M. Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport

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Title
Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens


Editor(s)
Herzog, Markwart
Series
Irseer Dialoge: Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 17
Published
Stuttgart 2013: Kohlhammer Verlag
Extent
447 S.
Price
€ 29,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jürgen Mittag, Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung, Deutsche Sporthochschule Köln

Das Stanley-Matthews-Fußballdenkmal in Stoke-on-Trent oder die Bill-Shankly-Statue in Liverpool, die Fritz-Walter-Straße in Kaiserslautern oder die Robert-Enke-Straße in Hannover, die Kapellen im Stadion Camp Nou oder im Berliner Olympiastadion, die Fan-Friedhöfe von Schalke 04 oder des Hamburger SV – all diese Orte stehen beispielhaft dafür, dass der Fußball vielfältige Impulse zur Memorialkultur hervorbringt. Seitens der Wissenschaft sind solche Impulse und Orte jedoch weitgehend unbeachtet geblieben. Sieht man von Fragen der Vergangenheitspolitik bzw. der politischen Verstrickung prominenter Funktionsträger ab, sind bislang nur wenige sportbezogene Erinnerungsorte wie die Fußballbundesliga, die Turnbewegung oder die Tour de France näher ins Blickfeld der historischen bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt. Umso begrüßenswerter ist der von Markwart Herzog herausgegebene Sammelband, der auf eine Tagung zur „Memorial- und Sepulkralkultur des Fußballsports“ im Dezember 2011 zurückgeht.

Im Hinblick auf den europäischen Vereinsfußball beleuchten die insgesamt 19 Beiträge des Bandes, mittels welcher Praktiken, Medien, Kommunikationsformen und performativen Rituale im Fußball Erinnerungen erzeugt und verfestigt wurden bzw. werden. Im Kern verfolgen die Beiträge damit die übergeordnete Frage, was, warum und auf welche Weise Eingang in das kollektive (Fußball-)Gedächtnis gefunden hat; zugleich geht es aber auch darum, was nicht bzw. was in modifizierter Form zum Bestandteil von Erinnerungsprozessen wurde. Das Vergessen wird folgerichtig als Pendant zur Erinnerung verstanden.

Ergänzend zur Memorialkultur setzt der Band einen Schwerpunkt auf das Entstehen, die Entwicklung und die Ausgestaltung einer spezifischen Sepulkralkultur des Fußballs. Nicht nur Zugänge zur Erinnerung im Fußball, sondern auch „Fragen des Umgangs mit dem Verhältnis zwischen Sport und Tod sowie des ehrenden Umgangs mit den Toten des Sports“ (S. 73) werden in diesem Zusammenhang verhandelt. Erinnerungsgeschichtlich sind Bestattungsformen und -rituale von Aktiven und Fans sowie Elemente der Trauerkultur insofern relevant, als ihnen eine wesentliche Bedeutung für die Legenden- und Mythenbildung im Sport zugeschrieben werden kann.

Die beiden einführenden Aufsätze von Markwart Herzog und Sven Güldenpfennig stellen zunächst dar, warum die Erinnerungskultur des Fußballs für Sportwissenschaft und Sporthistoriografie, aber auch für die allgemeine Memorialforschung bedeutsam ist. Da der Sport kulturschöpferisches Potenzial habe, so Herzog, generiere er auch eigene Formen der Erinnerung. Mit „Spielweisen der Erinnerung“ betitelt der Herausgeber dabei die Bandbreite der Erinnerungsmodi im Fußball: Festschriften und Chroniken, die an individuelle Leistungen sowie an kollektive Erfolge und Niederlagen von Vereinen oder Verbänden im pathetischen Ton erinnern, erzeugen eine andere Art der „Erinnerung“ als nüchterne, zahlenorientierte Tabellen und Statistiken. Dennoch seien diese durch „die unterschiedlichsten sozialen Praktiken, Kommunikationsformen und visuellen Medien“ entstandenen Erinnerungen in ihrer Gesamtheit ausschlaggebend dafür, dass sich „eine Generationen übergreifende Erinnerung“ des Fußballs herausgebildet und so Eingang in das kulturelle Gedächtnis gefunden habe (S. 18).

