Titel
Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland


Autor(en)
Groschopp, Horst
Erschienen
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Burger, Bayerische Akademie der Wissenschaften; Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Max Weber Arbeitsstelle Heidelberg

Im Dezember 1907 hatten sich in der thüringischen Stadt Weimar Vertreter der wichtigsten freigeistigen Organisationen des späten 19. Jahrhunderts zusammengefunden. Sie berieten über eine vertiefte und abgestimmte Zusammenarbeit im Rahmen eines seit der Jahrhundertwende immer wieder geforderten Bundes all derjenigen Vereinigungen, Gesellschaften, Bünde und Vereine, in denen über ein moralisch und religiös selbstbestimmtes Leben jenseits konfessionell-kirchlicher Entwürfe und staatlicher Regelungen nachgedacht und kommuniziert wurde. Im Laufe des Jahres 1909 führte dies dann zur offiziellen Konstitution einer lose strukturierten und immer wieder reorganisierten Koordinationsstelle, dem sog. Weimarer Kartell. Dessen Aufgabe bestand bis zur verfassungsrechtlichen Neuregelung der religiösen Verhaltnisse im Jahr 1919 vor allem darin, die gemeinsamen Interessen der nicht kirchlich Gebundenen, von weltlich gestimmten Lebens- und Kulturreformern aller Schattierungen wahrzunehmen.

Bereits vor der Gründung hatte sich etwa in München im Verlauf des Jahres 1907 ein lokales Kartell aus Repräsentanten der diversen Vereinigungen gebildet. In weiteren Städten folgte man diesem Beispiel alsbald. So war die Gründung einer weiteren Agentur auf nationaler Ebene nur ein weiterer logischer Schritt im 'Zeitalter der Organisation'.

Zunächst durch die Büros lokaler Kartelle in München bzw. in Berlin koordiniert, befand sich die Geschäftsstelle des Weimarer Kartells seit Ende 1911 dann in Frankfurt am Main, geleitet von dem Religionshistoriker, Arabisten und Übersetzer Max Henning. Henning organisierte bereits den seit 1900 vom Frankfurter Industriellen Arthur Pfungst subsidierten Neuen Frankfurter Verlag und dabei vor allem die Zeitschrift 'Das freie Wort' mit der eher juristisch-praktischen Beilage 'Der Dissident'.

1912 stellte Henning dann erstmals ein "Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (Jahrbuch des Weimarer Kartells)" zusammen (2.Aufl.1914). Die darin enthaltenen Informationen zu Organisationen und Personen liegen, angereichert durch eine Fülle weiterer, dabei oft aber fragmentarischer Daten dem Buch von Horst Groschopp über die 'Kulturträger' der freidenkerischen Bewegung bis 1919 zugrunde.

In diesem Buch findet man nun, das ist für die weitere Forschung auf jeden Fall nützlich, Zusammenfassungen zur Geschichte und Programmatik einzelner beteiligter Vereine, etwa den Freidenkern im engeren Sinn, den Freireligiösen Gemeinden, der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, dem Giordano-Bruno-Bund, dem Deutschen Monistenbund, dem Bund für Mutterschutz usw. Daneben stehen kurze ideengeschichtliche Abrisse der Gedanken von Theoretikern wie Ernst Häckel, Wilhelm Ostwald, Franz-Carl Müller-Lyer, Rudolf Goldscheid u.a. sowie Darstellungen der insbesondere in den aufgeklärten, säkularen Kreisen lebhaft geführten Debatten um Sexualität, 'Euthanasie' und 'Rassenhygiene', Kindererziehung und neue Formen für das menschliche Bedürfnis nach Religion und Kultur in der modernen Welt des 20. Jahrhunderts.

Groschopp will in seinem Buch den "Motiven, Organisationen und Aktionen" der zahlreichen Initiativen nachgehen, der Frage, wie sie politisches Handeln begründeten, Institutionen und Werte prägten (S. 14). Die Monographie hat sechs Kapitel, und weil der Autor wohl selbst gespürt hat, daß man den Überblick verliert, ist dem Buch zum Schluß noch ein kurzer Abriß der Organisationsgeschichte bis 1914 beigegeben. Daß dieses Buch für die weitere Forschung nützlich sein kann, verdankt es vor allem auch der Tatsache, daß es ein Personenverzeichnis enthält, sodaß die fortlaufend in den Text eingearbeiteten zahlreichen Daten zu einzelnen Personen weiterverarbeitet werden können. Denn ein deutlicher roter Faden - das haben ja bereits auch andere Rezensenten festgestellt - fehlt. Trotz allerlei kulturtheoretischer Ausführungen (unter Berufung auf beispielsweise Carl Schmitt, Eric Vögelin, Jürgen Kocka u.a.) sieht sich Groschopp explizit als "Sammler empirischer Daten" (S. 59) und vor allem davon ist das Buch geprägt.

