S. Froehlich: Handlungsmotive bei Herodot

Cover
Titel
Handlungsmotive bei Herodot.


Autor(en)
Froehlich, Susanne
Reihe
Collegium Beatus Rhenanus 4
Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina John, Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

Im Zentrum von Herodots Historien steht die Frage, warum Griechen und Barbaren „gegeneinander zum Kriege schritten“ (Hdt. 1,1). Die Erforschung von Ursachen, Gründen und Handlungsmotiven beschäftigt Herodot aber nicht nur im Hinblick auf diese „großen historischen Fragen“, sondern auch, wenn es um die „oft ganz trivialen Beweggründe seiner Protagonisten“ (S. 11) geht. So diskutiert der Historiker an zahlreichen Stellen die Handlungsmotive seiner historischen Akteure – von den Babyloniern, die wegen ihrer Armut ihre Töchter verkaufen (Hdt. 1,196), bis hin zu Xerxes’ Entscheidung für den Zug nach Griechenland, die auf einer ganzen Palette von Motiven beruht (Hdt. 7, 5–19). Susanne Froehlich vertritt in ihrer Dissertation die These, dass Herodot seine Motivzuschreibungen bewusst geschaffen und ausgewählt hat und dass sie ein gattungsspezifisches Charakteristikum der Historiographie darstellen. Froehlich grenzt sich damit gegenüber der bisherigen Forschung ab, die viele Handlungsgründe in den Historien als „unhistorisch“ abtut und Herodots Arbeit deswegen streckenweise nur sehr selektiv benutzt.1

Im Anschluss an eine ausführliche Einleitung (S. 11–33) erstellt Froehlich eine Typologie von 51 verschiedenen Handlungsmotiven in den Historien (S. 35–82). Sie unterscheidet emotionale und charakterliche, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, ästhetische, religiöse und durch äußere Einwirkungen begründete Motive. Diese Motive sind insgesamt sehr vielschichtig und vielseitig. Froehlich widerlegt damit die These der älteren Forschung, die wichtigsten Handlungsgründe in den Historien seien persönlicher Natur gewesen.2 Sie schreibt im Gegensatz dazu gerade den Handlungsmotiven eine zentrale Rolle für die historiographische Darstellung Herodots zu und schließt von ihnen auf die Differenziertheit der Geschichtsvorstellungen seiner Zeit.3

Auf der Grundlage dieser Typologie der Handlungsmotive erarbeitet Froehlich in einem zweiten Kapitel (S. 85–134) Erklärungsmuster, die auf das Handeln bestimmter Personen bzw. Personengruppen (Personen in ferner und naher Vergangenheit, Griechen und Nichtgriechen, Männer und Frauen, Gruppen und Gemeinschaften als Akteure, Götter und Heroen) oder auf bestimmte politische Entscheidungen (Kriege, Aufstände und Herrscherwechsel, Koloniegründungen) zugeschnitten sind. Sie erörtert den jeweiligen Kontext der Motive und zeigt Querverbindungen zwischen Geschichten auf, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Froehlich erweist, dass Herodot jeweils feste Erklärungsmuster benutzt, die er oft wohl schon als typologische Erzählmodelle in seinen Quellen vorgefunden hat. Durch den Rückgriff auf althergebrachte Muster untermauert der Historiker die Glaubwürdigkeit und Verständlichkeit seiner Erzählung.

Am Beispiel der zwischen Großherzigkeit und Größenwahn (megalophrosýne, Hdt. 7,22–24. 136,2) äußerst ambivalent agierenden Figur des Perserkönigs Xerxes diskutiert Froehlich in einem dritten Kapitel ihre bisherigen Ergebnisse (S. 135–148). Im Zentrum steht dabei Xerxes’ Entscheidung, gegen die Griechen in den Krieg zu ziehen. Wenn Herodot die Frage nach Xerxes’ Motiven beantwortet, gehe er erzählerisch vor, so Froehlich. Er beschränke sich dabei nicht darauf, Traditionen zusammenzutragen und neu zu arrangieren, sondern gehe verschiedenen Aspekten des Problems nach, um so zu begründeten eigenen Antworten zu kommen. Seine Entscheidung beruhe in erster Linie auf Prestige und Ehre, Sitte und Tradition, Strafe, Rache und der Feindschaft gegen Athen. Nach Froehlich handelt es sich damit um eine gut nachvollziehbare und von rationalen Gründen geleitete Entscheidung, die auf das Verständnis und die Zustimmung der Leserschaft hin ausgelegt ist. Ihrer Meinung nach ist gerade die in den Motivzuschreibungen zum Ausdruck kommende Komplexität von Herodots Xerxes-Darstellung ein besonderes Charakteristikum seiner Geschichtsschreibung.

