben oder das anderer Menschen markiert – auch in nicht-verbalen, künstlerischen Darstellungen – damit geradezu paradigmatisch die Schnittmenge nicht-wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Perspektiven, die den Menschen als Subjekt seiner Lebensgeschichte thematisieren. Welche Funktion den Formen dieser autobiographischen und biographischen Darstellungen beigemessen wird; historische und gegenwärtige Konzepte von Subjektivität und biographischer Autonomie; die inhaltliche Bandbreite, die eine menschliche Biographie erhalten kann, sowie weitere Aspekte wissenschaftlicher und populärer (Auto-)Biographik werden in dem von Carsten Heinze und Alfred Hornung herausgegebenen Band ausgehend von ihren Medialisierungsformen behandelt. Für einige der auf den ersten Seiten angesprochenen interessanten Aspekte der modernen Autobiographieforschung hätte man sich etwas mehr an Erläuterung gewünscht, vor allem für mögliche Implikationen der Dominanz westlicher AutobiographieforscherInnen im wissenschaftlichen Diskurs selbst. Dass die Perspektive auf (Auto-)Biographien immer auch an historische, kulturell geprägte Menschenbilder gebunden ist und diese selbstreflexiv mitgedacht werden sollten, dürfte unbestritten sein; umso mehr wäre eine Auseinandersetzung mit den medialen Zugängen von WissenschaftlerInnen nicht-westlicher Kulturkreise von Interesse.
Der Doppelbegriff des „(Auto-)Biografischen“ im Titel mag auf den ersten Blick die Befürchtung wecken, eine Veröffentlichung in die Hand zu nehmen, die sich der facettenreichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit biographischen und autobiographischen Themen mit einer vermeintlich „offenen“, in Wahrheit jedoch unpräzisen Begrifflichkeit nähert. Doch tatsächlich widmen sich die Herausgeber dieser Problematik mit gebührender Sorgfalt: Nicht etwa, indem sie in ihren einleitenden Überlegungen starre, an konventionellen Gattungsbezeichnungen orientierte Definitionen von Autobiographie und Biographie vorgeben, sondern indem sie die prinzipielle Offenheit und wechselseitige Anschlussfähigkeit beider Begriffe aneinander in einen forschungstheoretischen Rahmen einbinden und dies durch die innere Logik der Bandstruktur unterstreichen. Ein kleiner Schönheitsfehler sei angemerkt: Die Schreibweise des Titels verwendet für den Komplex des (Auto-)Biographischen ein „f“, die im Band versammelten Aufsätze und Kapitelüberschriften hingegen ein „ph“ – mit Ausnahme der beiden Beiträge des Mitherausgebers Heinze und der Texte von Tanja Seider und Christoph Hübner. Die gleichnamige Jahrestagung der „Sektion Biographieforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ vom Dezember 2011, von denen ausgewählte Texte in dem vorliegenden Band veröffentlicht wurden, hat wiederum das „ph“ verwendet. Hier wäre eine Vereinheitlichung der Schreibweise mühelos möglich gewesen.
Das inhaltliche und formale Spektrum der Auseinandersetzung mit (Auto-)Biographik wird in dem Band in fünf Kapiteln entwickelt und erstreckt sich von den medialen Formaten der (Auto-)Biographik über die Materialität und intermediale Identität bis hin zu (Auto-)Biographien im öffentlichen Diskurs. Ausdrücklich zu loben ist in diesem Zusammenhang, dass im Konzept (auto-)biographischer Medien die digitalen Medien methodisch und theoretisch wie selbstverständlich miteinbezogen werden. Im vierten und fünften Kapitel erfolgt eine Konzentration auf filmische (Auto-)Biographien, wobei in Kapitel fünf die Überlegungen der Dokumentarfilmer Hübner und Pepe Danquart zur filmischen Arbeit mit (Auto-)Biographik vorgestellt werden. Diese beiden Texte verdeutlichen eindrucksvoll, wie sehr die wissenschaftliche Perspektive von der künstlerischen profitieren kann. Angesichts der Positionierung beider Texte im Band und der Erläuterung ihrer Entstehungsbedingungen kann man jedoch den Eindruck gewinnen, dass hier von wissenschaftlicher Seite eine Barriere gezogen wird, die völlig unnötig ist: Auf der Tagung wurden Filme der Dokumentarfilmer gezeigt und diskutiert, diese Gespräche führten mittelbar zu dem Text von Hübner („Die Kunst des Fragens“) und einem in den Band aufgenommenen Interview von Vanessa Weber und Heinze mit Danquart („Das, was mich erzählt“). Hier