Cover
Titel
Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied


Autor(en)
Etkind, Alexander
Reihe
Cultural Memory in the Present
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 300 S.
Preis
€ 71,69
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Makhotina, Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilian-Universität München

Das abschreckende Bild von wiederauferstandenen Toten bzw. Werwölfen, Vampiren und Zombies ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert durch Filme und Computerspiele populär. Viel weniger figuriert der „Untote“ als Gegenstand von Kulturstudien, historischer Anthropologie und selbst der Geschichte der Erinnerungskultur.1 Gerade diese analytische Kategorie wählt Alexander Etkind für seine Analyse des Umgangs mit der stalinistischen Vergangenheit in Russland. Sein Ansatz: Er sieht die Opfer des Stalinismus als „Untote“, die mit ihren Geschichten noch Jahrzehnte nach dem erlebten Leid die Nachgeborenen verfolgen – da sie weder endgültig von Erde verschwunden, noch vom sozialen Umfeld aufgenommen worden sind. Die „Unbeerdigten“ holen die Erlebnisse, auch den gewaltsamen Tod, in das Bewusstsein der post-stalinistischen Gesellschaft zurück. Die „Untoten“ und Gespenster tummeln sich im privaten wie im sozialen Raum – in der sowjetischen wie in der post-sowjetischer Zeit – und bleiben bis das Gedenken an sie kulturell verfestigt wird.

Wie die Erfahrung des Ausnahmezustands die Menschen noch immer verfolgt, sie nicht loslässt und gleichzeitig zu einer verzerrten („warped“) Trauerarbeit führt, macht Etkind an unterschiedlichen künstlerischen, literarischen, historiografischen und familiär-alltäglichen Diskursen deutlich. Für diese Analyse ist der Autor von seinem akademischen Weg her bestens gewappnet: promoviert in Psychologie in Leningrad, ist er als Slawist ein herausragender Kenner der russischen Literatur und als Leiter des abgeschlossenen Projektes „Memory at War“ an der Universität Cambridge auch mit den Erinnerungsdiskursen in Russland vertraut. Seine Bücher „Eros des Unmöglichen: Geschichte der Psychoanalyse in Russland“ und „Innere Kolonisierung: Russische Imperiale Erfahrung“ haben sowohl im angelsächsischen als auch im deutschen und im russischen Raum hohe Wellen geschlagen. Auch biografisch ist er durch seinen Onkel, dem bekannten Literaturwissenschaftler und Dissidenten Efim Etkind, mit der Erfahrung der Verfolgung im Sowjetsystem verbunden.

Trauma als Analysekategorie hat nicht nur in der Psychoanalyse Tradition, es wurde seit geraumer Zeit auch für die Erinnerungskultur und Literaturwissenschaft zum Gegenstand der Reflexion.2 Auch wenn Etkinds „Untote“ eine sichtbare Analogie mit dem wiederkehrenden Trauma aufweisen, so plädiert der Autor für einen präziseren Begriff – dem der Trauer. Die „verzerrte“ Trauer grenzt er von dem Konzept der „Melancholie“ ab, die er als Gefangensein in der Vergangenheit und obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit versteht. Auch Trauer ist zyklisch und retardierend, meint aber nicht nur das traumatisierte „Ich“, sondern auch die traumatisierten „Anderen“ (S. 17). Die „Entfremdung“ bekommt hier eine erweiterte Konnotation. Sie meint nicht nur die Form des Schreibens, sondern auch die persönliche Strategie der psychischen Abspaltung vom traumatischen Erlebnis. Das symbolische Reproduzieren, die Wiederholung des Verlusts bzw. der schmerzvollen Erfahrung ist ein weiteres Charakteristikum des Traumas bzw. der Trauerarbeit. All diese Formen erkennt Etkind in dem sowjetischen und post-sowjetischen Umgang mit Opfer des stalinistischen Terrors.

Gleich zu Beginn seiner Analyse weist Etkind darauf hin, dass die poststalinistische Gesellschaft doppelt traumatisiert war: das primäre Trauma des Verlusts bzw. des Gulags wurde durch das zweite Trauma, das offizielle Sprechverbot ergänzt. Die Erfahrungen der ehemaligen Häftlinge konnten nicht geteilt werden, was zum Verstummen, Entfremdung und Kommunikationsbrüchen innerhalb von Familien führte. Die beste Illustration dafür ist das im dritten Kapitel diskutierte spezifisch sowjetische Trauma der Lager-Rückkehrer, die von ihren Familienmitgliedern nicht erkannt wurden. Nach Etkind kann zwar kein einzelnes Narrativ den sowjetischen Terror „beschreiben“, die Geschichte des „Nicht Wiedererkennens“ kann jedoch als dessen Allegorie dienen (S. 59).

Wie sich die Trauerarbeit auf das intellektuelle Leben in und nach dem Gulag auswirkte, ist das Thema des vierten Kapitels. Der Autor zeigt, wie das Gulag zur Zone des intellektuellen Austausches zwischen Intelligenzija und „Volk“ wurde: Hier entstanden Werke zur Bauerngeschichte (in denen man unschwer die Kritik an der Kollektivierung erkennen konnte), anthropologische Studien zur Festkultur (von Michail Bachtin), des „Volks-Jargons“ (von Dmitri Lichatschow), zum Humor und sogar zur „inneren Kolonisierung“ (von Matwei Ljubawskij) (S. 62).

In seinem Buch arbeitet Etkind mit Giorgio Agambens Figur des „Homo Sacer“3: Der Zeuge, bei Agamben ist es der Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungslager, begreift es als seine Pflicht, über die „Muselmänner“ zu berichten und begreift zugleich die Unmöglichkeit, darüber zu sprechen, „es“ zu erklären. Die Unmöglichkeit zu erzählen, lässt auf ein traumatisiertes Subjekt schließen.