Lediglich im fünften Kapitel über die "Anfänge der 'Soziokultur'" findet sich so etwas wie ein sozialgeschichtlicher Erklärungsansatz für das behandelte Phänomen. Andeutungsweise wird evident, inwiefern sich in den freidenkerischen Kreisen die Entstehung einer neuen Schicht der "Kulturdienstleister" im Rahmen einer sich säkular ausdifferenzierenden Gesellschaft reflektierte (wobei ausgerechnet hier die konkret behandelten Beispiele der neuen Formen säkularer 'Kulturarbeit' - mit Ausnahme der von 1912 bis 1917 vor allem in Frankfurt gepflegten Idee einer 'Akademie des freien Gedankens' zur Ausbildung von 'Kulturwissenschaftlern' - in der Regel wohl weniger den 'freien Geistern' als sozialprotestantischen Bestrebungen zuzurechnen sind).

Obwohl in einzelnen Fragen begriffs- und organisationsgeschichtlich zeitlich weit ausgeholt wird, so geht es doch vor allem um die "klassische Phase" der Freidenkerei vor dem Ersten Weltkrieg. Unter die Viertelmillion der insgesamt rechtlich als 'Dissidenten' geführten Personen wurden etwa zu dieser Zeit auch 80 - 100000 Konfessionslose gezählt, von denen etwa 20 - 25000 freidenkerisch organisiert waren (unter ihnen habe es wiederum 6750 Monisten, 6000 Freidenker, 5000 proletarische Freidenker, 3500 Mutterschützer gegeben; S. 18). So problematisch solche Zahlen sind, entscheidend für die "Geschicke der organisierten deutschen Freidenkerei" sei etwa ein Dutzend Personen gewesen, die "Prominenten" (S. 21), mit etwa 1100 Personen im Vorfeld und Umkreis der behandelten Bestrebungen (S. 23). Das Ganze berechnet sich für Groschopp dann also auf einen Kreis von "etwa hundert besonders kommunikativen Personen", durch Mitgliedschaft in mindestens zwei Vereinen charakterisiert (S. 24).

Die konkreten sozialgeschichtlichen Ausführungen fallen insgesamt eher knapp aus: Groschopp bezeichnet die führende Personengruppe v.a. als Akademiker in den Mittvierzigern. Angehörige dieser Gruppe werden in der Regel als Intellektuelle, d.h. für ihn im wesentlichen ökonomisch deklassierte Bildungsbürger charakterisiert. Die "Führerschaft" sei dabei vor allem durch Professoren, Privatdozenten und Assistenten ausgeübt worden. Bei den Monisten und Mutterschützern seien auch Ärzte prägnant gewesen und die Ingenieure hätten "trotz ihres sehr geringen Anteils" eine (nicht näher erklärte) "Sonderstellung" innegehabt (S. 26). Auffällig bei dieser Charakteristik ist vor allem die Vernachlässigung der 'atheistischen Bestrebungen' im Rahmen der Arbeiterbewegung, von denen lediglich im dritten Kapitel kurz die Rede ist.

Die Darstellung der von ihm als 'Dissidenten' bezeichneten Gruppe zumeist literarisch oder durch Vorträge hervortretender Personen und ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung ist als Ganzes leicht zu kritisieren. Denn obwohl dieses Weimarer Kartell und die in ihm zusammengeschlossenen zahlreichen Organisationen formal offensichtlich den Ausgangs- und Endpunkt seiner Darstellung des Konglomerates freidenkerischer Personen und ihrer Ideen in wilhelminischer Zeit bildet, so ist Groschopps Buch keineswegs als eine zusammenhängende Geschichte konzipiert. Immer wieder werden - für sich auch anregend wirkende - Gedankengänge zum 'kulturwirtschaftlichen Strukturwandel' am Beginn des 20. Jahrhunderts eingeschoben, die ihrerseits dann aber wiederum unvermittelt in Daten und Fakten zu dieser oder jener Person enden. Eine explizite Auseinandersetzung mit der bereits vorliegenden religions- und kulturgeschichtlichen Forschung findet, auch in den Fußnoten, nicht statt.

