R. Habermas u.a. (Hrsg.): Von Käfern, Märkten und Menschen

Cover
Titel
Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne


Herausgeber
Habermas, Rebekka; Przyrembel, Alexandra
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Bischoff, Internationale Geschichte, Universität Trier

„Europe was made by its imperial projects, as much as colonial encounters were shaped by conflicts within Europe itself.“1 Mit diesen Worten entwarfen Frederick Cooper und Ann Laura Stoler 1997 ein Forschungsprogramm, dessen zentrale Forderung, Kolonie und Metropole in einem gemeinsamen analytischen Feld zu untersuchen, bis heute in der Geschichtswissenschaft nachhallt. Der von Rebekka Habermas und Alexandra Przyrembel herausgegebene Band stellt eine überaus spannende und anregende Antwort auf diesen Aufruf dar; nicht zuletzt aufgrund eines systematischen Aufbaus und eines klar definierten Untersuchungsgegenstandes.

Inhaltlich fokussiert der Band auf die Produktion und Globalisierung von Wissen im Kontext des Kolonialismus im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts. Sein Ziel ist es, zu rekonstruieren, wie dieses koloniale Wissen hergestellt und verbreitet wurde. Zur Beschreibung dieses vielschichtigen und in sich verflochtenen Prozesses nutzen Habermas und Przyrembel das Bild des Netzwerks. Koloniales Wissen, so formulieren die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einleitung, wurde innerhalb von Netzwerken unterschiedlicher Dauer und Struktur, variabler Festigkeit und Reichweite produziert und „von vielen Orten in viele Richtungen transferiert“ (S. 10f). Lücken und Leerstellen spielten dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Knotenpunkte und Verbindungslinien. „Denn“, so betonen die Herausgeberinnen, „Globalisierung von Wissen bedeutet nicht, dass Wissen gleichmäßig gefunden und erstellt wurde, geschweige denn zirkulierte“ (S. 13).2

Zur Beschreibung der genannten Netzwerke werden fünf formgebende Aspekte in den Blick genommen: Akteurinnen und Akteure, Räume, Disziplinen, Medien, Ressourcen. Entsprechend ist der Band in fünf Bereiche untergliedert. In jedem dieser Abschnitte unternehmen eine Reihe von exemplarischen Einzelanalysen thematische Tiefenbohrungen. Zusätzlich wird jeder Bereich durch einen einleitenden Essay begleitet, der den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst. Diese Essays stammen entweder aus der Feder der Herausgeberinnen selbst („Akteurinnen und Akteure“ von Habermas, „Medien“ von Przyrembel) oder aus der Hand anderer ausgewiesener Expert/innen („Räume“ von Kerstin Rüther, „Disziplinen“ von Iris Schröder, „Ressourcen“ von Jacob Vogel).

Die Untersuchungen im ersten Teil lenken den Blick auf diejenigen Personengruppen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts abgedrängt und vergessen wurden: Kolonialbeamte, Kaufleute, Frauen, Missionspersonal beiderlei Geschlechts und die sogenannten intermediaries, ohne deren Tätigkeiten des Übersetzens, Sammelns und Informierens viele Wissensbestände nicht entstanden wären. Hier schließt der vorliegende Sammelband an die kolonialgeschichtliche Forschung an, die in den letzten Jahren die entscheidende Rolle dieser Gruppe von indigenen Akteur/innen betont hat.3 Allerdings nimmt keiner der Einzelbeiträge diese Gruppe (oder Frauen) explizit in den Blick. Stattdessen konzentrieren diese sich auf männliche Missionsangehörige (Ulrich van der Heyden; Richard Hölzl) beziehungsweise einen Kaufmann und einen Kolonialbeamten (Christof Dejung; Bettina Brockmeyer).

Der zweite Abschnitt des Sammelbandes eröffnet Perspektiven auf die räumliche Dimension der Wissensnetzwerke. Im Anschluss an aktuelle Überlegungen zur sozialen Konstituierung des Räumlichen4 widmen sich die exemplarischen Einzelbeiträge verschiedenen Aspekten dieses Themas. Zwei davon rekonstruieren Wissensräume: Tony Ballantyne untersucht die durch die East India Company beförderte Sanskritforschung, Patrick Harries das afrikanische Wissensarchiv der Schweizer Mission. Stefanie Gänger kartographiert ein transnationales Forschungs- und Sammelnetzwerk, dessen Hauptknotenpunkt nicht in Europa, sondern in Lateinamerika lag.

Im dritten Teil („Disziplinen“) vollziehen insgesamt drei inhaltliche Beiträge nach, wie sich das Verständnis von Wissen und Wissenschaftlichkeit im langen 19. Jahrhundert wandelte und welche Konsequenzen die damit einhergehende Akademisierung für die Globalisierung kolonialen Wissens hatte. Die Autor/innen diagnostizieren, dass nicht-akademisch ausgebildete, zumeist weibliche und nicht-europäische Akteure/Akteurinnen aus der Wahrnehmung und auch aus den Netzwerken verdrängt wurden. Charlotte Trümpler und Sabine Mangold exemplifizieren diesen Exklusionsprozess anhand zweier Biographien: der Orientalistin Getrude Bell sowie des Türkisch-Lektors Ahmed Muhiddin. Zusätzlich nimmt Holger Stoecker mit der Afrikanistik eine der zentralen Wissenschaften des deutschen Kolonialprojekts in den Blick.

Auch der vierte Abschnitt widmet sich einem in der kolonialhistorischen Forschung inzwischen fest etablierten Forschungsfeld, namentlich der Rolle der Medien. Einer der Schwerpunkte innerhalb dieses Forschungszweiges liegt auf der Analyse von Produktion und Zirkulation kolonialen Wissens in der Populärkultur beziehungsweise im Bereich des Massenkonsums.5 Die Rolle der Fotografie bildet einen weiteren Fokus.6 Die hier vorliegenden Einzelbeiträge knüpfen an diese Felder an und reichen von Fotografien (Kathrin Reinert) zu Artefakten anthropologischer Sammlungen (Andrew Zimmerman) bis hin zur Lyrik (Barbara Buchenau).

Der fünfte und letzte Teil wendet sich den Ressourcen zu, mit deren Hilfe die Wissensnetzwerke hergestellt und aufrechterhalten wurden. Die im Vergleich zu den anderen Bereichen etwas schlankere Besetzung auf der Ebene der thematischen Tiefenbohrungen spiegelt deutlich wider, dass dieser besondere Aspekt der zu untersuchenden Wissensnetzwerke noch in den Anfängen steckt. Ein Umstand, auf den Jacob Vogel in seinem Essay völlig zu Recht hinweist. Dabei bietet gerade die Analyse der materiellen und sozio-kulturellen Ressourcen, insbesondere von Finanzierungsstrategien, Einblick in das koloniale Machtgefälle, wie die beiden Beiträge von Ernst-Christian Steinecke zur Förderung der Archäologie im deutschen Kaiserreich und Maria Rhode zu den russischen Äthiopien-Expeditionen der 1890er-Jahre exemplarisch demonstrieren.

Alle Beiträge sind fest in der ausgezeichneten fachlichen Expertise der einzelnen Autor/innen verankert. Die eigentliche Stärke des vorliegenden Sammelbandes entfaltet sich aber im Zusammenspiel der Texte, und zwar sowohl auf der Ebene der Essays als auch im Verhältnis der einzelnen Aufsätze zueinander und/oder in Relation zu den Essays. Was in der Einleitung noch als abstrakt-programmatisch erscheint, namentlich die Verzahnung der fünf verschiedenen Dimensionen der Wissensnetzwerke, tritt im Laufe der Lektüre immer deutlicher in den Vordergrund. So werden beispielsweise Gertrude Bell und Ahmed Muhiddin im Licht der Akademisierung von Wissensbeständen betrachtet. Gleichzeitig geben die entsprechenden Beiträge aber auch Auskunft über deren Rolle als Akteur/Akteurin in den sich ausbildenden Wissensnetzwerken. Einzelne Institutionen (etwa die Royal Geographical Society) oder bestimmte Räume (London), die aus verschiedenen Blickrichtungen in den Fokus genommen werden, treten als sozial-räumliche Knotenpunkte in den Vordergrund. Auf diese Weise erschließt sich den Leser/innen am Beispiel der Wissensproduktion nicht nur der Zusammenhang von Kolonialismus und Moderne, sondern auch die Komplexität der miteinander verflochtenen Prozesse, in denen dieses Wissen hergestellt wurde.

Anmerkungen:
1 Frederick Cooper / Ann L. Stoler, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hrsg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–56, besonders S. 1, 4.
2 Der Begriff des Netzes beziehungsweise des Netzwerkes bleibt im Vergleich zu den anderen zentralen Konzepten, die sehr ausdrücklich definiert werden (Raum, Wissen, Medien), etwas blass und kommt ohne Referenz zu den Arbeiten der sich entwickelnden historischen Netzwerkanalyse aus. Eine methodisch-theoretisch interessierte Leserin hätte sich hier vielleicht etwas mehr Einblick gewünscht. Siehe: Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften. Warum und Wie? in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Schwerpunktheft „Historische Netzwerkanalysen“ 23/1 (2012), S. 16–41.
3 Andreas Eckert, Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanzania, 1920–1970, München 2007.
4 Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2., unveränd. Aufl., Bielefeld 2009 (1. Aufl. 2008).
5 Zuletzt: Felix Axster, Koloniales Spektakel in 9x14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Post_koloniale Medienwissenschaft Bd. 2. Bielefeld 2014.
6 Jens Jäger, Plätze an der Sonne? Europäische Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900, in: Claudia Kraft / Alf Lüdtke / Jürgen Martschukat (Hrsg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Frankfurt am Main 2010, S. 160–182.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension