Sowohl in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung als auch in politischen Diskussionen ist Gentrifizierung in den letzten Jahren ein bestimmendes Thema. Während die sozialwissenschaftliche Literatur dazu wächst und sich Kampagnen für ein „Recht auf Stadt“ (unter Beteiligung vieler StadtforscherInnen) kritisch an Gentrifizierung als politisch-ökonomischer Strategie abarbeiten1, hat sich seit Barbara Langs Buch zum „Mythos Kreuzberg“2 und mit Ausnahme von Tanja Marquarts Magisterarbeit über den Berliner Kollwitzplatz3 im deutschsprachigen Raum kaum mehr eine Monografie aus dezidiert kulturwissenschaftlicher Perspektive mit diesem Prozess beschäftigt. Das ist insofern verwunderlich, als (Stadt-)Kultur im Sinn einer nicht vollends steuerbaren ästhetischen Zeichen- und Atmosphärenproduktion Gentrifizierungsprozesse allem Anschein nach entscheidend prägt4 und somit ein genuin kulturanalytischer Beitrag, der die Wechselwirkungen zwischen dem Ökonomischen, dem Sozialen und dem Kulturellen genauer beleuchtet, überfällig wäre.
Die Kölner Dissertation der Musikethnologin Christina M. Heinen beschäftigt sich nun mit dem Anteil von Musikszenen beziehungsweise „Soundkulturen“ an urbanen Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen und fragt, inwiefern „Zusammenhänge […] zwischen den musikalischen und ästhetischen Praktiken […] und dem Strukturwandel im Kiez“ (S. 9) bestehen. Schon die transdisziplinäre Literaturliste aus Stadt- und Musikszenen-Forschung, Kultur- und Kunstgeschichte, Pop- und Kunsttheorie bringt die Stadt-Szenen-Forschung in Deutschland einen guten Schritt weiter. Heinen konzentriert sich in ihrer Studie auf Musiker, die seit 2005 nach Neukölln gezogen sind. Sie hat 55 qualitative Interviews mit MusikerInnen geführt und erkundet drei musikalische Szenen, nämlich Songwriter in der Independent-Tradition sowie, ausführlicher, Dubstep-Produzenten und DJs (Dubstep ist eine Spielart basslastiger elektronischer Tanzmusik) sowie die avantgardistische Improvisations- und Experimentalmusik. Sie zeigt, welch große Rolle jeweils eine lokale Infrastruktur aus Veranstaltungsräumen, Treffpunkten und Blogs sowie ein ernsthafter Lokalismus und Lokalpatriotismus spielt, ohne dass dies eine gleichzeitige translokale Organisationsform ausschließen würde. Erfreulich ist, dass die ästhetischen Programme und die Performanzen der musikalischen Szenen in diese ethnografischen Beschreibungen ausführlich einfließen: So macht die Autorin zum Beispiel sehr gut nachvollziehbar, wie beim Songwriter-Pop verschiedene Elemente zusammenwirken: eine „leise“ und „harmlose“ (S. 69ff.) musikalische Ästhetik; der kollektive Glaube an die lokale Gemeinschaft der Aufmerksamen und Wohlmeinenden sowie, ganz prosaisch, die kleinen Veranstaltungsräume ohne Schallisolierung, in denen nur bis 22 Uhr musiziert werden darf.
Zugleich betreiben Szene-AkteurInnen eine ständige Ästhetisierung der städtischen Umgebung im Symbolischen: So wird von vielen MusikerInnen das „vermeintlich Hässliche“ (S. 101) in der räumlichen Umgebung, zum Beispiel herumliegender (Sperr-)Müll, ganz in der Bohème-Tradition als reizvoll und schön wahrgenommen, während alteingesessene NeuköllnerInnen als „authentische“ Staffage einer (binnen-)exotischen Stadterfahrung genutzt und zugleich („kosmopolitisch“) auf Abstand gehalten werden – so scheint es zumindest; man hätte hier gerne mehr über die alltägliche Seite der Nachbarschaftlichkeit gelesen oder auch über Kunst- und Politik-Projekte, die sich mit solchen Trennlinien zwischen Milieus beschäftigen.
Für den Argumentationsgang entscheidend ist aber das fünfte Kapitel des Buches, das den „medialen Raum Neukölln“ behandelt. Es beschreibt, wie die gängigen Problem-Reportagen und die Berichterstattung über das neue Szeneviertel den gelebten und repräsentierten Raum (Lefèbvre) des Viertels mit-produzieren, in dem sich auch die MusikerInnen bewegen und zu dem die Forscherin ihrerseits nolens volens beiträgt (vgl. S. 27ff.). Im zweiten Teil dieses Kapitels nimmt die Autorin dann die stadtpolitische Seite in den Blick und stellt Interviews mit der Kulturamtsleiterin des Bezirks und mit einer Stadtplanerin vor, die in städtischem Auftrag eine „Zwischennutzungsagentur“ betreibt, der auch einige der porträtierten Ladenlokale ihre günstigen Mietkonditionen verdanken. Dies und weitere Beispiele illustrieren die Tatsache, dass einige städtische Institutionen sehr bemüht sind, die Musik- und Kunstszene logistisch zu unterstützen. Sie weisen dem Ästhetischen dabei, vereinfacht gesprochen, vor allem zwei Funktionen zu, die in unterschiedlicher Weise fragwürdig sind, nämlich (a) Partizipation und „Empowerment“ für die gesamte Nachbarschaft zu befördern und (b) im Sinne der vielbeschworenen Kreativwirtschaft zum Wirtschaftswachstum und zu einer Ausbreitung des unternehmerischen Paradigmas beizutragen. Zugleich, und da greifen die bekannten Gentrifizierungsmechanismen, dient die Erzählung vom kulturell „brummenden“ Neukölln dem Imagewandel des Bezirks. Angesichts dieser Passförmigkeit der Musikszenen fügen sich damit alle Beobachtungen der Studie scheinbar nahtlos zusammen: Die „Raumproduktion“ der Musikszenen exotisiert, romantisiert und ästhetisiert das Viertel und macht es überhaupt erst zur abgrenzbaren, erlebbaren räumlichen Einheit („Kreuzkölln“), die Stadt fördert und begleitet diese Entwicklung und lässt, zynisch gesprochen, den naiven jungen Leuten die Illusion, sie handelten weit ab von Staat und Kapital. Die Selbst-Stilisierung der KünstlerInnen als subversiver „Underground“ jenseits von kommerziellen Erwägungen und institutioneller Lenkung (S. 304) erweist sich angesichts dieser funktionalen Verschränkung als Selbsttäuschung.
Zu fragen bleibt aber, ob diese Analyse nicht zu sehr von der Auseinandersetzung mit der „subkulturellen Ideologie“ (Sarah Thornton5) selbst geprägt bleibt. Die Erkenntnis, dass gerade diejenigen „Pioniere“, die alternative Lebensformen ausprobieren wollen, soziale Verdrängungsprozesse vorantreiben, denen sie dann oftmals auch noch selbst zum Opfer fallen, hat bekanntlich schon so manch ein progressives Selbstbild ins Wanken gebracht. Aber: Was das Verhältnis von Szenen und Institutionen betrifft, so haben verschiedene AutorInnen spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre deren Verwobenheit als Strukturmerkmal von populärer Kultur in postfordistischen Zeiten porträtiert und ihren Zusammenhang mit Inwertsetzungsprozessen beschrieben6; von der neueren Diskussion um die Funktionen von künstlerischer Kreativität für neoliberale „Gouvernementalität“, die Heinen anführt, gar nicht erst zu reden. Deshalb irritiert es ein wenig, dass die Autorin sich so stark an der Dekonstruktion von Vorstellungen von Autonomie und Subversion abarbeitet, die man in der kulturwissenschaftlichen Diskussion eigentlich überwunden glaubte, anstatt verschiedene Formen der Durchdringung von subkulturellem und institutionellem Handeln genauer zu beleuchten.
Zudem: Dass die „Romantisierungen“ und „Selbst-Stilisierungen“ musikalischer Szenen in urbanen Räumen fragwürdig sind, steht außer Zweifel, aber als Selbsttäuschungen allein bleiben sie missverstanden. Ein Gesprächspartner, Jeffrey, bringt die Ambivalenzen sehr schön zur Sprache: „The thing, that is here, is the feeling, that kind of – and this is going to sound romantic, but it is romantic, and also real and relevant – the feeling that this (Neukölln) is a place, that everyone has run away to, a place that somehow saves from something else. The word haven is very important“ (S. 224). Gut möglich, dass Jeffrey, wenn er Neukölln als Rückzugsraum beschwört, seinen Anteil an der Gentrifizierung des Viertels nicht vollends durchschaut. Aber inwiefern dieser Romantizismus trotzdem „real“ und „relevant“ sein kann, das geht in der Studie eher unter.
Dass „Tief in Neukölln“ nicht als letztes Wort zur Erforschung der Gentrifizierung Neuköllns gelten wird, hat auch mit den Grenzen der methodischen Herangehensweise zu tun. Der repräsentationstheoretische Ansatz führt hier zu einer sehr starken Gewichtung von Interviewaussagen, die Auskunft über die Vorstellungsebene (den repräsentierten Raum) geben sollen. Die Stadt fungiert hier eher als „Projektionsfläche“ (S. 295) für Vorstellungen, die sich die Akteure machen, und die die Ethnologin dann kritisch-entmystifizierend kommentiert (vgl. S. 129–131; 296). Somit erweckt die Studie gelegentlich den Eindruck, als gäbe es keine materiellen, sozialen und kulturellen Prozesse (beziehungsweise als seien diese wissenschaftlich nicht zugänglich), sondern nur Vorstellungen von ihnen.
Trotz dieser Kritikpunkte: Die Studie leistet einen substanziellen Beitrag zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Szenen-Forschung sowie zur Berlin-Forschung. Auch wenn der Rezensent einige Kontextualisierungen als eindimensional ansieht, stellen diese fraglos kritikwürdige Aspekte zur Debatte. Hervorzuheben sind zudem die vielfältigen Einblicke in die Lebenswelten von Musikerinnen und Musikern, auf die künftige HistorikerInnen sicherlich mit Interesse blicken werden, und der Fokus auf die internationale, in mehrfachem Sinne kosmopolitische Zusammensetzung dieser Szenen.
Anmerkungen:
1 Andrej Holm / Dirk Gebhardt (Hrsg.), Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignung, Hamburg 2011.
2 Barbara Lang, Mythos Kreuzberg. Ethnografie eines Stadtteils (1961–1995), Frankfurt am Main 1998.
3 Tanja Marquart, Käthes neue Kleider. Gentrifizierung am Kollwitzplatz aus lebensweltlicher Perspektive, Tübingen 2006.
4 Vgl. dazu zu Berlin insbesondere Anja Schwanhäußer, Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene, Frankfurt am Main 2010.
5 Sarah Thornton, Clubcultures. Music, Media and Subcultural Capital, Cambridge 1995.
6 Tom Holert / Mark Terkessidis (Hrsg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1997. Ayse Caglar, Management kultureller Vielfalt. Deutsch-türkischer Hip-Hop, Rap und Türkpop in Berlin, in: Sabine Hess / Ramona Lenz (Hrsg.), Geschlecht und Globalisierung. Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume, Königstein 2001, S. 221–241.