Güldenpfennig setzt sich im zweiten Einleitungsbeitrag des Bandes kritisch mit den Potenzialen der Erinnerungskultur des Sports auseinander. Er differenziert zwischen kulturellem Schöpfertum und sozialen Identitäten sowie zwischen unterschiedlichen Gedächtnismodi des Sports: Während das performative Gedächtnis auf „den dramatischen Verlauf der sportlichen Aufführung“ bezogen sei, bleibe im sozialen Gedächtnis die Erinnerung an „Umstände, den Ort, die Akteure und den Ausgang der sportlichen Aufführung“ verankert (S. 77). Im Fußball dominiere eine performative Erinnerung. Da sich Sportveranstaltungen durch ihre Flüchtigkeit auszeichnen, sei das mediale Fußballgedächtnis erfolgs- und nicht ereignisbezogen. Güldenpfennig plädiert vor diesem Hintergrund in seinem normativ gehaltenen Fazit für eine bewusstere Erinnerungsarbeit im Sport (S. 86).

Auf dem Fundament dieser beiden Grundlagenbeiträge wird die Erinnerung im Fußball in vier thematisch strukturierten Hauptteilen verfolgt. Die erste Sektion „Vereine und Verbände“ behandelt Einzelaspekte von vereins- bzw. verbandlichen Erinnerungsmechanismen. Matthias Thoma beleuchtet am Beispiel von Eintracht Frankfurt die Traueraktivitäten für verstorbene Spieler und Vereinsmitglieder, aber auch das bewusste Vergessen. Der Autor identifiziert verschiedene Praktiken der Erinnerung an Tote, die – etwa bei verstorbenen prominenten Spielern – unmittelbar im Kontext des Spiels durch Schweigeminuten, Trauerflore oder eine Verlesung im Rahmenprogramm angewandt wurden. Als weitere Orte der Erinnerung werden Gedenktafeln und Totenmale vorgestellt. Eine andere Facette der fanbezogenen Sepulkralkultur veranschaulicht Markwart Herzog. Am Beispiel der von britischen Fußballklubs vermarkteten „Commemorative Bricks“ (beschrifteten Klinkersteinen) zeigt er, wie individuelle und kollektive Erinnerung ineinander übergehen können. Die bislang nur in britischen Fußballklubs üblichen Gedenk-Steine fungieren als „Medien […], mit denen sich Vereinsgemeinschaften einerseits ihrer Einheit nach innen vergewissern und sich andererseits der Öffentlichkeit nach außen hin als geschlossene Gemeinschaft präsentieren“ (S. 146). Auf „Memorial Walls“ verbinden sich die individuellen Erinnerungssteine mit der offiziellen Vereinsgeschichte, die durch eigene Tafeln gegenwärtig bleibt.

Während Thoma und Herzog dem Verhältnis von offizieller Vereins- und inoffizieller Fan-Erinnerung nachgehen, rückt Christian Eberle am Beispiel von Joan Gamper und dem FC Barcelona das Verhältnis von Mythos und Biographie ins Blickfeld. Eberle zeigt, wie die Wechselbeziehungen zwischen Sport und Politik den Mythos des „Gründervaters“ Gamper erzeugten. In der vereinsoffiziellen Erinnerung wird Gamper (der aus der Schweiz stammte) über den Fußball hinaus auch als Anwalt des Konzepts der katalanischen Nation präsentiert. Christian Koller ergänzt die vereinsbezogenen Beiträge um eine verbandliche Perspektive, indem er „Selbstdarstellung und Erinnerungspolitik der FIFA in ihren Jubiläumsschriften“ untersucht. Er konzentriert sich auf die Entwicklung und Struktur dieses Genres, auf die innerhalb dieses Mediums präsentierten Narrative sowie auf die Rolle von Einzelpersönlichkeiten. Koller kommt zu dem Ergebnis, dass sich in den verschiedenen Schriften weder gängige Narrative einer Vergangenheitsdarstellung noch ein fester Personenkult ausgebildet haben. Eine kontinuierliche Erinnerungspolitik könne der FIFA infolgedessen auch nicht zugeschrieben bzw. unterstellt werden.

Im zweiten Themenkomplex des Bandes stehen „Fankulturen“ im Mittelpunkt. Anne Eyre, John M. Williams und Dave Russell zeigen an Beispielen – namentlich mit Bezug auf den FC Liverpool –, wie sich durch Manager und Spieler, Texte und Songs, aber auch durch Tragödien wie Heysel und Hillsborough (Stadion-Massenpaniken mit zahlreichen Toten, 1985 bzw. 1989) eine höchst differenzierte Erinnerungs- und Sepulkralkultur herausgebildet hat, die stets mit den sozialen Rahmenbedingungen verknüpft war. Demgegenüber veranschaulicht Hermann Queckenstedt in seinem Beitrag zum Umgang mit dem Selbstmord Robert Enkes, des Torhüters von Hannover 96, wie sich die Trauer von Fans beim Verlust eines „Helden“ 2009/10 konkret ausgedrückt hat.