Zudem wird diese Darstellung einer Personengruppe im Buchtitel unter dem Schlagwort der 'Dissidenten' annonciert - eines Begriffes also, der im 19. Jahrhundert traditionellerweise zur Bezeichnung 'anderer Christen' als der jeweils durch die offiziell anerkannten Kirchen Erfassten und im 20. Jahrhundert zumeist zur Bezeichnung oppositioneller Intellektueller in Diktaturen gebraucht wird. So sieht man sich unter historischen Gesichtspunkten nach der Lektüre bei einigem Nachdenken vor allem der Frage ausgesetzt, inwiefern - einmal abgesehen von der Opposition zu den staats- und zivilrechtlichen Regelungen -, Groschopps Dissidenten eigentlich wirklich von der sie umgebenden wilhelminischen Gesellschaft dissidierten. Diese Frage stellt sich vor allem dann, wenn, wie es bei Groschopp der Fall ist, weniger von religiösen denn vor allem von sozial- und kulturpolitischen Debatten in diesem Netzwerk die Rede ist. Um zwei Beispiel zu benennen: Folgte die Gesellschaft für ethische Kultur mit ihren Unterhaltungsveranstaltungen für Dienstmädchen nicht doch einem geradezu klassisch-idealistischen Konzept der bürgerlichen Versittlichung der Unterschichten? Waren die energetischen Monisten um Ostwald wirklich 'freie Thäter', wie Groschopp die Aufgabe des freien Denkens in Anlehnung an Nietzsche kennzeichnen will, oder nicht doch vielmehr oft besonders unkritische Apologeten und Popularisierer einer modernen ökonomischen Verwertungslogik?

An allgemeinen Darstellungen herrscht nach Groschopps Buch, wenn es zusammen mit der weitaus konziseren, auf bestimmte Fragen konzentrierten, und etwa zeitgleich erschienen Untersuchung von Frank Simon-Ritz über "Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland" (Religiöse Kulturen der Moderne, Bd.5., Gütersloh 1997) ausgewertet wird, trotzdem kein Bedarf mehr. Die Ideologie und die Organisationsgeschichte der relevanten Organisationen scheint nunmehr ausreichend erforscht zu sein.

Für die zukünftige Erforschung speziell der religiösen Verhältnisse im kaiserlichen Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts wäre es sicher nützlich, in Zukunft diesen Versuchen einer freien religiösen Selbstbestimmung jenseits konfessioneller Zuordnungen vor allem im jeweiligen lokalen oder regionalen Kontext nachzugehen. Welche intellektuellen Strategien wurden denn konkret von den freigeistigen Organisationen angewendet, um die Anerkennung als Religionsgesellschaft zu erreichen? Und inwiefern war es vor allem diese vor 1914 manchenorts erreichbar scheinende Möglichkeit, die eine neureligiöse Sinnsuche im Gegensatz zu einem atheistischen oder agnostischen Weltbild des 'klassischen' Freidenkers auslöste? Welche Rolle, so könnte man dann ausgehend von Groschopps Überlegungen zur Herausbildung einer säkularen Kulturpolitik fragen, spielten solche Bestrebungen dann in der konkreten Herstellung einer religiös-pluralistisch organisierten kommunalen Wirklichkeit? Wie wirkten sich diesbezügliche einzelne regionale und kommunale Zwangsregelungen auf Lebensführung und -wirklichkeit aus, mit welchen Mitteln und Argumenten wurde um den religiösen Freiraum gerungen (beispielsweise vor den Gerichten) und womit wurde der neue Freiraum denn konkret gefüllt? Was und wen lehrten 'Dissidenten' in Bildungsvereinen und in Volkshochschulen, wie erzogen sie ihre Kinder? Wie heirateten sie und wie beerdigten sie ihre Toten? Vielleicht würde es sich auch einmal anbieten, die abgesehen von den Meinungsführern doch oftmals eher 'kleinbürgerlichen' freireligiösen Gemeinden einmal mit örtlichen evangelischen Freikirchen zu vergleichen.

Die Beantwortung solcher Fragen könnte dem, bis jetzt vor allem in Vorworten artikulierten, kulturgeschichtlichen Erkenntnisinteresse vielleicht ein wenig weiterhelfen.

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