Titel
Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950..


Herausgeber
Mironenko, Sergej; Niethammer, Lutz / von Plato, Alexander / mit Knigge, Volkhard / Morsch, Guenter
Erschienen
Berlin 1998: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
595 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Goeken, Ulrike

Zu heikel wurde dem Stadtkommandanten von Berlin, Generalmajor A.G. Kotikov im September 1946 die Existenz des sowjetischen Speziallagers Nr.3 in Berlin-Hohenschoenhausen. Er wandte sich an den Chef der Sowjetischen Militaeradministration (SMAD), General Sokolovskij, und empfahl, das Lager aus Berlin zu verlegen. Das Lager war im Mai 1945 eilig auf einem grossen Fabrikgelaende angelegt worden und seit Juli 1945 aufgrund des Befehls Nr.00315 vom 18.04.1945 des Moskauer Chefs des Volkskommissariates fuer Innere Angelegenheiten (NKVD), Lawrentij Berija, wie neun andere Lager auf deutschem Boden mit sogenannten Spionen, Diversanten, Terroristen der deutschen Geheimdienste, aktiven Mitgliedern der NSDAP, Angehoerigen faschistischer Jugendorganisationen wie BDM und HJ und anderen "gefaehrlichen Elementen" aufgefuellt worden. Von den urspruenglich 3-4000 Insassen in Hohenschoenhausen waren nach 14 Monaten "Lagerbetrieb" bereits 900 verstorben.

Die Argumentation Kotikovs war stringent: Erstens sei das Lager auf einem Fabrikgelaende mit ehemals sechs Firmengebaeuden stationiert und wuerde deren Produktionstaetigkeit massiv blockieren. Zweitens waere das Lager inmitten eines Industriegebietes plaziert worden, das auch Personen aus den westlichen Besatzungszonen aus geschaeftlichen Gruenden betreten wuerden. Das dritte Argument war am schlagkraeftigsten: Die Orte, wo die Leichen der verstorbenen Lagerinsassen verscharrt worden waren, waeren nicht bewacht und somit fuer jedermann zugaenglich. Die Befuerchtung des um die Reputation der Sowjetunion besorgten Generalmajors: Die Existenz der Lager koennte im Ausland bekannt werden.

Das leuchtete auch dem Geheimdienstchef der sowjetischen Besatzungszone, Ivan Serov, ein: Im Oktober 1946 wurde das Speziallager aufgeloest und die Haeftlinge auf die verbliebenen neun Speziallager verteilt. Dieses Handeln blieb ohne konsequente Fortsetzung - bis 1951 diente das ehemalige Lager Nr. 3 als zentrale Untersuchungshaftanstalt des sowjetischen Geheimdienstes des Ministeriums fuer Staatssicherheit der Sowjetunion (MGB). Danach wurde das Territorium dem Ministerium fuer Staatssicherheit (MfS) der DDR uebergeben. Die Staatssicherheit verwandte den Gebaeudekomplex weiter: Die beruechtigte "Deutsche Lubjanka" - die zentrale Untersuchungshaft-Anstalt des MfS - hatte hier bis zur Wende ihren Platz. Wegen der Kellerzellen und der dort praktizierten Untersuchungsmethoden war es unter Haeftlingen auch als "U- Boot" bekannt.

Die Korrespondenz veranschaulicht die Problematik der sowjetischen Internierungspolitik in "ihrem" Teil Deutschlands: Faktenschaffung ohne Abwaegung der moeglichen Folgen (hier: das hektische Errichten eines Lagers unter gleichzeitiger Laehmung des Produktionsbetriebes von sechs Fabriken), inkonsequente Ad-hoc-Entscheidungen (Aufloesung des Speziallagers und parallele Installierung eines anderen repressiven Apparats) und der Notwendigkeit einer permanenten Camouflage der Folgen ihrer "Politik": Die 900 Todesfaelle im Speziallager Hohenschoenhausen, zu denen es aufgrund der miserablen Lebensbedingungen gekommen war, waren weder vorgesehen noch eingeplant; das Massensterben war nicht das Ergebnis eines Vernichtungswillens der sowjetischen Fuehrung in Moskau, sondern die Folge anhaltender Vernachlaessigung.

Die vorliegenden zwei Baende ueber die Geschichte der Speziallager (ein dritter Band ist bereits im Druck) sind das Ergebnis der langjaehrigen Recherchen eines mit deutschen und russischen Historikern besetzten Forschungsteams unter der Leitung von Alexander von Plato, Lutz Niethammer, Sergej Mironenko (Direktor des Staatlichen Archivs der Russischen Foederation, Moskau) und den Leitern der Gedenkstaetten Buchenwald und Sachsenhausen/Brandenburg, Volkmar Knigge und Guenter Morsch.

Die Herausgeber skizzieren im Vorwort ihren Anspruch: Der Leser koenne sich nunmehr ein "vollstaendiges Bild der Grundzuege der sowjetischen Lagerpolitik in Deutschland und ihrer Verquickung mit Fragen der militaerischen Sicherung, der Reparationspolitik, der interalliierten Abstimmung und von Zustaendigkeitsproblemen in und zwischen den sowjetischen Apparaten machen [...] und auch einen bisher einzigartigen Einblick in deren Entscheidungsstrukturen und -gesichtspunkte erhalten."

Die zwischen 1945 und 1950 existierenden zehn "Speziallagern" in der SBZ waren nach sowjetischem Verstaendnis Isolierungslager mit verschaerftem Lagerregime. Die Gruendung dieser Lager muss im Zusammenhang mit aehnlichen Einrichtungen in den Westzonen Deutschlands gesehen werden. Die Politik der Internierung von Funktionstraegern des NS-Regimes war urspruenglich Teil einer gemeinsamen Politik der Alliierten des Zweiten Weltkrieges. Fuer die Internierung dieser Personengruppe gab es eine moralische und weithin akzeptierte Begruendung: Die fuer die NS-Verbrechen politisch Mitverantwortlichen sollten bis zur Ueberpruefung ihrer individuellen Schuld festgesetzt werden, um jedwede Gefaehrdung der Besatzungstruppen durch diese Personengruppe auszuschliessen und sie durch ihre Internierung vorlaeufig von der politischen Einflussnahme bei dem Aufbau einer von den USA und Grossbritannien ins Auge gefassten deutschen Demokratie fernzuhalten.

Die Historiographie der "Speziallager" in der sowjetisch besetzten Zone spiegelt die Quellenproblematik wider, die bis in die neunziger Jahre hinein jedes Forschungsvorhaben zu Aspekten der sowjetischen Politik kennzeichnete: Bis zur partiellen Oeffnung der russischen Archive war man auf Interviews mit Zeitzeugen - zumeist Opfer der sowjetischen Politik - angewiesen und filterte aus ihren Aussagen allgemeine Kenntnisse ueber diese "Schweigelager". Hinzu kommt die Tabuisierung der Geschichte dieser Lager: Alle ehemaligen Haeftlinge hatte man bei ihrer Entlassung zum Stillschweigen verpflichtet - und man konnte gewiss sein, dass die DDR-Staatssicherheit die Einhaltung dieser Geheimhaltungspflicht bis 1989 ueberwachte. In der Bundesrepublik war die Perzeption dieser Lager politischen Schwankungen unterworfen. Der bis in die sechziger Jahre anhaltende antikommunistische Konsens stilisierte die ehemaligen Insassen pauschal zu Opfern der bolschewistischen Machtpolitik; die darauffolgende Periode der Entspannungspolitik und der Annaehrung an den Ostblock erklaerte die ehemaligen Haeftlinge insgeheim fuer schuldig ("Irgendetwas wird schon dran gewesen sein."). In den 80er Jahren begann eine vorurteilsfreie Erforschung des historischen Kontextes der sowjetischen Lager- und Internierungspolitik. Erst die Oeffnung sowjetischer Archive erlaubte nach dann 1992 differenzierte Aussagen zu den verschiedenen Aspekten der sowjetischen Deutschlandpolitik und ermoeglichte neue Kooperationen, wie dieses Projekt mit ueber 26 Mitarbeitern beweist.

