Ueber einen langen Zeitraum konnte sich die deutsche Sozialgeschichte ihrer Avantgarde-Position an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts sicher sein. Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich das Bild gewandelt. Die Sozialgeschichte sieht sich zunehmend in einer Verteidigungsposition gegenueber der 'kulturgeschichtlichen Herausforderung'. Der Charakter der Grundsatzdebatte hat sich in den letzten 15 Jahren stark veraendert: Setzten einige etablierte Vertreter anfangs noch auf die Wirksamkeit methodologischer 'Totschlagargumente' (indem man etwa neuen Ansaetzen die 'Wissenschaftlichkeit' absprach), konnte man sich in den neunziger Jahren einer ernsthaften Auseinandersetzung nicht mehr kategorisch verwehren. Die fundamentale Kritik an der 'kulturalistischen Luftigkeit' ist zwar nicht verstummt. Fuehrende Vertreter der Sozialgeschichte zeigen jedoch eine im Vergleich zum Beginn der Debatte erstaunliche Nachdenklichkeit - allen voran Hans-Ulrich Wehler in seinen in DIE ZEIT publizierten Gedanken anlaesslich seiner Emeritierung (Wehler 1996). Hier spricht Wehler offen Versaeumnisse der Sozialgeschichte an und stellt eine umfassende Auseinandersetzung mit der 'Herausforderung der Kulturgeschichte' in Aussicht, die jetzt in Buchform vorliegt.
Wehler akzeptiert den Hinweis auf 'unuebersehbare Defizite und allzu engherzig gezogene Grenzen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte'. Fuer ihn lautet die derzeitige Grundfrage: 'Kann sich die Sozialgeschichte, die Gesellschaftsgeschichte, die Historische Sozialwissenschaft nach einer offensichtlich unvermeidbaren Erweiterung ihrer theoretischen Praemissen und ihres methodischen Arsenals im Kampf um die realitaetsadaequate Problembewaeltigung, auch um die Meinungsfuehrerschaft behaupten?' (S. 10) Um die Chancen in der (deutschen) Geschichtswissenschaft auf fortgesetzte Meinungsfuehrerschaft zu erkunden, setzt sich Wehler mit einigen fuer ihn zentralen Leitfiguren und Stroemungen der kulturgeschichtlichen Wende auseinander: Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Max Weber, Sigmund Freud, Erik Erikson und die Kulturanthropologie (die Wehler als Kollektiv abhandelt, ohne genauer auf einzelne Autoren einzugehen).
Wehlers Essay geht auf Thesenpapiere zurueck, mit denen er im Bielefelder 'Colloquium zur modernen Sozialgeschichte' Diskussionen zu einigen fuer die historische Kulturwissenschaft zentrale Autoren eroeffnet hat. Die Auswahl ergibt sich pragmatisch aus dem Part, den Wehler selbst im Colloquium uebernommen hat - weitere zentrale Figuren wie Benjamin, Burckhardt, Droysen, Elias und Simmel wurden von anderen Mitgliedern vorgestellt, andere fanden offensichtlich gar nicht erst den Weg auf die Agenda des Colloquiums (so etwa zentrale Vertreter der literaturwissenschaftlich-geschichtstheoretischen Debatten wie Hayden White). Die Buchform hat den Charakter der Thesenpapiere belassen - die Argumentation ist pointiert und provokant und operiert durchweg ohne Netz und doppelten Boden extensiver Fussnotenapparate. Das ist zumeist erfrischend unteutonisch, treibt bisweilen jedoch stilistische und inhaltliche Blueten, deren Erkenntnisgewinn (zumindest im Rahmen der Fragestellung des Bandes) eher zweifelhaft ist - so das Bekenntnis 'Freud hat mein unerschuetterliches Urteil bestaetigt, dass Frauen im Vergleich zu Maennern die ungleich komplexeren und interessanteren Lebewesen sind' (S. 126) oder der eher an einen Fahndungsaufruf erinnernde Satz 'Seit der Gymnasialzeit ist Foucault als Homosexueller, spaeter als Sadomasochist mit harten Praktiken bekannt.' (S. 90).
