Seit einigen Jahren trifft sich eine Arbeitsgruppe des volkskundlichen Nachwuchses bei Tagungen mit bisweilen spontihaftem Charakter an wechselnden Institutsstandorten, um zusammen mit den dortigen Mitarbeitern grundsätzliche Fragen des Faches zu diskutieren, ihr momentanes "work in progress" zu präsentieren oder erste Ergebnisse von Forschungsprojekten vorzutragen. Der hier vorzustellende, von Burkhart Lauterbach und Christoph Köck unter dem Titel "Volkskundliche Fallstudien. Profile empirischer Kulturforschung heute" herausgegebene Band dokumentiert im Wesentlichen das im Februar 1997 in München veranstaltete Treffen der Gruppe. Die in dem Band enthaltenen Fallstudien von Beate Spiegel, Daniel Drascek, Gunter Hirschfelder, Andreas Hartmann, Michael Simon, Sabine Doering-Manteuffel, Andreas Kuntz und Christoph Köck sind ihre zu Aufsätzen ausgearbeiteten und aktualisierten Münchener Vorträge, die Beiträge von Burkhart Lauterbach, Rainer Wehse und Irene Götz wurden zusätzlich aufgenommen, leider nicht publiziert wurde ein Tagungsreferat von Hildegard Friess-Reimann, das die Konflikte bei der Ansiedlung einer rußlanddeutschen Pfingstgemeinde analysiert hatte.
Der Band "Volkskundliche Fallstudien" präsentiert mit seinen elf Aufsätzen ein breites Themenspektrum: Beate Spiegel untersucht einen Skandal in Straubing anno 1718 und die damit einhergehenden Gerüchte, Verdächtigungen und Beschuldigungen um die Schwängerung eines Fräuleins. Spiegel interessieren an diesem Fall, der dadurch besonders pikant ist, daß das geschwängerte Fräulein die Tochter des für Sittlichkeitsdelikte zuständigen Landrichters ist, vor allem die geschlechtsspezifischen Rechtfertigungsstrategien der Beteiligten.
Daniel Drasceks Thema ist Der Papstbesuch in Wien und Augsburg 1782. Zum Wandel spätbarocker Alltags- und Frömmigkeitskultur unter dem Einfluß süddeutscher Gegenaufklärer. Drascek geht dabei der Frage nach, inwieweit die Gegenaufklärung an der Formung und Umformung der süddeutschen Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts beteiligt war.
Gunter Hirschfelder beschäftigt sich in seinem Beitrag unter dem Titel Nur allzuoft sind die Gasthäuser bloße Kerkerlöcher mit Formen kommerzieller Gastlichkeit an der Schwelle zum Industriezeitalter.
Zunächst obskur mutet das Thema und der Aufsatztitel von Andreas Hartmann an: Das Amphibientheater. Kleine Volkskunde aus der Froschperspektive. Es geht dabei um die bis ins 19. Jahrhundert von den Gelehrten diskutierte Vorstellung vom Aufenthalt lebendiger Amphibien in menschlichen Körpern.
Michael Simon untersucht unter dem Titel Männlich-Weiblich. Zur Bedeutung der Geschlechtsbestimmung in der Kultur die Frage, welche Vorstellungen man sich einst und heute von den Möglichkeiten machte, das Geschlecht eines Kindes bei der Zeugung zu beeinflussen.
Fragestellungen der volkskundlichen Hausforschung überträgt Burkhart Lauterbach auf das Thema der Gartenstädte. Ihn interessiert also nicht so sehr deren architektonische Gestaltung, sondern Die sozial-kulturelle Funktion von Gartenstädten. In dieser Perspektive geht es um Fragen nach der Ideologie solcher Siedlungen, um die Anlage der Siedlung und ihren räumlichen Bezug zur Stadt und um die Aktivitäten und das praktische Leben innerhalb der Siedlung.
Rainer Wehses Fallstudie hat den Titel Die "unanständige" britische Bildpostkarte und die Volkserzählung. Er will damit exemplarisch die volkskundliche Erzählforschung auf nichtmündlich tradierte Erzählstoffe hinweisen, wie sie eben auch mit der gedruckten Bildpostkarte vorliegen.
Das heutige Leben der indigenen Völker in den Polarregionen behandelt Sabine Doering-Manteuffel in ihrem Beitrag mit dem Titel Zeitenwende am Pol. Westernisierung und Anti-Modernismus in rezenten Inuit-Gesellschaften.
Der Keramik im Kannenbäckerland. Produktgeschichte im Kontext regionaler Identitätsstiftung gilt das Interesse von Andreas Kuntz.
Irene Götz berichtet in einer Fallgeschichte über die Schwierigkeiten einer jungen Frau, die im Umgang mit Ausländern mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, auch ihres eigenen Vaters, konfrontiert wird. "Wir dürfen ja nicht stolz sein." Nationale Identität vor dem Hintergrund familiärer Auseinandersetzungen um den Nationalsozialismus heißt der Titel dieses Beitrags.
Den Umgang mit der winterlichen Jahreszeit in der Großstadt München und in den alpinen Skigebieten untersucht Christoph Köck in seinem Aufsatz Winterfest. Zur komplementären Gestaltung von Jahreszeiten in städtischen und ländlichen Umwelten.
Elf "Volkskundliche Fallstudien" sind in dem hier zu besprechenden Buch versammelt, jede einzelne ist anregend zu lesen. Doch der Band ist mehr und will mehr sein als eine Aufsatzsammlung. Seine über die Einzelbeiträge hinausgehende Bedeutung liegt in dem Versuch der beteiligten Autoren das herauszuarbeiten, was der Untertitel des Buches verspricht: "Profile empirischer Kulturforschung heute". Ein Profil, ich habe mich bei meinem Fremdwörterbuch rückversichert, ist "eine stark ausgeprägte persönliche Eigenart". Über diese spezifische Eigenart der Volkskunde in Konkurrenz wie in Ergänzung zu anderen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern wird seit einigen Jahren verstärkt diskutiert, die Münchener Tagung, die sich bezeichnenderweise "Profile der Universitäts-Volkskunde heute" nannte, steht ebenso wie der hier vorzustellende Band in diesem Diskussionszusammenhang, zu dem Sabine Doering-Manteuffel, Andreas Hartmann und Michael Simon auch in angehängten Bemerkungen Stellung beziehen.
Drei Punkte scheinen mir nach der Lektüre des Buches charakteristisch für das Profil der Kulturwissenschaft Volkskunde:
1. Die historische Komponente bei der Analyse von Kultur wird wieder betont. Jedenfalls scheint es mir signifikant zu sein, daß fünf der elf vorliegenden Studien dezidiert ein historisches Thema behandeln. Die Herausgeber Lauterbach und Köck sprechen davon, daß "sich die historische Perspektive als ein wichtiges Qualitätsmerkmal volkskundlichen Arbeitens herausstellt." (S. 7) Volkskundliche Forschungen wagen es wieder, auch das 18. und 19. Jahrhundert zu thematisieren. Indem man Kulturphänomene seit der Zeit der Aufklärung in den Blick nimmt, vollzieht sich eine Abkehr von der häufig nur ideologisch begründeten ausschließlichen Gegenwartsbezogenheit und Gesellschaftsrelevanz des Faches. Die Erkenntnis scheint sich durchzusetzen, daß zum Verstehen kultureller Phänomene häufig langfristige, dem rein empirischen Zugang entzogene Entwicklungen betrachtet werden müssen.
2. Gleichzeitig beschäftigt sich die Volkskunde wieder mit übergreifenden kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Vor allem die Konfrontation von Tradition und Moderne rückt in das Blickfeld der Volkskundler. Es mögen die unterschiedlichsten Kulturphänomene sein, von denen dieses Fragen seinen Ausgang nimmt, Papstbesuche, Gartenstadtanlagen, Inuitkongresse oder Branntweinkneipen, grundsätzlich geht es aber in den einzelnen Beiträgen darum, wie Menschen die Prozesse der Moderne erleiden und bewältigen.