In einer anschließenden Zwischenbilanz (S. 149–162) untersucht Froehlich auf der Grundlage des zuvor analysierten Materials Herodots Arbeitsweise. Sie fragt nach dem Ursprung der Motivzuschreibungen in seinem Werk, danach, welche Erfahrungen sie beim Leser voraussetzen und welche Funktion und Bedeutung ihnen innerhalb der Historien zukommt. Froehlich führt die Motivzuschreibungen Herodots dabei auf vier unterschiedliche Ebenen zurück: Sie sieht logisch ableitbare Motive auf der Ebene der Handlung. Es handelt sich um Beweggründe, die unabhängig vom historischen Hintergrund oder dem Rahmen der Erzählung funktionieren; so sind etwa militärische Rückwärtsbewegungen mit dem Motiv Furcht verbunden. Auf der Ebene des Materials sieht Froehlich Zuschreibungen, ohne die die Erzählung nicht funktionieren würde, sie sind also untrennbar mit einer bestimmten Geschichte verbunden. So versetzt an mehreren Stellen in den Historien ein Traum einen Protagonisten so sehr in Angst, dass er in der Folge versucht, das im Schlaf gesehene Schicksal zu vermeiden. Prominentes Beispiel ist die Erzählung über die Kindheit des Kyros (Hdt. 1,108). Eine dritte Ebene ist diejenige der Gegenwartsbezüge; hier werden Erklärungsmodelle aus heutiger Sicht in teils anachronistischer Weise auf andere Epochen übertragen: Herodot lässt etwa in der sogenannten Verfassungsdebatte (Hdt. 3,80–82) persische Adelige im Jahr 522 v.Chr. über politische Konzepte diskutieren, die eigentlich seiner eigenen Zeit und Kultur entstammen. Gelegentlich lassen sich darüber hinaus zustimmende oder kritische Selbstzuschreibungen von Motiven auf der Ebene der historischen Akteure ausmachen. Beispielsweise soll Miltiades bei seinem Zug gegen Paros der athenischen Volksversammlung erklärt haben, er wolle die parische Unterstützung der Perser vergelten, während er in Wirklichkeit von einem persönlichen Groll getrieben wurde (Hdt. 3,31,1).

Den Motivzuschreibungen kommt nach Froehlich in den Historien einerseits eine narrative Funktion zu. Sie sieht Herodots besondere Leistung andererseits in der Entwicklung eines vielseitigen Inventars von Beweggründen zur Erklärung historischen Handelns. Die Motivzuschreibungen vermitteln historische Zusammenhänge, sie verringern die kultur- und zeitbedingte Distanz zwischen den Lesern und den Protagonisten der Erzählung. Durch die detailliert besprochenen Handlungsmotive lenkt der Historiker den Fokus seiner Erzählung von einem einfachen Tatsachenbericht (was geschieht) hin zu einer Ursachenstudie (wie und warum passiert etwas). Festzuhalten ist, dass in Herodots Erklärungen im Sinne einer intentionalen Geschichte zeitgenössische Geschichtsvorstellungen wie der Freiheitsdiskurs oder die Begründung von Kriegen deutlich werden.

In einem letzten Kapitel vergleicht Froehlich die herodoteischen Handlungsmotive mit denjenigen bei Aischylos und Thukydides (S. 163–180). Der Vergleich mit Aischylos macht deutlich, dass fast die gesamte Bandbreite der Handlungsmotive der Historien schon in den „Persern“ vorhanden ist. Aber erst Herodot hat sich eingehend mit diesen Motiven beschäftigt.4 Der Vergleich mit Thukydides zeigt, dass die Handlungsmotive von Thematik und Kontext eines Werkes abhängen. Im Gegensatz zu bisherigen Arbeiten betont Froehlich, dass der Unterschied zwischen Herodot und Thukydides nicht so sehr in einer „objektiveren“ Argumentation des Thukydides liege, sondern vielmehr quantitativer Art sei.5 Der Vergleich mit beiden Autoren untermauert Froehlichs Eingangsthese, dass Herodot gerade im Bereich der Erklärungen von Handlungen historisch argumentiere und dass die bei ihm auftretenden Handlungsmotive speziell für die Historiographie charakteristisch seien. Die klar und sinnvoll gegliederte Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 181–187). Das Werk verfügt über einen detaillierten Anhang, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register.

Froehlichs Argumentation ist gut nachvollziehbar und logisch aufgebaut. Froehlich überzeugt vor allem durch ihre Stringenz, viele detaillierte Beobachtungen und präzise Formulierungen. Sie hat damit ein lesenswertes Buch vorgelegt – nicht nur für Interessierte an Herodot und der griechischen Geschichtsschreibung, sondern auch für alle Altertumswissenschaftler, die sich auf der Suche nach einer „historischen Wahrheit“ mit Ursachen, Gründen und Handlungsmotiven auseinandersetzen.

Anmerkungen:
1 Beispielsweise spricht Felix Jacoby in seinem RE-Artikel von einer Missachtung „historischer“ Motive bei Herodot vgl. Art. „Herodotos“, RE Suppl. II (1913), Sp. 205–520, hier Sp. 482. Vgl. auch Jacqueline de Romilly, La vengeance comme explication historique dans l’œuvre d’Hérodote, in: Revue des Études Grecques 84 (1971), S. 314–337, hier S. 318.
2 So z.B. Walter Stahlenbrecher, Die Motivation des Handelns bei Herodot, Hamburg 1952; Ludwig Huber, Religiöse und politische Beweggründe des Handelns in der Geschichtsschreibung des Herodot, Tübingen 1956, S. 235; de Romilly, vengeance, S. 334–336.
3 Froehlich versteht Herodots Werk als Zeugnis intentionaler Geschichte. Zum Konzept der intentionalen Geschichte vgl. Hans-Joachim Gehrke, Mythos, Geschichte, Politik – antik und modern, in: Saeculum 45 (1994), S. 239–264; ders., Myth, History, and Collective Identity. Uses of the Past in Ancient Greece and Beyond, in: Nino Luraghi (Hrsg.), The Historian’s Craft in the Age of Herodotus, Oxford 2001, S. 286–313; ders., Was heißt und zu welchem Ende studiert man intentionale Geschichte? Marathon und Troja als fundierende Mythen, in: Gert Melville / Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beitrage zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln 2004, S. 21–37.
4 Alle in den „Persern“ benutzten Beweggründe kommen auch in den Historien vor.
5 Bei Thukydides lassen sich 42 Motive unterscheiden, es finden sich außer den ästhetisch begründeten Motive alle bei Herodot anzutreffenden Bereiche wieder, vgl. Stahlenbrecher, Motivation, S. 143–163; Huber, Beweggründe, S. 195f.; de Romilly, vengeance, S. 333 u. 337.

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