Im Anschluss an die vereins- und fanbezogenen Beiträge richtet der dritte Hauptteil des Bandes unter der Überschrift „Soccer Topophilia“ den Blick auf Stadien, Museen und Statuen, die ebenfalls als Orte der Erinnerung bzw. der Begegnung mit der Erinnerung interpretiert werden. Nicholas Piercey stellt die kulturhistorische Bedeutung von Fußballstadien heraus. Am Beispiel der Stadien in Amsterdam und Rotterdam in den 1910er- und 1920er-Jahren erläutert er ihre kulturellen und sozialen Wirkungen. Den Umgang mit „belasteten“ Sportstätten thematisiert Claudio Miozzari anhand des Foro Mussolini in Rom. Die Behandlung des nach ideologischen Gesichtspunkten erbauten Stadions, das Mussolinis Italien in die Kontinuität des Römischen Reichs stellte, dokumentiert die Art der Auseinandersetzung Italiens mit der faschistischen Vergangenheit. Den Umgang mit Erinnerung beleuchtet auch Markus Jager in seinem Beitrag über die vom italienischen Bildhauer Mario Moschi geschaffene älteste freistehende Fußballerstatue am Prenzlauer Berg in Berlin, die seit ihrer Einweihung im Jahr 1936 drei politische Systeme „durchlebte“. Der Blick auf das plastische Kunstwerk und seine Rezeption ist für eine Erinnerungsgeschichte des Fußballs von hohem Wert, da der jeweilige Umgang mit der Statue spezifische Verständnisse des Fußballs, etwa im Nationalsozialismus, offenlegt. Neben solchen inhaltlichen Überlegungen zur „Soccer Topophilia“ berücksichtigt dieser Hauptteil mit einem weiteren Beitrag von Matthias Thoma auch die praktische Erinnerungsarbeit, indem Planung, Konzept und Exponate des Vereinsmuseums von Eintracht Frankfurt vorgestellt werden.

Die vierte Sektion des Bandes fragt nach der Rolle des Verschweigens und des Vergessens in der Memorialkultur des Fußballs bzw. nach der selektiven Funktion des kollektiven Gedächtnisses. Mit dem Titel „Politische Vereinnahmung und ‚memoria damnata‘“ spielt der Band auf die seit der römischen Antike bekannte Strategie der „damnatio memoriae“ an – der Tilgung von „verdammten“, verachteten Personen auf „Erinnerungsstücken“ wie Dokumenten oder Münzen. Insa Schlumbohm zeigt am Beispiel des DSC Arminia Bielefeld, inwiefern gezieltes kollektives Vergessen im Nationalsozialismus aus politischen bzw. rassistischen Gründen gegenüber jüdischen Mitgliedern im Fußballverein praktiziert wurde und welche Anstrengungen unternommen wurden, Vergessen nach 1945 erneut in Erinnerung zu überführen. Neben Beiträgen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im elsässischen Fußball (Bernd Reichelt), zur Rolle von Erinnern und Vergessen in den böhmischen Ländern, der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik (Stefan Zwicker) und zur „bewusste[n] Absage an eine proletarische Memorial- und Sepulkralkultur“ im Fall des Arbeiter-Turn- und Sportverbands (ATUS) in der Ersten Tschechoslowakischen Republik (Thomas Oellermann, Zitat S. 415) zeigen Jutta Braun und Michael Barsuhn, wie Sportler in der DDR „kaltgestellt und ausgegrenzt“ wurden (S. 424).

Der Band präsentiert eine beeindruckende Vielfalt von primär beschreibenden Einzelbeobachtungen, aus denen sich zahlreiche erhellende Schlussfolgerungen zu den Mechanismen des Erinnerns und Vergessens im Fußball ableiten lassen. Eine Rückkoppelung der akribischen und quellengesättigten Detailstudien an die beiden stärker konzeptionell gehaltenen Einführungsbeiträge oder an übergeordnete Forschungsdebatten erfolgt dabei jedoch nur begrenzt. Überzeugend zeigt der Band, dass die fußballbezogenen Erinnerungsstrukturen immer auch Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind. Gerade aber die von Markwart Herzog und Sven Güldenpfennig aufgeworfenen Fragen zu den „kulturschöpferische[n] Kräften heterogener Fußballgemeinschaften“ (S. 54) markieren einen weiterführenden Analyseansatz, der wichtige Impulse für künftige Forschungsarbeiten zum Thema liefern kann.