3. Dieses Interesse an der Lebenswelt des Einzelnen war immer schon ein stark ausgeprägter Charakterzug der Volkskunde, den sie aufs Neue mit Gewinn einbringen kann.
Die Verbindung von historischer Tiefe, grundlegender kulturwissenschaftlicher Fragestellung und Anteilnahme am Lebensschicksal eines Einzelnen gelingt in dem vorliegenden Band meiner Meinung nach auf eine besonders überzeugende und feinsinnige Weise Andreas Hartmann mit seiner Studie Das Amphibientheater. Kleine Volkskunde aus der Froschperspektive. Über den Aufenthalt lebender Amphibien im menschlichen Körper hatten Mediziner bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts spekuliert. Seit der Antike handeln unzählige Historien davon, daß Kröten, Frösche, Eidechsen, Schlangen oder Salamander in der feucht-warmen Höhle des menschlichen Körpers hausen und ihrem Wirt grimmige Schmerzen, manchmal auch den Tod bereiten könnten, falls die ungebetenen Gäste diesen Aufenthaltsort nicht durch Erbrechen plötzlich verlassen mußten. Über Jahrhunderte waren Geschichten von menschenbewohnenden Amphibien durch die unterschiedlichsten Medien transportiert worden: durch Klatsch und Tratsch, kursierende Geschichten, fliegende Blätter, halbgelehrte Traktate, Exempel, medizinische Abhandlungen und gelehrte Disputationen.
Die Tatsache einer Erkrankung durch Amphibien im Körper war zwar außergewöhnlich, wurde im Prinzip aber, da durch mündliche und schriftliche Autorität legitimiert, nicht bestritten, sondern mit dem Wirken Satans in Zusammenhang gebracht. Hartmann gelingt es zeigen, wie einzelne Menschen solche tradierte kulturelle Vorstellungen nicht nur übernahmen, sondern sie in die Tat umsetzten, im Erleben und Erleiden ihres eigenen Körpers nachvollzogen. Eine der Betroffenen war Ernestine Jänsch aus dem ostbrandenburgischen Dorf Schmarse nahe Züllichau, der sechs Honoratioren des Städtchens 1839 bestätigten, Frau Jänsch habe vor ihren Augen einen Frosch erbrochen.
Der Arzt Dr. von Wiebers glaubte Frau Jänsch, seine Anamnese machte als Grund für das Leiden das Verschlucken von Wasser mit einer darin lebenden Kreatur aus. Seinen Gegenspieler fand der einer älteren medizinischen Tradition verpflichtete Dr. von Wiebers im Kommunalarzt Dr. Jacobi, der als Vertreter der Moderne und der aufgeklärten Naturwissenschaft das Züllichauer Fröschekotzen als Schwindel entlarvte und damit der Ernestine Jänsch den Ruhm und die Krankheit nahm. Hartmann gelingt es, aus dem Fall weit mehr zu machen als einen schaurige Geschichte zum Ergötzen eines an kulturellen Kuriositäten interessierten Publikums. Er zeigt in seiner Fallstudie von der Macht der Überlieferung, was es für den Einzelnen bedeutet, wenn die fest verankerten kulturellen Ordnungssysteme, die Denken und Handeln bestimmen, mit neuen, modernen Vorstellungen kollidieren.
Volkskundlern wie Hartmann, Drascek, Simon oder Doering-Manteuffel könnte es gelingen, wieder größere Forschungsprojekte in Angriff zu nehmen und durch kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung der Volkskunde wieder das zu verschaffen, was ihr durch die einseitige sozialwissenschaftlich-empirische Ausrichtung und die Bearbeitung banaler Themen abhanden kam: Charakter, Kontur, Profil.