Cover
Titel
Zollverein. Eine Ruhrgebietszeche im Industriezeitalter 1847 bis 1914


Autor(en)
Gawehn, Gunnar
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen – Schriftenreihe A: Darstellungen 55
Erschienen
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Zeche Zollverein ist heute überregional bekannt als drittes Industriedenkmal auf der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste und als beeindruckender Ausstellungsort. Ihre Ursprungsgeschichte als expandierender Ort von Arbeit und Industrialisierung präsentiert Gunnar Gawehn in seiner 2010 an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Dissertation. Als Ziel seiner Studie postuliert Gawehn, ein paradigmatisches Beispiel zur Geschichte des industrialisierten Ruhrbergbaus zu skizzieren und die Vorbildfunktion der unter Franz Haniel etablierten Zeche herauszuarbeiten. Letzteres muss er allerdings an anderer Stelle relativieren: So blieb Zollverein im Familienbesitz, während andere namhafte Betriebe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die Form der Aktiengesellschaft wechselten.

Gawehn widmet sich einer Überblicksdarstellung der Zeche im Zeitraum 1847 bis 1914 mit ihren vielfältigen Einzelaspekten wie Grubenbetrieb (insbesondere im Übergang zum Tiefbau und zum industrialisierten Bergbau), Koksproduktion, Nebenproduktgewinnung, Übergang zur Großschachtanlage und Einfluss auf die Siedlungsentwicklung der Sitzgemeinde über einen Zeitraum von fast 70 Jahren. Für eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit verwundert der Verzicht auf eine methodische Reflexion.

Die Studie ist in fünf, überwiegend chronologisch aufeinander aufbauenden Abschnitten angelegt. Der erste Abschnitt gilt der Unternehmerpersönlichkeit Franz Haniel und den Rahmenbedingungen der Zechengründung in der Phase der Frühindustrialisierung bis 1850. Der Autor kann aufzeigen, welch zentrale Bedeutung die strategische Netzwerkpflege z.B. innerhalb der Familie zur Kapital- und Wissenskumulation oder in Unternehmerzusammenschlüssen wie dem Bergbau-Verein annahm und welch fundamentalen Einfluss die Anbindung an die Eisenbahn für die Unternehmensentwicklung hatte. Frühzeitig orientierte sich die Zeche an überregionalen Märkten. Impulse für Haniels verstärktes Interesse an der Kohlegewinnung lieferte seine Beteiligung an der Hüttengewerkschaft Jacobi, Haniel & Huyssen (JHH), wenngleich die Eingliederung Zollvereins als Hüttenzeche scheiterte. Voraussetzung für eine exponentielle Unternehmensentwicklung, wie sie sich im Ruhrbergbau in der Industrialisierung abzeichnen sollte, war allerdings die Neuordnung des preußischen Bergrechts, das mit der Abkehr vom Direktionsprinzip den Unternehmern überhaupt die Möglichkeit gab, über ihren Besitz entsprechend zu verfügen. Auch zugunsten dieser Neuregelung engagierte sich Haniel stark.

Kapitel III widmet sich dem Beginn als Gründerschachtanlage und streift dabei kurz verschiedene Themen wie die soziale Lage der Bergarbeiter und die Arbeitsverhältnisse. Gerade die Entscheidung, die Koksproduktion und die Nebenproduktgewinnung zu forcieren, sollte sich zugunsten des Unternehmensausbaus auswirken. Erstere verband das Unternehmen stark mit der Stahlherstellung. Dem Fahrwasser von Konjunktur und Krisen der 1850er- und 1860er-Jahre (Kapitel IV) folgt der Abschnitt, in dem die Industrialisierung auch auf Zollverein stark an Fahrt aufnahm: Seit den 1880er-Jahren entwickelte sich Zollverein zur Großschachtanlage (Kap. V) und wurde damit zu einer der förderstärksten Anlagen des Ruhrreviers. Einen entsprechenden Einfluss übte Zollverein auf die Verhandlungen des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats aus. Die Phase zwischen 1880 und 1914 prägten – wie bei anderen Betrieben des Ruhrgebiets auch – die Umstellung auf Mechanisierung und Elektrifizierung, eine starke Zuwanderung von Arbeitskräften und deutlich spürbare Folgewirkungen der Produktion für die Umwelt. Als Besonderheiten Zollvereins zeigt Gawehn auf, dass der Grubenvorstand, der eine lange personelle Kontinuität der Familie Haniel aufwies, einerseits für die Leitung der Zeche bis 1914 weiterhin auf intern sozialisierte ehemalige Bergschüler und nicht etwa auf akademisch gebildete Bergassessoren setzte. Andere Zechengesellschaften hatten seit Ende der 1880er-Jahre auf diesen Typ von Führungskräften umgestellt. Bis zum Ersten Weltkrieg setzte sich auf Zollverein keine klassische Managerherrschaft durch. Andererseits fand mit der Anstellung eines kaufmännischen Direktors und der Einführung des Buchhaltungs-/Rechnungswesens eine deutliche Modernisierung im Bereich der Unternehmensführung statt. Die krisenhafte Phase zwischen 1874 und 1895 ging auch an Zollverein nicht spurlos vorüber, allerdings arbeitete die Zeche zumeist kostendeckend oder sogar gewinnbringend und blieb im Familienbesitz.

Quer zu den chronologischen Schnitten liegt das letzte Kapitel, das das Verhältnis der Zeche zu ihrer Sitzgemeinde Katernberg auslotet: Kaum überraschend dominierte die Zeche bald in Entscheidungen über die Entwicklung der Standortgemeinde, die angesichts der (wirtschaftlichen) Expansion der Zeche und dem entsprechenden Zuzug an Arbeitskräften vor ganz neue Probleme von Siedlungspolitik und infrastruktureller Versorgung gestellt wurde. Um Schadensersatzansprüchen wegen Bergschäden aus dem Weg zu gehen und größte Möglichkeiten der Betriebsführung ausschöpfen zu können, wurde Zollverein größter Bodenbesitzer im Essener Nordosten. Unternehmensinteressen vertraten leitende Angestellte in der Gemeindepolitik, die spätestens mit der Jahrhundertwende jegliche Unabhängigkeit eingebüßt hatte. Zudem verlieh die Stellung als größter Steuerzahler und Arbeitgeber der Zeche ein kommunalpolitisches Schwergewicht. Aus einer dünnbesiedelten Landgemeinde wurde eine der bevölkerungsreichsten Kommunen in Preußen, die sich aber angesichts benötigter finanzieller Mittel als völlig überfordert darstellte. Gawehns Fallbeispiel unterstreicht frühere Forschungsergebnisse1 von infrastrukturellen Defiziten in den industrialisierten Landgemeinden, was die Versorgung mit Wasser, Gas, Strom und Personennahverkehr sowie jegliche kulturelle Ausstattung angeht. Schulen und Kirchen entstanden vielfach mit starker finanzieller und materieller Unterstützung der Zeche(n), Konsumanstalten und die dringend benötigten Wohnungen bzw. Siedlungen ganz in Regie des Unternehmens. So flossen beachtliche Finanzströme durch Mieten und Lebensmittelpreise wieder an die Zeche zurück. Die verstreute, nicht geschlossene Lage von Zechenkolonien und das Fehlen bzw. nachträgliche Herstellen einer „Ortsmitte“ verhinderte für den Betrachtungszeitraum die Ausbildung eines urbanen Charakters. Ganz an seinen wirtschaftlichen Interessen orientiert, entfaltete das Unternehmen eine unangefochtene raumprägende Kraft. Die Studie endet vor der nächsten Phase einschneidender Expansion der Zeche um 1929/30, die zum Teil noch im heutigen Baubestand abzulesen ist.

Gawehn verschränkt seine Informationen zum konkreten Beispiel Zollverein mit allgemeinen Entwicklungen im Ruhrbergbau, liefert an einigen Stellen Verweise, inwieweit andere Unternehmen ähnlich handelten bzw. sich von Haniels Erfahrungen inspirieren ließen. Eine offenbar unterschiedliche Dichte der Quellenlage zeichnet sich im Text ab: Neben Abschnitten mit vielen Details aus dem häufig als „Musterzeche“ gehandelten Unternehmen stehen andere Stellen, die sich fast nur auf allgemeine Entwicklungen im preußischen bzw. Ruhrbergbau beschränken. Eine Fülle an Datenmaterial verarbeitet Gawehn in zahlreichen Grafiken.

Anders als in vielen Beiträgen der „grauen Literatur“ zu Zechen bzw. Industrieorten (z.B. Arbeiten ehemaliger Werksangehöriger oder lokaler Geschichtswerkstätten zu Erfahrungsberichten oder zur Technikgeschichte) ordnet Gawehn seine Funde zu den Verhältnissen auf Zollverein in den Kontext allgemeiner Entwicklungen des Ruhrbergbaus ein. Das Buch bleibt aber letztlich im Großen und Ganzen – wie vom Autor beabsichtigt – eine detailreiche Einzelfallstudie zu den ersten Jahrzehnten einer der bedeutendsten Ruhrgebietszechen.2

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. die einschlägigen Studien von Detlev Vonde, Klaus Tenfelde und Jürgen Mittag.
2 Gawehn grenzt seine Studie deutlich gegenüber anderen aktuellen Projekten ab: Seine Studie beabsichtige nicht, eine Überblicksgeschichte des Ruhrbergbaus zu liefern. Vgl. demgegenüber das ambitionierte Projekt des von Klaus Tenfelde herausgegebenen Handbuchs „Geschichte des deutschen Bergbaus“, 4 Bände, Münster 2012–2016.

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