Gustav Heinemann (1899–1976), der nach vielen politischen Stationen schließlich der dritte Bundespräsident wurde, gehört zu der wohl nicht ganz so häufigen Gattung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die den von ihnen vertretenen Ansprüchen auch selbst gerecht geworden sind. Bereits um 1922 formulierte Heinemann: „Sich selbst folgen, nicht einer Partei! Parteiwechsel als Recht […]. Parteinehmen: ja, aber nicht von der Partei einnehmen lassen.“ (zit. auf S. 66)
Zu diesem Zeitpunkt hatte er Erfahrung mit der Mitgliedschaft in einer Partei: der die Weimarer Republik bejahenden, linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Es folgten die Mitgliedschaft in vier weiteren Parteien und das Engagement – fast immer mit führender Position – in der evangelischen Kirche sowie in politischen Interessenvertretungen und Zusammenschlüssen. Im Alter kokettierte Heinemann gern mit „seiner eigenen Zeit in der ‚außerparlamentarischen Opposition‘“ (S. 441).
Thomas Flemming stellt sich in seiner nun als Buch vorliegenden Duisburg-Essener Dissertation dem Anspruch, erstmals die Persönlichkeit und den Werdegang Heinemanns in Form einer wissenschaftlichen Biographie insgesamt zu erschließen.1 Die Quellengrundlage ist erfreulich groß, wenn auch nicht vollständig „allgemein zugänglich“; dies betrifft etwa im Familienbesitz befindliche Tagebuchaufzeichnungen (S. 459). Ob der Autor hier Einsicht hatte, bleibt unklar. Insgesamt zitiert Flemming häufig aus den Tagebüchern, die Heinemann unregelmäßig führte und die für 1919 bis 1922 auch ediert vorliegen.
Heinemann wuchs in einem betont kirchenfernen Haushalt auf. Überzeugter und somit die „metaphysische Unbehaustheit“ (S. 63) überwindender evangelischer Christ wurde er erst als knapp Dreißigjähriger. Der Vater hatte sich ins Bürgertum hochgearbeitet, er war im „Arbeiter-Büro“ bei Krupp und darüber hinaus im Bereich der Sozialpolitik tätig. Flemming zufolge blieben Heinemann – in einer etwas psychologisierenden Sicht – zwei Konflikte erspart, die viele politisch Engagierte seiner Altersgruppe in die Radikalität trieben: Erstens stimmte Heinemanns Wertesystem weitgehend mit demjenigen des Vaters überein, so dass hier keine „Loslösung“ nötig war. Zweitens empfand Heinemann die Tatsache, dass er im Ersten Weltkrieg zwar wenige Monate Soldat, aber nicht aktiv an Kämpfen beteiligt gewesen war, nicht als „verpasstes Fronterlebnis“. Für andere stellte sich dies als Hypothek dar. Heinemann hingegen befürwortete die Republik; in den unruhigen Anfangsjahren war er sogar bereit, den Weimarer Staat gegen seine inneren Feinde mit der Waffe zu verteidigen. Über das Studium sowie gleichartige politische Ansichten war er mit Ernst Lemmer und Wilhelm Röpke verbunden. Diese Freundschaften hielten, wenn auch zeitweise konfliktbeladen. Sie spielten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum eine wichtige Rolle – Lemmer war nun CDU-Politiker, Röpke ein bedeutender Wirtschaftswissenschaftler. Flemming arbeitet die oft wechselseitigen Einflüsse heraus. Ebenso werden spätere Weggenossen Heinemanns beachtet, von den jüngeren etwa sein Anwaltssozius Diether Posser und Erhard Eppler. Beide führte der Weg – wie Heinemann – schließlich in die SPD. Großen Einfluss auf ihn hatten in späteren Jahren der streitbare Theologe Helmut Gollwitzer und dessen Frau. Flemming betont, dass Heinemann zwar ein offenes Ohr hatte, dass aber „letztlich im Kreise seiner professionellen Berater“ (S. 424) entschieden worden sei. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Stimme Gollwitzers, der weder ein politisches Amt noch ein Mandat hatte, ein unverhältnismäßig hohes Gewicht zukam.
Einen roten Faden in Heinemanns Leben habe „das Streben nach einer bürgerlichen Existenz“ dargestellt (S. 11, S. 446). Selbstbewusstsein, Mut und soziale Verantwortung seien dabei für ihn eng miteinander verbunden gewesen; davon klar getrennt habe er das „politisch zumeist ‚feige‘“ Bürgertum (S. 447), dem er später auch vorwarf, „Hitler den Weg bereitet“ zu haben (Heinemann, zit. auf S. 447). Dem Aufbau einer bürgerlichen Existenz nach seinen Vorstellungen widmete sich Heinemann nach dem Rückzug aus der DDP – enttäuscht darüber, dass in der Partei Sonderinteressen dominierten und nicht die Sorge um das Gemeinwohl im Vordergrund stand. Nach dem Abschluss einer nationalökonomischen sowie einer juristischen Dissertation verlief Heinemanns beruflicher Weg sehr erfolgreich; schnell wurde er stellvertretendes Vorstandsmitglied der Rheinischen Stahlwerke. Politisch gab es noch ein Intermezzo beim Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD), wobei nicht einmal klar ist, ob er formell Mitglied war (S. 90).
Flemming charakterisiert Heinemanns Verhalten im „Dritten Reich“ als „Doppelstrategie“ (S. 93, S. 449) oder „Ambivalenz“ (S. 450). Dies geht etwas zu sehr vom abstrakten Denkbild einer Alternative aus (entweder vollständige Identifikation mit dem Nationalsozialismus oder totale Verweigerung bzw. Widerstand), die es nur für die Wenigsten in dieser Form gegeben haben dürfte. Insgesamt wird die Zeit zwischen 1933 und 1945 jedoch mit allen Facetten aufgezeigt, die sich für viele Zeitgenossen eben nicht als Unvereinbarkeiten darstellten. Der Autor erliegt nicht der Versuchung, vermeintliche oder tatsächliche, zuweilen erst ex post erkennbare Widersprüche zwingend kausal aufzulösen. Auch an anderer Stelle räumt Flemming ein, dass sich die Gedankenwelt und das Handeln Heinemanns nur bedingt erklären lassen, beispielsweise bezüglich dessen Hinwendung zum christlichen Glauben.
Persönlicher Sympathien gegenüber dem NS-Gedankengut dürfte Heinemann nie verdächtig gewesen sein. Aufgrund seiner herausgehobenen Position in einem kriegswirtschaftlich bedeutenden Betrieb, der auch von Zwangsarbeitern profitierte, war eine vollständige Distanzierung aber nur schwer möglich und wurde wohl auch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Heinemann machte 1936 gegenüber dem Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat allerdings selbst auf seine intensive Mitarbeit in der Bekennenden Kirche aufmerksam, wodurch er den ihm eigentlich zugedachten Vorstandsposten nicht erhielt. Sein Engagement in der Bekennenden Kirche hat Heinemann in erster Linie als Kampf gegen staatliche Eingriffe in Kirchenstrukturen verstanden, als „abwehrenden Widerstand“ gegen kirchenfeindliche Politik (S. 135). 1937 zog er sich von seinen Ämtern zurück – seine Vorstellung von „kirchlicher Gemeinschaft“ (S. 126) glaubte er nicht mehr wirksam vertreten zu können.
Derartig konsequente Rückzüge fanden im politischen Leben Heinemanns mehrfach statt, wenn er die Gruppierung, für die er tätig war, nicht mehr ausreichend in Übereinstimmung mit seinen Zielen wähnte oder sich als Person nur noch unzureichend unterstützt fühlte. In der Zeit nach Kriegsende durchlief er eine Vielzahl Positionen – oft spröde wirkend, aber eben auch authentisch bleibend. Meist waren es andere, die ihn drängten, an führender Stelle Aufgaben zu übernehmen.
So wurde er Oberbürgermeister von Essen (1946) und Justizminister in Nordrhein-Westfalen (1947). Adenauer machte ihn zu seinem ersten Innenminister (1949), doch nach vielerlei Differenzen stellte Heinemann sein Amt im Streit über die Wiederbewaffnung schon nach einem Jahr zur Verfügung und führte dann eine Anwaltskanzlei. Seine auf Gesamtdeutschland und einen „realistischen Pazifismus“ (S. 222) ausgerichteten Vorstellungen fanden zwar Beachtung, aber wenig greifbare Resonanz. Dies zeigten das Scheitern der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), aber auch der außerparlamentarischen und überparteilichen Initiativen (etwa der „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ oder der „Paulskirchenbewegung“) sowie seine Abwahl als Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Heinemann überschätzte hier die Breitenwirkung seiner Ideen deutlich. Auf wenig Gegenliebe stieß sein – rational durchaus plausibles, aber im politischen Leben der Bundesrepublik der 1950er-Jahre kaum mehrheitsfähiges – Plädoyer, man könne nur zu Lösungen finden, wenn man die Interessen der Sowjetunion angemessen berücksichtige. Für Heinemann war es typisch, wenigstens zu versuchen, Verständnis für die Position der Gegenseite aufzubringen.
1957 trat Heinemann der SPD bei; von vielen Sozialdemokraten war dies gewünscht. Angekommen ist er in der Partei nie so ganz – dazu war er zu stark von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Auch die Sicherheits- und Deutschlandpolitik der SPD, die letztlich stark auf Adenauers Linie einschwenkte, vertrug sich zunehmend weniger mit Heinemanns Idealen – aber offenbar noch genug. Als Justizminister der ersten Großen Koalition (1966–1969) steht er für ein umfangreiches Reformwerk. Krönung seiner Laufbahn war das höchste Staatsamt (1969–1974).
Gustav Heinemanns Karriere enthält vielfache Brüche, was zu einem guten Teil mit seiner persönlichen Konsequenz zu erklären ist. Heinemann engagierte sich stets für die Sache. Thomas Flemming stellt dies in aller Ausführlichkeit dar. Es mag sein, dass eine akademische Qualifikationsschrift unter dem Druck steht, umfangreiche Belege liefern zu müssen – der anderweitig publizistisch erfahrene Autor erliegt hier der Versuchung, viel zu viel Material auszubreiten. Die Redundanzen sind ärgerlich, und ausführliche Schilderungen der allgemeinen historisch-politischen Hintergründe ohne direkten Heinemann-Bezug erschweren die Lesbarkeit ebenso wie Zitate, welche soeben getätigte Aussagen nur bestätigen, oder das Einflechten von Äußerungen Dritter. Bei aller Wertschätzung für den Schriftsteller Peter Härtling – aber ist dessen Meinung über eine GVP-Versammlung und über Heinemann für eine Biographie von Relevanz, gerade angesichts einer enormen Stofffülle?
Völlig neue Blickwinkel bietet die Arbeit nicht, berücksichtigt aber alle wesentlichen Aspekte von Heinemanns Wirken. Die sehr ausgewogene Darstellung hätte durch Straffung des Textes deutlich gewinnen können. Selbst Heinemanns bekannte und natürlich zitierte Bonmots – er liebe nicht den Staat, sondern seine Frau; Christus sei nicht gegen Karl Marx gestorben, sondern für uns alle usw. – gehen in dieser Biographie leider unter.
Anmerkung:
1 Das Buch von Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn 2009, greift zwar auch verschiedene Facetten von Heinemanns Wirken auf, versteht sich aber in erster Linie als „parteipolitische Biographie“, was der Autor im Vorwort ausdrücklich betont. Siehe auch die Rezension in: H-Soz-Kult, 30.03.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13813> (03.12.2014). Andere Arbeiten über Heinemann widmen sich Spezialaspekten oder erheben nicht den Anspruch wissenschaftlich-kritischer Darstellungen.