Der Bedarf Deutschlands, territoriale Groesse nach der Verbreitung der Sprache zu vermessen, ist seit den Tagen des deutschen Patriotismus Usus. Doch es bedurfte noch ein langes Jahrhundert, um die Konstruktion deutscher Nationalitaet nicht nur historisch und schicksalhaft zu definieren, sondern territorial abzurunden und in das kollektive Gedaechtnis der Deutschen einzubrennen. Waehrend des Dritten Reiches gelangte diese Propaganda jedoch zu einzigartigem Ruhm. Diesem Faktum traegt der in Freiburg im Breisgau studierte Geograph Rechnung. In seiner auf die Kartenpropaganda der Weimarer Republik und der NS-Zeit angelegten Dissertation, die er an der Universitaet Wisconsin (USA) eingereicht hat, weist der Autor zu Recht bereits in der Einleitung daraufhin, dass die neue Rechte inklusive der Christdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland einschliesslich der Vertriebenenverbaende nach wie vor ihre Rhetorik darauf abstuetzen und die 1945 abgetretenen deutschen Ostgebiete mit dieser aufgefrischten Kartenpropaganda als deutsch reklamieren.
Den Erfolg der voelkischen Ideologie in Deutschland verortet Herb in der Ablehnung der Pariser Vorortvertraege einerseits und einem deutschen Selbstbestimmungsrecht, welches sich vom Genfer System absetzte, andererseits. Ein Heer von voelkischen Aktivisten und Geographen ging eine Allianz ein und griff revisionistische Aspirationen auf, die in abenteuerlichen Raumvorstellungen muendeten. Diese schlugen sich in geo- und ethnopolitischen Darstellungen nieder.
Die Wirkung der Geopolitik wurde bereits durch zeitgenoessische Kritiker ueberschaetzt, waehrend ethnopolitische Darstellungen, die den entscheidenden Part schon waehrend den Friedensverhandlungen 1919 ausmachten, den ausschlaggebenden Part in der Aussenpolitik uebernahmen. Herb ist der Ueberzeugung, dass die geopolitische Karte in der NS-Propaganda eine vernachlaessigbare Rolle spielte (S. 183). Die Differenz in der Bedeutung zwischen der NS-Kartographie und der der Weimarer Republik lag darin, dass die Weimarer Versionen erst einen oeffentlichen Konsens erzeugen mussten, waehrend in der NS-Zeit die Karten als Zensor zur Vermeidung gegensaetzlicher Darstellungen eingesetzt wurden. Da gerade kartographische Ertraege dieser Epoche aus den meisten Untersuchungen ueber die NS-Kulturpropaganda ausgeklammert worden sind, greift Herb ein Desiderat auf, welches er in drei Teilen behandelt:
1. gibt er einen Ueberblick ueber die politische Organisation im Kaiserreich, die eine Transformation nationaler Selbstbestimmung am Ende des Ersten Weltkrieges erfaehrt (Kapitel 1 und 2).
2. untersucht er die Leistungen nationaler Propaganda waehrend der Weimarer Republik und ihre Auswirkungen bei voelkischen Organisationen und Geographen (Kapitel 3-7).
3. Schliesslich geht er auf die Gesichtspunkte ein, unter denen die Nazis ihre ethnopolitischen Forderungen durchsetzten (Kapitel 8 und 9).
Die Ausgangsthese ist, dass Nationalismus neueren Ursprungs unweigerlich mit dem Mythos eines wohldefinierten Raumes einhergeht und in elementaren Kartenentwuerfen visualisiert wird. Um Fluesse, Berge und Seen ranken sich Mythen, denen sich kaum eine nationalistische Bewegung entziehen kann. Sie liefern zugleich die vermeintlichen territorialen Grenzen zur Demarkation des Eigenen und des Fremden. Diese virtuellen Raeume sind Ausdruck von Macht und Rhetorik. Karten tragen zur nationalen Identitaet bei. Die Verknuepfung von Sprach- und homogenen Kulturraeumen ist aber erst ein Produkt unseres Jahrhunderts.
Entgegen weitverbreiteter zeitgenoessischer Vorstellungen blieben im 19. Jahrhundert die Einheitswuensche jedoch in dispersen und politisch kleinraeumigen Herrschaftsstrukturen stecken. Die Diskussion um grossdeutsch und kleindeutsch verdeutlicht dieses Dilemma. Selbst die nicht von allen gewuenschte Annexion Elsass-Lothringens 1871 wurde nicht unbedingt als Erweiterung eines ethnisch homogenen deutschen Raumes verstanden, sondern mittels strategischen Ueberlegungen untermauert.
Erst das Aufkommen der Deutschtuemelei der voelkischen Verbaende seit 1880 ueberzeugte das buergerliche Bewusstsein, dass geographische und ethnische Aspekte ausschlaggebend fuer die Bruederlichkeit der Deutschen seien. Entscheidenden Anteil daran hatten juengere Geographen, die um die Jahrhundertwende in den ethnischen Konfliktzonen Schlesien, Steiermark und Burgenland (Wien) lehrten. Sie verdienten sich ihre Sporen in eben jenen voelkischen Verbaenden.
Der Plot des Friedenplans der Siegermaechte erlaubte einen geopolitischen Schachzug unter ethnopolitischen Gesichtspunkten: Die Pufferzone kleiner unabhaengiger Staaten in Osteuropa bot doppelten Nutzen. Sie ermoeglichte einen Cordon sanitaire gegen das kommunistische Russland und sie schwaechte Deutschland. Waehrend deutsche Geographen in ihrer Abgeschiedenheit noch immer an Siegfriedensplaenen bastelten (S. 23), setzte der politische Beraterstab zur Vorbereitung der Friedenskonferenz thematische Karten ein. Die "neue Weltordnung" des State Departments wollte eine Abwendung von der in der klassischen Diplomatie gepflegten politischen Grenzziehung erreichen (S. 18). Nach Wilsons Rede vom Januar 1918 wurde sie mit einer Flut von nationalistischen Forderungen in entscheidenden Punkten ergaenzt.