Doch neben diesen rhetorischen Seitenspruengen setzt sich Wehler durchaus mit einigen Kernproblemen der 'Herausforderung der Kulturgeschichte' auseinander. Ueberraschend ist, inwieweit er sich dabei - zumindest semantisch - den Kernpositionen einer historischen Kulturwissenschaft annaehert. Wehler konzediert, dass die Sozialgeschichte Webers Handlungstheorie halbiert habe, dass 'kulturelle Traditionen, <<Weltbilder>> und Sinnkonstruktionen, Religion, Weltdeutung und Perzeption der <<Realitaet>> durch die Akteure, Kollektivmentalitaet und Habitus in ihrer wirklichkeitspraegenden Kraft unterschaetzt, im Forschungsprozess an den Rand gedraengt oder sogar voellig uebergangen wurden.' Die Sozialgeschichte habe die 'doppelte Konstituierung der Realitaet' zum einen 'durch die sozialen, oekonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selbst nicht ernst genug genommen (S. 145).
Ute Daniel, Vertreterin einer historischen Kulturwissenschaft, verficht mit aehnlichen Worten eine 'Betrachtungsweise, fuer die der Bereich des Sozialen oder Gesellschaftlichen sich nicht primaer ueber den Koepfen oder hinter den Ruecken der Menschen herstellt, sondern durch das Handeln und Verhalten, Wahrnehmen und Deuten, mit dem Menschen das Bestehende bestaetigen, verfestigen und mit Sinn erfuellen oder in Frage stellen, neu entwerfen und veraendern. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen damit die aufeinander bezogenen Menschen und die zwischen ihnen stattfindenden Wechselwirkungen - Wechselwirkungen, die in groesserer oder geringerer Intensitaet zu Verfestigung durch Institutionalisierungen oder Gruppen- und Schichtenbildungen fuehren oder Segregation durch soziale Differenzierung oder Konflikte herbeifuehren koennen. Diese Wechselwirkungen [...] zwischen den sogenannten subjektiven und objektiven Faktoren des sozialen Lebens stellen fuer diese neuere sozialwissenschaftliche Denkrichtung die Grundsubstrate des Sozialen dar.' (Daniel 1995, S. 451-452).
Erfreulicherweise scheinen - zumindest zwischen zwei fuehrenden Vertretern der beiden Stroemungen - die Beruehrungspunkte zwischen Sozial- und Kulturgeschichte groesser als gemeinhin angenommen, die Suche nach 'common ground' alles andere als aussichtslos. Wenn Wehler zudem verkuendet, dass es nicht reicht, den Faktor Kultur einfach den bisher behandelten Gegenstandsbereichen 'additiv hinzuzufuegen' [sic!] (S. 149), steigen die Erwartungen des Lesers. Leider vermag es Wehler in seiner Auseinandersetzung mit den von ihm identifizierten Leitfiguren der Kulturgeschichte jedoch nur unzureichend, Ideen und Ansaetze zur Umsetzung dieser Erkenntnisse zu entwickeln. Allein die Diskussion Bourdieus sticht durch ihre analytische Brillanz heraus. Wehler gelingt eine beeindruckend klare Einordnung Bourdieus in die sozialwissenschaftliche Diskussion und eine anregende Eroerterung der Bedeutung Bourdieus fuer die geschichtswissenschaftliche Forschung. Wehler betrachtet insbesondere das Konzept des Habitus als Zugewinn, da es die wechselseitige Konstitution von Struktur und Akteur betont. Bourdieu steht damit in der Tradition Max Webers, dem Wehler ebenfalls ein Kapitel widmet. Hierin nimmt Wehler vor allem eine (Neu)Interpretation von Webers Religionssoziologie vor. So spannend diese auch ist, so wenig kann sie eine Diskussion der programmatischen Aufsaetze Webers ersetzen. Gerade nach Wehlers Eingestaendnis, dass die Sozialgeschichte Weber halbiert habe, haette man sich eine staerkere Eroerterung von Webers Grundlegung einer 'Kulturwissenschaft' gewuenscht. Dies ist um so dringender, als viele Vertreter der Kulturgeschichte sich eher von Weber abwenden und nach neuen 'Saeulenheiligen' Ausschau halten, statt den 'ganzen' Weber als Grundlage fuer eine historische Kulturwissenschaft zu reklamieren - etwa auch im Anschluss an Detlev Peukerts Interpretation von Webers 'Diagnose der Moderne' (Peukert 1989).
Das laengste Kapitel (50 von insgesamt 150 Seiten) widmet Wehler Michel Foucault - nach einer 'rigorosen Askese' (S. 46) in Form einer zweimaligen Lektuere aller ins Deutsche uebersetzten Schriften des franzoesischen Philosophen. Zwar vermag Foucault, so Wehler, den Blick zu schaerfen fuer bislang verschuettete oder ignorierte Probleme der Moderne. Doch er ist fuer Wehler vor allem ein 'irritierender Autor' (S. 77), ein 'intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlaessiger, kryptonormativistischer <<Rattenfaenger>> fuer die Postmoderne' (S. 91). Wehler kritisiert historische Unzulaenglichkeiten, den Machtmonismus, die Uebermacht des Sprachgeschehens sowie die radikale Ablehnung der Hermeneutik durch Foucault: 'Die Selbstdisziplin des um Verstehen und Erklaeren bemuehten Historikers ist etwas radikal anderes als diese Chimaere einer keimfreien, neutralisierten 'Archaeologie'-Taetigkeit.' (S. 59).
