W. Baumgart (Hrsg.): König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I.

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Titel
König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I.. Briefwechsel 1840–1858


Herausgeber
Baumgart, Winfried
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
583 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Amerigo Caruso, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Winfried Baumgart hat ein altes Publikationsprojekt realisiert und die umfangreiche Korrespondenz herausgegeben, die der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. während seiner knapp zwei Jahrzehnte langen Herrschaft mit seinem Bruder und Nachfolger Wilhelm I. führte. Nach seiner Emeritierung hat sich Winfried Baumgart sehr verdienstvoll der Veröffentlichung von klassischen, aber heute oft noch für die historische Forschung wichtigen Quelleneditionen von Monarchen, Politikern, Diplomaten und Intellektuellen des 19. Jahrhunderts gewidmet. Seit 2011 hat der Mainzer Historiker neben dem Briefwechsel von Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. auch eine Quellensammlung zu Bismarcks Kolonialpolitik, die Tagebücher von Friedrich III. und schließlich die politische Korrespondenz des preußischen Generals Albrecht von Stosch herausgegeben 1.

Als Leser ist man immer gerechtfertigt ein uninteressantes oder langweiliges Buch willkürlich zurück in eine verstaubte Ecke des Buchregals zu verbannen. Als Historiker ist man dagegen deontologisch dazu berufen, eine neue Quellenedition immer als potentiell bereichernde Lektüre zu betrachten. In diesem Sinne ist der Briefwechsel von Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. ein zweifelsfrei gelungenes, lob- und lesenswertes Editionsprojekt. Die 325 in den 1840er- und 1850er-Jahren entstandenen Briefen und Aufzeichnungen sind editorisch einwandfrei organisiert (gute Auswahlkriterien, unangetastete Orthographie). Sie sind punktuell mit synthetischen und selten überflüssigen Anmerkungen erläutert. Zwei interessante Lithographien der Protagonisten (Tafel 1 und 3), ein kurzes und nicht wirklich anspruchsvolles Literaturverzeichnis und ein ausführliches Register vervollständigen diesen knapp 600-seitigen Band.

Inhaltlich bringt der Briefwechsel von Friedrich Wilhelm IV. mit seinem „kritikbesessenen“ Nachfolger eine zunehmend politisierte und konfliktgeladene Auseinandersetzung zum Ausdruck (S. 9). Die bei weitem interessanteste Komponente dieser problematischen Bruderbeziehung ist, dass der Prinz von Preußen sowohl aufgrund seiner autoritär-reaktionären Position vor 1848 als auch infolge seiner pragmatischen und liberal-konservativ konnotierten Umorientierung nach 1848 unverändert „die Verantwortung in sich spürt, den Kurs seines ruhelosen Bruders […] mitzubestimmen“ (S. 11). Die konkurrierenden Semantiken, Deutungs- und Argumentationsmuster, die sich im Spannungsfeld der rational und leidenschaftlich zwischen den zwei Brüdern eskalierenden Polemik herauskristallisieren, leisten einen wichtigen Beitrag, um zentrale Kommunikations- und Entscheidungsprozesse auszuloten. Dabei ist die veraltete historiographische Tradition, die ausschließlich „Große Männer“ und „Große Politik“ fokussiert, seit langem nicht mehr attraktiv. Vielmehr dienen die Briefe heute dazu, die Erfahrungen, Emotionen, Ideale und Netzwerke zu rekonstruieren, die die zwischen 1840 und 1870 beschleunigten Veränderungsprozesse im preußisch-konservativen Elitendiskurs legitimierten.

In dieser Hinsicht fällt die Einleitung von Winfried Baumgart enttäuschend aus, weil die Briefe in einer engen politik- und ereignisgeschichtlichen Dimension eingebettet werden. Dabei wird die wachsende Inkompatibilität der bis 1847 relativ homogenen konservativen Werte- und Wirklichkeitsvorstellungen nur mit vereinfachten Interpretationsschlüsseln thematisiert, als ob sich die historischen Protagonisten wirklich „vom Saulus zum Paulus“ verwandeln könnten (S. 18). Winfried Baumgart vermittelt in seiner Einleitung den Eindruck, dass die im Briefwechsel auftauchenden Divergenzen eher ein ideengeschichtliches Spezifikum sind, das auf der heterogenen „Natur“ der zwei Protagonisten basiert und nicht auf breitere diskursiv-intellektuelle Veränderungsprozesse und über-individuelle Strukturen zurückzuführen ist (S. 11 vgl. 13) 2.