Einher ging diese neue Objektivitaet mit einer unvermeidlichen Aufwertung ethnischer Karten, die nun eine Aura des wissenschaftlichen Dokuments erhielten. Die politische Unabhaengigkeit suggerierenden wissenschaftlichen Methoden blieben selbst dann unhinterfragt, als polnische und andere Nationalisten in diesem Brain Trust taetig wurden.
Das abrupte Ende des deutsch-dominierten Mitteleuropas traf insbesondere die Geographen zumindest voruebergehend unvorbereitet. In hektischen Aktivitaeten wurden nach dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen in Berlin, Leipzig und Wien die polnischen und tschechischen Gebiete aufgrund der Volkszaehlung von 1910 kartographisch nach Ethnien dargestellt, um zu retten, was zu retten war. Selbst der alldeutsche Historiker Dietrich Schaefer produzierte 1919 eine Karte ueber die Verbreitung der deutschen Sprache, um die These zu stuetzen, die westlichen Gebiete Polens seien mehrheitlich deutsch, und zwar unter Heranziehung der slawischen Minderheiten. Der Eklat liess nicht lange auf sich warten als die Franzosen eine in Deutschland produzierte Karte von Jacob Spett veroeffentlichten, die das westliche polnische Grenzgebiet als ueberwiegend polnisch besiedelt auswies.
Die Reaktionen der Deutschen war praegnant: Einerseits wurde eine methodische kartographische Innovation erzielt, die einzige in den naechsten 20 Jahren, indem Albrecht Penck anstatt der bisher benutzten Choroplethenkarte (Bezugsgroesse sind Kreise) die viel genauere Punktmethode waehlte, um die statistische Zusammensetzung der Ethnien detailliert darzustellen. Andererseits gerieten die voelkischen Experten fruehzeitig an den Advocatus Diaboli: Bereits 1924 verschrieb sich der Altmeister der deutschen Geographie, Albrecht Penck dem Chefkartographen des Deutschen Schutzbundes, Arnold Hillen-Ziegfeld, um nunmehr propagandistische Karten zu liefern wie etwa Pencks beruechtigte Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens, jene Karte, die das Aussehen eines gefraessigen Teufels hat, die Tschechoslowakei bereits mit den Zaehnen zerfleischend spiesst er mit seinen Hoernern (Ostpreussen) Ostmitteleuropa auf.
Hillen-Ziegfeld, ein alter Kaempe der ersten Stunde (NSDAP-Mitglied seit 1921) gehoerte zu den schillerndsten Figuren der deutschen Rechten. Er war Mitglied des Deutschen Schutzbundes und des Deutschen Klubs, was bisher vollkommen von der Historiographie "vergessen" wurde. Seinen sicheren Federstrichen vertrauten sich nicht nur bekannte Geographen an, sondern auch namhafte Historiker wie Aubin, Maschke, Laubert und Spahn. Ziegfeld, der auch im Vowinkel-Verlag arbeitete, leitete die gesamte deutsche Propagandakartographie an. In den 30er Jahren arbeitete er schliesslich fuer das Propagandaministerium (S. 82ff., 89ff. und 159ff.).
Neben der geopolitischen, auf das Staatsterritorium gerichteten Karte unterscheidet Herb drei verschiedene thematische Gruppen von neuen Raumkonzeptionen, die geoorganische Karte, die negative Definition des nationalen Territoriums und die ethnische Volks- und Kulturbodenkarte. Die geoorganische Raumkonzeption ging mittels kulturraeumlicher Verfahren von der unteilbaren Einheit der Deutschen Reiches vor 1914 aus. Die negative Definition des nationalen Territoriums vermittelte die staendige Bedrohung des durch die neuen Grenzen verkleinerten Deutschen Reiches. Das Volks- und Kulturbodenkonzept seit Mitte der 20er Jahre schliesslich vermittelte die deutsche Sprache in der mitteleuropaeischen Landschaft. Gepaart mit der oekonomischen Prosperitaet gelangte sie zur groesstmoeglichen nationalen Selbstueberschaetzung bei territorialen Forderungen, weil sie die nationalen Minderheiten in Osteuropa dem deutschen Volksboden unterordnete. Der bereits 1932 durch Max-Hildebert Boehm generierte Begriff "Volkslebensraum", den er synonym fuer den "Volkswirkungsraum" verwendete, deutet diesen Uebergang voelkischer zur nationalsozialistischen Ideologie an (S. 49-64).
Waehrend des Dritten Reiches wirkten die wichtigsten Geographen und Historiker an weiteren normsetzenden Zensurvorschriften mit. Ob diese jedoch tatsaechlich keine Auswirkungen mehr erlangten - seit Ende 1938 durfte weder der deutsche Volksboden noch Suedtirol abgebildet werden -, wie Herb behauptet, sei dahingestellt.
Herbs Arbeit erschliesst ein wichtiges Feld der Kartenpropaganda auch fuer Nichtspezialisten. Durch die dichte Darstellung aller voelkischen und an der NS-Propaganda beteiligten Einrichtungen beruecksichtigt er ein im Augenblick hochaktuelles Thema. Er leistet eine dankbare Arbeit fuer den politisch-historisch interessierten Leser, indem er mit einigen eingeschliffenen Mythen aufraeumt.