So episch breit die Kritik Foucaults anlegt ist, so skizzenhaft bleiben die Diskussionen Freuds, Eriksons und der Kulturanthropologie. Die kurze Diskussion Eriksons etwa endet mit dem lakonischen Hinweis, dass es bis heute keinen Grund gebe, auf das anregende Potential von dessen Sozialisationstheorie zu verzichten. Die gut 5 Seiten zur Kulturanthropologie muenden in dem Verweis auf das grosse Anregungspotential der Kulturanthropologie fuer die Sozialgeschichte, da Sozialgeschichte immer auch 'Verhaltens-, Perzeptions- und Deutungsgeschichte' sei (S. 141). Dies ist insofern symptomatisch fuer den gesamten Band, als Wehler hier eine interessante Forderung erhebt bzw. These aufstellt, ohne Forschungsstrategien sowie Fragestellungen zu deren Umsetzung in konkrete Forschungsprogramme zu entwickeln.
Fuer die Zukunft wuerde man sich eine direkte Auseinandersetzung mit gegenwaertigen Vertreterinnen einer historischen Kulturwissenschaft auf nationaler und internationaler Ebene wuenschen - so etwa mit Ute Daniels Vermessungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte (vgl. Daniel 1993) oder mit den konkreten Autoren, die 'Clio unter Kulturschock' gesetzt haben - nicht nur mit den 'grand theorists' im Hintergrund (vgl. Daniel 1997). Hier ist auch die von Wehler nicht thematisierte Frage zu klaeren, inwieweit, weshalb und mit welchen Konsequenzen die deutsche Diskussion in internationaler Perspektive eine nachholende ist.
Wehler ist zuzustimmen, dass man nicht pauschal ueber Kultur- und Sozialgeschichte urteilen kann (obwohl er genau dies im allzu sehr pro domo geschriebenen Schlusskapitel ueber die Vorzuege der Sozialgeschichte versucht). Letztendlich haengt die Entscheidung von konkreten Monographien ab, 'die nach den vertrauten Leistungskriterien: also im Hinblick auf die Ueberzeugungskraft der erkenntnisleitenden Interessen, die theoretische Kompetenz, die Praezisierung des analytischen Rahmens, die Wachheit des Methodenbewusstseins, die Intensitaet der Interpretation, die Belastbarkeit der empirischen Basis, im Vergleich mit ihrer Konkurrenz als ueberlegen wirken' (S. 10). Genau diese Kriterien sollte die zukuenftige Diskussion zwischen Sozialgeschichte und historischer Kulturwissenschaft im Auge behalten. Sorgen um die 'Meinungsfuehrerschaft', die auf Seiten der vermeintlichen und tatsaechlichen Meinungsfuehrer oft Rueckzugsgefechten gleichen, weichen dann selbstverstaendlich einer vorbehaltlosen Auseinandersetzung mit alternativen Ansaetzen und auch einer staerkeren Anbindung an die internationale Diskussion.
Wehlers Band kann als erster, kleiner Schritt in diese Richtung gewertet werden, ist aber letztendlich (vor allem im Schlusskapitel) zu defensiv geschrieben, um das Versprechen des ZEIT-Artikels einzuloesen. Man darf also weiterhin gespannt sein, ob und wie Wehler das 'Provisorium eines Experimentes' (S. 12) weiterentwickelt und zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Sozialgeschichte und historischer Kulturwissenschaft beitraegt.
Zitierte Literatur:
Daniel, Ute (1993) '"Kultur" und "Gesellschaft". Ueberlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte', Geschichte und Gesellschaft 19 (1), S. 69-99 Daniel, Ute (1995) Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Hoefe im 18. und 19. Jahrhundert (Stuttgart, Klett-Cotta). Daniel, Ute (1997) 'Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft', Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (4/5), S. 195-218; S. 259-278. Peukert, Detlev J. K. (1989) Max Webers Diagnose der Moderne (Goettingen, Vandenhoeck & Ruprecht). Wehler, Hans-Ulrich (1996) 'Von der Herrschaft zum Habitus', DIE ZEIT Nr. 44/1996 (25. 10. 1996), S. 46.