Verstärkt ab 1848 inszenierte sich der Prinz von Preußen als ein pragmatischer und resoluter Patriot, der „zur rechten Zeit die Zeit zu verstehen“ begann (S. 439 vgl. 317). Dagegen ordnete er seinen Bruder polemisch in eine von den liberal-konservativen Rivalen zunehmend stigmatisierte Konstellation ein, in der ultrakonservative Politiker „qu'ils n'ont rien appris et rien oublié“ noch dominierten (S. 428 vgl. 440). Wilhelm I. versuchte sich mit den gemäßigten liberalen und national-patriotischen Bestrebungen konstruktiv und undogmatisch auseinanderzusetzen. Ähnlich wie die mit ihm politisch und intellektuell eng vernetzen liberal-konservativen Meinungsführer plädierte der Thronfolger anhand optimistischer Definitionen wie „gemäßigte[r]“, „zeitgemäße[r]“ oder „vernünftige[r] Fortschritt“ für eine politische Umorientierung (S. 491 und 348) 3. Der Prinz von Preußen und seine liberal-konservative Freunde beanspruchten für sich die Deutungshoheit über zentrale Begriffe wie Wahrheit, Notwendigkeit und Patriotismus, und versuchten dabei neue Bewältigungs-, Argumentations- und Handlungsstrategien zu legitimieren. Friedrich Wilhelm IV. beobachtete dagegen nach wie vor sehr skeptisch, und zunehmend verstimmt diese Neudeutungen, die zuerst mit der liberal-konservativen Wochenblattpartei und endgültig mit dem resoluten Einschreiten von Bismarck einen realpolitischen Paradigmenwechsel auch im konservativen Diskurs durchsetzten.

Um die Familienopposition von Wilhelm I. politisch und ideologisch einzuordnen, ist die Erwägung der Psychologie der zwei Protagonisten ebenfalls von großem Interesse. Dafür verwendete aber Winfried Baumgart wieder ein nicht wirklich einleuchtendes Interpretationsschema. Friedrich Wilhelm IV. wird als ein schwärmerisch-wankelmütig handelnder Monarch geschildert, der „in die Fänge“ einer ultrakonservativen Camarilla geriet (S. 34), während sein Bruder angeblich „kühler und sachlicher“ war (S. 30). Problematisch erweist sich diese Auffassung vor allem, weil sie dieselben Deutungs- und Argumentationsmuster übernimmt, die auch liberal-konservative Politiker und Publizisten zwischen 1850 und 1870 gegen ihre erzkonservativen Rivalen erfolgreich verwendeten. Die Darstellung von Friedrich Wilhelm IV. als willensschwachen „Romantiker auf dem Throne“ ist kurzschlüssig und bereits seit langem mit den Studien von Walter Bußmann und Frank-Lothar Kroll revidiert worden 4.

Die wiederholten Ingerenzen des ehrgeizigen Thronanwärters beschränkten sich nicht nur auf die militärischen Angelegenheiten und wurden von dem vermeintlich weichen und schwankenden König meist resolut zurückgewiesen. Friedrich Wilhelm IV. reagierte oft verärgert, weil sein jüngerer Bruder sich ständig in „eine Menge Dinge, die [er] garnicht“ verstand, einmischte (S. 15). Obwohl der Prinz von Preußen 1855 explizit einräumte, dass er mit der liberal-konservativen Opposition sympathisierte, waren die schwerwiegenden Divergenzen zwischen den Hohenzollernbrüdern spätestens nach Wilhelms Versetzung nach Koblenz nicht mehr zu verhehlen (S. 491). Friedrich Wilhelm IV. bemühte sich in der Regel nicht um eine inhaltliche Erwiderung der obsessiven Kritik und „aufgeregten Leidenschaftlichkeit“ seines Bruders (S. 391 vgl. 409). Der König versuchte vielmehr autoritär oder paternalistisch zu antworten, indem er seinen „ernste[n] Wille[n] und Befehl als Chef des Hauses“ zur Geltung brachte (S. 170 vgl. 462). Friedrich Wilhelm IV. warnte ausdrücklich seinen jüngeren Bruder vor der intrigierenden Wochenblattpartei und kritisierte, dass die liberal-konservative Opposition wiederholt „Respectswidrigkeiten“ gegen ihn verbreitete (S. 417 vgl. 391). In den letzten Jahren vor der schweren Erkrankung, die ihn 1857 zum Rücktritt zwang, mied Friedrich Wilhelm IV. den offenen Konflikt mit dem Thronfolger. Empathisch appellierte er nur an die Loyalität und den Respekt, die ihm der Prinz von Preußen als Offizier und Bruder schulde und bat ihn weiterhin „auf das Allerherzlichste und Ernsteste, dergleichen Ausbrüche übler Laune und klar als Opposizion gegen meine Person ausgedeuteten Betragens zu unterlassen“ (S. 511).

Wenngleich in der Einleitung thesenarm und wenig innovativ im Vergleich zu anderen aktuellen Quelleneditionen 5, dokumentieren die von Winfried Baumgart herausgegebenen Briefe sehr gut einen interessanten und bisher nur grob bekannten Kristallisationspunkt im Rahmen der sich in Preußen um 1850 dynamisierenden politischen und ideologischen Machtverschiebungen. Dazu gehörten sowohl die verschärfte Inkompatibilität von ultrakonservativem und liberal-konservativem Diskurs als auch die kontroverse und ergebnisoffene Annäherung von konservativen und liberalen Realpolitikern. Dieser gegenseitige liberal-konservative Annäherungsprozess definierte und erfand die politischen und ideologischen Legitimitätsgrundlagen neu. Um die Oberhand nachhaltig zu gewinnen, war es vor allem wichtig, die herrschende Wahrnehmung und Deutung über Grundbegriffe wie Verfassung, Machtpolitik und Nation zu bestimmen. Nicht zufällig stritten darüber auch die zwei Hohenzollernbrüder am häufigsten.

1 Vgl. Winfried Baumgart (Hrsg.), Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb (1883–1885). Eine Quellensammlung, Berlin 2011; ders. (Hrsg.), Friedrich III. Tagebücher 1866-1888, München u.a. 2012; ders. (Hrsg.), General Albrecht von Stosch. Politische Korrespondenz 1871–1896 (=Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 70), Oldenburg 2014. Außerdem hat Winfried Baumgart noch an zwei großen Editionsprojekten zur Geschichte der preußischen Außenpolitik teilgenommen (Akten zur Geschichte des Krimkriegs; Die auswärtige Politik Preußens).
2 Obwohl sich Wilhelm I. in seinen Briefen und Denkschriften regelmäßig auf Joseph Maria von Radowitz bezog (S. 235, 287, 380 und 388), bleibt in der Einleitung diese im liberal-konservativen Diskurs zentrale Figur völlig unberücksichtigt.
3 Vgl. Albrecht von Roon an Moritz von Blanckenburg am 25.3.1868. Abgedr. in: Albrecht von Roon, Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Kriegsministers Grafen von Roon (2. Bd.), 2. Aufl., Breslau 1892 (S. 379).
4 Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV., Berlin 1990; Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990. Die Formulierung „Romantiker auf dem Throne“ wurde bereits 1847 von David Friedrich Strauß verwendet. Vgl. David Friedrich Strauß, Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige, Mannheim 1847.
5 Exemplarisch für innovative Editionsprojekte sei hier auf die von Christian Jansen und Alberto Mario Banti herausgegebenen Quellensammlungen zu verweisen: Christian Jansen, Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849-1861, Düsseldorf 2004; Alberto Mario Banti (Hrsg.), Nel nome dell'Italia. Il Risorgimento nelle testimonianze, nei documenti e nelle immagini, 2. Aufl., Roma-Bari 2011.

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