Der erste Band gliedert sich in fuenf Teile. Der ausfuehrlichen Einfuehrung des Koordinators des Speziallager-Projektes, Alexander von Plato, folgen zwei Abrisse ueber das Quellenmaterial. Den zweiten Teil bildet der Themenkomplex des "Historischen Hintergrunds": Lutz Niethammer stellt die Internierungspolitik der Sowjetunion in ihrer Besatzungszone in den Kontext der Internierungspolitik der Alliierten und arbeitet aeusserst eindrucksvoll heraus, wie wenig die sowjetische Praxis mit der von den Westalliierten praktizierten Politik der Entnazifizierung zu tun hatte: Die sowjetische Fuehrung differenzierte nicht zwischen einer auf Sicherungszwecke zielenden Inhaftierung und einer verfahrensrechtlich vorgeschriebenen Ueberpruefung der Vorwuerfe mit dem Ziel einer Strafmasszumessung und kam sowohl in der Frage der Kriegsgefangenenverwahrung als auch der Speziallagerhaft nach einer Verkettung von Entscheidungsblockaden in Moskau und Berlin ueber die erste Phase nicht hinaus. Man setzte die Betroffenen so lange in Lagern (d.h. Kriegsgefangenen- und Speziallagern) fest, wie es der Sowjetadministration beliebte und fuer die sowjetische Wirtschaft notwendig erschien. Die deutschen Kriegsgefangenen wurden dadurch kriminalisiert, die Speziallagerhaeftlinge lange Zeit poenalisiert.

Drei weitere Beitraege befassen sich mit den geheimdienstlichen Aspekten der Internierungspolitik. Die Autoren arbeiten sehr sorgfaeltig und kommen zu weitestgehend aehnlichen Interpretationen, doch kann die Frage des strafrechtlich relevanten Hintergrundes der Massenverhaftungen nicht ganz beantwortet werden. Das mag auch an der Tatsache liegen, dass das den Aufsaetzen in erster Linie zugrunde liegende Material der Sondermappen Stalins und Molotows bislang nur ein unvollstaendiges Bild von den "operativen Taetigkeiten" des Geheimdienstes auf deutschem Boden zu liefern vermag. Solange die Aktenbestaende des russischen Geheimdienstarchives und des Archives des Praesidenten fuer die meisten Forscher verschlossen bleiben, koennen diese Hintergruende der sowjetischen Internierungspolitik noch nicht vollstaendig geklaert werden. Gabriele Hammermann beschreibt das Procedere der Verhaftungen am Beispiel Thueringens und Peter Erler untersucht die Taetigkeit der Sowjetischen Militaertribunale (SMT) in der SBZ, die zwischen 1945 und 1950 rund 40.000 Menschen verurteilten. Die Gerichtsurteile seit 1948 betrafen zunehmend juengere Deutsche, die in den Augen der Sowjetorgane ein Resistenzpotential darstellten. Diese Ergebnisse spiegeln sich in der Analyse der Haeftlingszusammensetzung in den Speziallagern wider, denn sie liefern die Begruendung fuer eine der wichtigsten Erkenntnisse der vorliegenden beiden Baende. Die Autoren kommen naemlich zu dem Schluss, dass die individuelle NS-Belastung der Insassen der Lager zunehmend von sekundaerer Bedeutung war und die Sowjetorgane die Speziallager seit 1947/1948 zur Isolierung und Ausschaltung politisch unliebsamer Deutscher (im sowjetischen Jargon: verdaechtige, sektiererische, konterrevolutionaere Elemente u.ae.) nutzten. Diese juengeren Haeftlinge wurden vor Sowjetische Militaergerichte gestellt und verurteilt. Die aelteren mit NS-Belastung waren zumeist ohne ein Urteil in den Lagern.

Der dritte Teil beleuchtet uebergreifende Aspekte der Lagerpolitik und die Lebensbedingungen in den Lagern. Natalja Jeske wirft in ihrem vorzueglichen, auf Akten der Sanitaetsunterabteilungen der Lager beruhenden Aufsatz die Frage auf, ob die schlechte Verpflegung und Versorgung "Teil einer politisch motivierten Strategie bzw. Kalkulation" (S. 191) war.

Die Sterblichkeit war bereits seit August 1945 bis Ende 1946 immens: Monatlich starben etwa 1.200 Haeftlinge. Im Spaetjahr 1946 verdichteten sich dann undurchdachte Anordnungen seitens der sowjetischen Regierungsebene, eine einschneidende Herabsetzung der Nahrungsmittelrationen und die organisatorische Neuregelung der Lebensmittelversorgung zu einem Konglomerat von Entscheidungsblockaden auf der mittleren Verwaltungsebene mit der Folge einer verdreifachten Sterberate (von Januar bis Juli 1947 mehr als 13.800 Tote), die bis in den Sommer 1947 hinein auf hohem Niveau konstant blieb. Von insgesamt 154.000 Insassen in den Lagern verstarben bis 1950 knapp ein Drittel (etwa 43.000).