Das Paar „Muselman“ (Symbol des KZ-Lagers) und „dochodjaga“ (Symbol des GULags) durchzieht das Buch und man erkennt immer wieder erstaunliche Analogien zwischen diesen zwei Figuren. Warlam Schalamovs „dochodjaga“ hat im Gegensatz zu Solschenizyns Protagonisten keine seelische und körperliche Kraft, um in Würde dazustehen und Rache am System nehmen zu wollen. Schalamovs Erfahrung ist die der existenziellen Verstörung, nach der kein „normales“ Leben mehr möglich ist. Einen ähnlich verstörenden Blick hat der Maler (Ex-Lagerhäftling) Boris Sweschnikow. In seinen apokalyptischen Bildern feiern Ungeheuer und Gespenster ihre unheimliche Feste: Die „Untoten“ werden samt ihrer schmerzvollen Vergangenheit zurückgeholt (S. 88–96).

Die Gespenster der Vergangenheit jagten die sowjetische Gesellschaft offenbar auch in der stabilen Breschnewschen Zeit weiter. Gerade die Lagererfahrung hatte Andrej Sinjawski nach einem öffentlichen Schauprozess zu „gespenstischen“ Geschichten wie „Spaziergänge mit Puschkin“ inspiriert. Es war Sinjawski, der in der Lagerhaft die Metapher der wiederauferstandenen Toten für die Gegenwartsprosa schuf, und es waren die von ihm entworfenen Ungeheuer, an die Literaten wie Bykow, Mamleew und Pelewin mit ihren Werken anknüpften (S. 129).

Eine beeindruckende Analyse liefert Etkind in Bezug auf zwei Filme der späten Sowjetzeit: „Hamlet“ von Grigori Kosinzew und „Beregis awtomobilja“ von Eldar Rjasanow. Im ersteren sieht er ein „Trauerspiel“ für die Opfer des verbrecherischen Staates, im zweiten eine „doppelte Trauer“ – nicht nur um die Opfer, sondern auch um die verzerrten Ideen der Revolution und ihre verlorenen Ideale. Symbolisch steht dafür der Protagonist, Juri Detotschkin, der mit dem Schlusssatz des Films „Ich bin zurückgekehrt!“ für die gesamte Generation der Lagerrückkehrer spricht. Auch in der Figur des Goga im sowjetischen Filmhit „Moskwa slezam ne werit“ glaubt Etkind einen Lagerhäftling und somit die zurückgekehrte Lagererfahrung zu erkennen, wobei das melodramatische Sujet des Films diese These nicht ausreichend stützen kann.

Die Gespenster der Vergangenheit verfolgen Menschen auch in der post-sowjetischen Situation weiter. Die Präsenz böser Geister analysiert der Autor in der russischen Gegenwartsliteratur – ein Phänomen, das er als „magischen Historizismus“ bezeichnet. Angefangen mit Mamleews „Schatuny“, wurde die Metapher der Zombies, Monster und Vampire in den Novellen und Romanen von Wiktor Pelewin, Dmitri Bykow und Wladimir Sorokin aufgegriffen. Die Unmöglichkeit, die Vergangenheit und die Gegenwart – als Produkt der Vergangenheit – zu verstehen, lasse die Autoren den Historizismus mit „magischen“ Elementen auffüllen, so Etkind. Die Vampire, die Pelewins Romane „bevölkern“, sind an reale Charaktere der russischen politischen Eliten angelehnt und leicht erkennbar (S. 240). Und gerade dies besitzt ein kritisches Potential, wie der performative Akt der Zerstörung von Sorokins Romans „Der himmelblaue Speck“ durch die Jugendorganisation „Iduschie wmeste“ im Jahr 2002 anschaulich machte.

Alexander Etkinds Studie stellt den ersten Versuch dar, die verschiedensten Formen der Erinnerung im post-stalinistischen Russland mit Hilfe der in Psychoanalyse und Literaturwissenschaft geläufigen Theorien der Trauerarbeit zu erfassen. Er erklärt das Spezifische an der sowjetischen, poststalinistischen Trauma-bewältigung und Trauerarbeit, und macht deutlich, warum die Vergangenheit den zentralen Teil des politischen, literarischen und künstlerischen Diskurses in Russland der Gegenwart darstellt. Nicht nur wegen dieses innovativen konzeptionellen Ansatzes ist das Buch eine Bereicherung: Es ist zudem eindrucksvoll und spannend geschrieben und liefert Einblicke in die offizielle und inoffizielle Kulturgeschichte Russlands des 20. und 21. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Siehe im Überblick dazu von Dmitri Golynko-Volffson, Vek zhivych mertvetsov. 20 stoletie glazami zombi. O filosofii, ėtike i biopolitike zombi, in: Neprikosnovennyj zapas 62 (2008), <http://magazines.russ.ru/nz/2008/6/vo11.html> (14.10.2014); und einen Ansatz von Dina Chapaeva, die gegenwärtige russische Gesellschaft als Gothik-Gesellschaft zu lesen: Dina Khapeva, Gotitscheskoe obschtschestwo. Morfologija koschmara, Moskva 2007, in: Jeffrey J. Cohen (Hrsg.), Monster Theory, Minneapolis 1996.
2 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006; Lawrence Langer, Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, New Haven 1991; Cathy Caruth, Unclaimed Experience: Trauma, narrative and history, Johns Hopkins University Press 1996; Ilya Kukulin, Schmerzregulierung. Zur Traumaverarbeitung in der sowjetischen Kriegsliteratur, in: Osteuropa 55 (2005), S. 235–256; Serguei Oushakine / Elena Trubina (Hrsg.), Travma: Punkty, Moskva 2009.
3 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension