Nach fast zehnjähriger Forschungsarbeit hat die Göttinger Historikerin Petra Terhoeven ein rund 700 Seiten starkes Werk vorgelegt – zu einem in geschichts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in deutschen Feuilletons viel diskutierten zeitgeschichtlichen Ereigniskomplex. Bereits der Titel „Deutscher Herbst in Europa“, auf dem Buchdeckel collagiert mit Fotografien der zum Verwechseln ähnlichen Tatorte des von der Roten Armee Fraktion (RAF) 1977 entführten westdeutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und des von den Brigate Rosse (BR) im Folgejahr entführten italienischen Christdemokraten Aldo Moro, verdeutlicht dem Leser, worum es geht: „Die Gewalteskalation“ des Linksterrorismus „in den siebziger Jahren und insbesondere der ‚Deutsche Herbst‘“ könne, trotz des offenbar irreführenden zeitgenössischen Begriffs, als spezifisch westdeutsche Entwicklung nicht hinreichend gedeutet werden. Vielmehr müssten die Ereignisse auch in einer „transnationale[n] Dimension“ verstanden und erklärt werden, „die in den Handlungsoptionen aller politischen Akteure eingeschrieben war“ (S. 19).
Terhoeven, die schon vor einigen Jahren mit ihren geschichtswissenschaftlichen Analysen zum Medium der Fotografie im Kontext des Terrorismus der 1970er-Jahre überzeugen konnte1, rekurriert auch in „Deutscher Herbst in Europa“ immer wieder auf die Bedeutung und den Einfluss von medial verbreiteten Bildquellen für zeitgenössische Wahrnehmungsmuster. Nicht zufällig verwendet die Autorin im Buchvorsatz Hans Traxlers 1977 veröffentlichte Karikatur „Die häßlichen Deutschen“. Eindrucksvoll bezieht sich die Zeichnung auf die in Westeuropa bestehenden Konflikte über das Deutschlandbild in den 1970er-Jahren: Traxlers Karikatur kontrastiert das westdeutsche Harmoniebedürfnis einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft mit der italienischen und französischen Perzeption eines gefährlichen, militarisierten, totalitären und in der Kontinuität des Faschismus stehenden westdeutschen Staates.2 Zugleich verweist dies auf einen beziehungs- und transfergeschichtlichen Ansatz.
Terhoevens analytischer Bezugsrahmen speist sich aus neueren und vielversprechenden Konzepten der Sozial- und Geschichtswissenschaften. So macht sich die Autorin Peter Waldmanns Verständnis zu eigen, dass es sich beim Terrorismus „primär um eine Kommunikationsstrategie“ handele3, welche nicht nur gegen das staatliche Gewaltmonopol gerichtet sei, sondern aus Sicht der Militanten auch bezwecke, potentielle Unterstützer für die eigenen Ziele zu gewinnen (vgl. S. 31). Mit ihrer Fokussierung auf transnationale Kommunikationsstränge vor allem deutsch-italienischer „cross-national subcultures of violence“ (Heinz-Gerhard Haupt / Robert Gerwarth) grenzt sich die Autorin bewusst von rein komparativen Studien ab, in denen mehr auf die Differenzen und Gegensätzlichkeiten der RAF und der BR in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten verwiesen wird. Folgerichtig plädiert Terhoeven dafür, dass bei der Untersuchung der Kontakte westeuropäischer Stadtguerillagruppen anstelle eines „engen […] Kooperationsbegriffs“ der „offenere Begriff der transnationalen Kommunikation einzusetzen“ sei (S. 35f.). Dabei spielt das Konzept des „radikalen Milieus“ (Stefan Malthaner / Peter Waldmann) für Terhoeven eine wichtige Rolle. Allerdings, so lässt sich an dieser Stelle kritisch anmerken, geht es der Autorin weniger um eine akribische Untersuchung des nach wie vor nicht hinreichend erforschten Umfelds der RAF in der Bundesrepublik4, das sie für die 1970er-Jahre als „heterogenes Gemisch aus Angehörigen der undogmatischen Linken und politisch ausgerichteten Aktionsgruppen“ definiert (S. 38), sondern vielmehr um die transnationale Vernetzung der zentralen Persönlichkeiten und „Unternehmer“5 dieses radikalen Milieus.