hätte eigentlich die Möglichkeit bestanden, die Trennung zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Perspektive als Ergebnis wissenschaftstheoretischer und -geschichtlicher Entwicklungen explizit zu problematisieren. Oder man hätte die Entstehungsbedingungen der beiden Texte und den hierbei erkennbaren Medienwechsel in den Ausdrucksformen von Hübner und Danquart vom Bild zum schriftlich fixierten Wort sowie die verschiedenen (auto-)biographischen Reflexionsebenen der beiden Dokumentarfilmer im Zuge dieses Prozesses analysieren können. Dass die Narrative der Filme und der Wissenschaft ebenso eine Wirkung auf die Aussagen, Fragen und Antworten haben, ein Schreiben und Sprechen über Filme immer eine mediale Distanz zum Film selbst herstellt, ein Interview selbst auch immer Plausibilitäten erzeugt, bleibt unbeachtet. Anscheinend hat man sich mit der zweifellos respektvollen und aufmerksamen Integration beider Künstler ins Rahmenprogramm der Tagung und der formalen Isolierung der Texte am Ende des Bandes begnügt. Letztlich verdeutlicht gerade das sehr gut vorbereitete Interview mit Danquart, dass hier viel mehr möglich gewesen wäre. Auch die Qualität des Essays von Hübner hätte eine prominentere Herausstellung gerechtfertigt.
Die „Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen“ stehen als Printveröffentlichung also unter den formalen und inhaltlichen Beschränkungen des letztendlich ‚konventionellen‘ Formats des Sammelbandes. Dieser reproduziert als Teil einer Wissenschaftskultur indirekt auch die Bedingungen des Sprechens über den Menschen als Objekt der Wissenschaft. Die Grenzen des Projekts zeigen sich dementsprechend an den Stellen des Bandes, wo das Sprechen über die Medialisierungsformen des (Auto-)Biographischen formal und inhaltlich der Selbstorganisation wissenschaftlicher Narrative folgt. Dennoch ist der insgesamt positive Gesamteindruck der Veröffentlichung nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass einzelne BeiträgerInnen die Ökonomie und Ausdruckskraft eines wissenschaftlichen Textes in ihren Darstellungen offensichtlich erfassen und sensibel darauf reagieren. Aus der großen Zahl lesenswerter Aufsätze soll hier der Text von Peter Alheit genannt werden, der den heuristischen Charakter seiner Überlegungen als Elemente eines Aufsatzes als konstitutives Moment seiner Argumentationslogik offenlegt. Es kann bei einem Sammelband wie dem vorliegenden ja ohnehin nicht um die Formulierung endgültiger Aussagen gehen. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (und zum Teil bedeutet dies immer auch die Produktion von) (Auto-)Biographik eindrucksvoll als genuin interdisziplinäres und zwingend theoriegeleitetes Forschungsfeld vorgestellt wird, lässt die Lektüre des Buches zum Gewinn werden. Und dass die vorgestellten Arbeiten und Ansätze selbst den breit erforschten Feldern der (Auto-)Biographik neue Aspekte hinzuzufügen imstande sind, lädt die LeserInnen zur gedanklichen Mitarbeit ein.
Der Sammelbandes macht deutlich, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (Auto-)Biographik nicht länger die mediale Erscheinungsweise der Darstellungen zur Begründung der disziplinären Perspektive heranziehen muss: also belletristische Texte für LiteraturwissenschaftlerInnen, audiovisuelle Quellen für FilmwissenschaftlerInnen oder Facebook-Profile für VertreterInnen der Digital Humanities. Dass alle diese Fächer ihre theoretischen und methodologischen Ansätze auch legitim auf „fachfremde“ Medialisierungen ausrichten können und in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen müssen, verdeutlicht letztendlich nur die prinzipielle Anerkennung der identitätskonstituierenden Funktion von Medialisierungsformen. Wie immer in der Wissenschaft sollte das Erkenntnisinteresse die Quellen- und Methodenwahl bestimmen. Und liegt im Erkenntnisinteresse nicht auch der Schlüssel zum Selbstverständnis der WissenschaftlerInnen? Dass der (auto-)biographisch ausgerichteten Wissenschaft damit eine Indikatorfunktion für das Potential einer Disziplin zur methodischen und theoretischen Selbsterneuerung beigemessen werden kann, unterstreicht die immense Bedeutung des Themas für die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.