Terhoevens transnationale Geschichte des linksgerichteten Terrorismus in Westeuropa setzt nicht erst in den 1970er-Jahren ein. Die Autorin entwirft eine spezifische transnationale Kontinuitätslinie, die sich durch einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren zieht. Aus dieser Perspektive heraus stellt Terhoeven zahlreiche Ereignisse in den Zusammenhang eines wechselseitigen transnationalen Radikalisierungsprozesses. Der zeitliche Bogen reicht von der Studentenrevolte 1967/68 in Italien, Frankreich und der Bundesrepublik über die Gründungen diverser Stadtguerillaformationen in Europa um 1970, die Mai-Offensive der RAF 1972, die Entführung des Richters Mario Sossi durch die BR im April 1974, die anschließende Entführung des Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz durch die „Bewegung 2. Juni“, Jean-Paul Sartres Besuch in Stuttgart-Stammheim, den Tod des RAF-Gefangenen Holger Meins während des Hungerstreiks 1974, die Botschaftsbesetzung in Stockholm durch ein RAF-Kommando 1975, den Tod Ulrike Meinhofs in ihrer Stammheimer Zelle im Folgejahr, die Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ (der auch von der italienischen Kontroverse um die Flucht des NS-Kriegsverbrechers Herbert Kappler aus italienischer Haft im August 1977 begleitet wurde) bis hin zur Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die BR im Frühjahr 1978. Letztere Aktion sei ohne Einbeziehung der Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ nicht zu verstehen, insbesondere nicht ohne den Tod der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe – von ihren Anwälten im europäischen Ausland öffentlichkeitswirksam als „Staatsmord“ hingestellt. Eine zentrale These Terhoevens ist, dass sich die BR und andere linksradikale Gruppierungen in Westeuropa im Zuge der bundesdeutschen Ereignisse weiter radikalisierten.
Es versteht sich von selbst, dass sich die geschichtswissenschaftliche Interpretation einer derart komplexen und umkämpften Epoche an bestehenden Forschungsargumenten und Zeitzeugenmeinungen reiben muss. Auch Terhoevens Buch ist hier keine Ausnahme. Die Historikerin positioniert sich deutlich, wenn sie in ihrer gelungenen biographischen Gegenüberstellung des Studentenführers Rudi Dutschke mit dem millionenschweren Verleger und Unterstützer linksradikaler Strukturen in ganz Westeuropa, Giangiacomo Feltrinelli, weniger an deren „Symbolwert von Sprache zum Zwecke der Provokation“ im Kontext eines radikaldemokratischen Aufbruchs von „1968“ (S. 76) interessiert ist. Vielmehr geht es ihr um die Beleuchtung der „bis heute erst in Ansätzen bekannte[n]“ „klandestine[n] Seite“ einer von Dutschke und Feltrinelli angeblich beabsichtigten „Errichtung eines transnationalen Netzwerks zur Durchführung militanter, wenngleich ausdrücklich nicht gegen Personen gerichteter Aktionen“ (S. 63). Die Strukturen dieses Netzwerks verfolgt Terhoeven bis in die späten 1970er-Jahre. Damit zieht sie eine Kontinuitätslinie vom „Traum der Revolution“ der „68er“ bis zum bewaffneten „Angriff auf das Herz des Staates“ durch die BR und die RAF (S. 440ff.).
Terhoevens Buch ist zudem ein erster umfassender Versuch, die länderübergreifenden Aktivitäten der RAF-Anwälte zur Unterstützung der „politischen Gefangenen“ in bundesdeutschen Gefängnissen empirisch fundiert darzustellen. Anwälte wie Klaus Croissant, Kurt Groenewold oder Otto Schily seien für das düstere Szenario einer „Germanisierungsgefahr“ (S. 660) der „postfaschistischen“ Bundesrepublik verantwortlich gewesen, wie sie anhand der „Isolationsfolter“ gegen RAF-Gefangene in Stuttgart-Stammheim veranschaulicht wurde. Terhoeven gelingt es nicht nur, die zahlreichen Kontakte von Angehörigen des radikalen Milieus in der Bundesrepublik nach Italien überzeugend einzuordnen, sondern sie glänzt auch mit einem umfangreichen Wissen über diverse transnationale RAF-Unterstützergruppen in Frankreich.
Bemängeln ließe sich an Terhoevens Arbeit, dass sie im Hinblick auf die staatsoffizielle Deutung der Ereignisse um und in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim, vor allem in der Nacht vom 18./19. Oktober 1977, relativ unkritisch ist. Obgleich die Archive nach wie vor verschlossen sind und, wie die Autorin zurecht moniert, „Historiker auch mehr als vier Jahrzehnte nach den Ereignissen immer noch daran gehindert werden, entsprechende Verdachtsmomente zu überprüfen“, spricht sie dennoch von „offenkundige[n] Suizidvorbereitungen der Stammheimer“ (S. 466).6 Die Historikerin spitzt ihr Argument weiter zu, wenn sie schreibt, dass sich am italienischen, linksradikalen „Kommunikationsorgan“ „Lotta Continua“ „vielleicht am eindrucksvollsten“ gezeigt habe, „in welchem Maße die Saat der im Kollektivsuizid gipfelnden Selbstviktimisierungsstrategie der RAF-Gründer in bestimmten gegenkulturellen Milieus des europäischen Auslandes tatsächlich aufgegangen war“ (S. 604). In weiterführenden Milieustudien müssten diese Thesen erneut auf den Prüfstand gestellt werden.
Das Buch „Deutscher Herbst in Europa“ ist ein geschichtswissenschaftlicher Meilenstein – nicht zuletzt, weil eine transnationale Geschichte des „Deutschen Herbstes“ bislang ein großes Forschungsdesiderat darstellte. Petra Terhoeven gelingt eine eigenständige, weiterführende Synthese des mittlerweile sehr unübersichtlichen und umfangreichen Korpus an Forschungs- und zeitgenössischer Literatur. Unter transnationalem Blickwinkel analysiert die Autorin bislang ungenutzte und übersehene Primärquellen der „grauen Literatur“ des radikalen Milieus. Die zentrale These des Buches, Angehörige der westdeutschen Neuen Linken hätten maßgeblich zu einem negativen Deutschlandbild in der westeuropäischen Öffentlichkeit beigetragen, nämlich dem Bild einer in der Kontinuität seiner NS-Geschichte stehenden Bundesrepublik, kann überzeugend belegt werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Petra Terhoeven, Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 380–399.
2 Die Karikatur ist als pdf-Datei frei abrufbar unter <http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/216991>, siehe „Frontmatter“ (04.03.2014).
3 Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, 2., vollständig überarb. Ausg., Hamburg 2005, S. 15.
4 Vgl. Gisela Diewald-Kerkmann, Die RAF und die Bewegung 2. Juni: Die Beziehung von Gewaltgruppen und radikalem Milieu im Vergleich, in: Stefan Malthaner / Peter Waldmann (Hrsg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt am Main 2012, S. 121–142.
5 Zum Konzept der „Unternehmer der Gewalt“ vgl. Donatella della Porta, Politische Gewalt und Terrorismus. Eine vergleichende und soziologische Perspektive, in: Klaus Weinhauer / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006, S. 33–58, hier S. 49.
6 Vgl. aber auch Helge Lehmann / Olaf Zander, Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Deutung und das Todesermittlungsverfahren, Bonn 2012, sowie Clemens Riha, Stammheim 77/12, Filmdokumentation, 2012, in: 3sat, <http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/165017/index.html> (04.03.2014).