Die Zahlen besitzen eine derartig erschuetternde Evidenz, dass sich unweigerlich die Frage nach einem finalen Willen der sowjetischen Staatsfuehrung in bezug auf das Schicksal der deutschen Haeftlinge aufdraengt. Da einschlaegige Akten bis heute unzugaenglich sind, kann die Frage noch nicht zuverlaessig geklaert werden. Die den Autoren vorliegenden Dokumente lassen jedoch den Schluss zu, dass die Hungerkatastrophe vom Herbst 1946 bis zum Juli 1947, die grassierenden Krankheiten sowie die mangelhafte Versorgung mit Kleidung Folgen einer staatlich verfuegten Vernachlaessigung und das Ergebnis einer von Gleichgueltigkeit gepraegten, vorsaetzlich fahrlaessigen Unterlassung war. Die Schilderungen der Haeftlinge ueber den Zustand ihrer Kleidung bleiben dem Leser plastisch in Erinnerung. Derartige Details erfaehrt der Leser in dem Beitrag von Eva Ochs.

Jan Lipinsky betrachtet die Mobilitaet zwischen den Lagern. Der Leser staunt ueber die undurchsichtigen, hektischen und logistisch zumeist voellig unzulaenglich vorbereiteten Verlegungen der Insassen. Zu keinem Zeitpunkt war ein Arbeitseinsatz der Haeftlinge ausserhalb der Lager vorgesehen, der Mobilitaet und Flexibilitaet der verfuegbaren Arbeitskraefte notwendig gemacht haette: die Insassen waren zum groessten Teil zur Untaetigkeit verdammt. Insofern nehmen sich die immensen Opferzahlen auf Fussmaerschen und waehrend der Transporte in kalten Zuegen als Folge eines ziellosen und inkompetenten Verwaltungshandelns um so sinnloser aus.

Lutz Priess beschreibt ebenfalls eine Sondergruppe innerhalb der Speziallager. Mehrere tausend Wehrmachtsoffiziere, die Ende 1945/Anfang 1946 aus westalliierter Kriegsgefangenschaft an der Demarkationslinie den sowjetischen Organen ueberstellt worden waren, traten nun die dritte Etappe ihrer Kriegsgefangenschaft, die Reise in die Kriegsgefangenen-Lager in der Sowjetunion an. Ehemalige Angehoerige von SS, SA und Volkssturm sowie das Personal von NS-Gefaengnissen- und -Konzentrationslagern wurden aufgrund des Berija-Befehl Nr. 00315 vom April 1945 als Kriegsgefangene deklariert und in die Sowjetunion deportiert. Sie wurden aehnlich wie die Wehrmachtsoffiziere behandelt.

Grossen Raum nimmt die Geschichte der einzelnen Speziallager ein. Die Autoren beschreiben, die Auswirkungen der Anordnungen von hoechster Ebene auf die jeweiligen Lebensbedingungen in den Lagern. In ihren Beitraegen rezipieren sie die seit 1990 erschienene Forschungsliteratur sowie die Erinnerungsberichte ehemaliger Haeftlinge und konfrontieren die Befunde mit Archivmaterial aus Moskau. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Fussnoten und Schlussfolgerungen auf Dauer etwas redundant erscheinen.

Der fuenfte Teil nimmt die quantitativen Dimensionen der sowjetischen Speziallagerpolitik in den Blick. Da der Zugang zu personenbezogenen Akten verschlossen ist, faellt eine Antwort auf die zentrale Frage nach dem Haeftlingsprofil in den Lagern und eine "Typenbildung" sehr vorsichtig aus. Natalja Jeske analysiert die Entstehung statistischer Angaben, die in dem Speziallagerbestand GARF 9409 vorgenommen werden. Sie vermag dabei Ungenauigkeiten zwischen den verschiedenen Dokumenten plausibel zu erklaeren.

Vera Neumann befasst sich mit der bereits beschriebenen Frage der Haeftlingsstruktur am Beispiel des Speziallagers Buchenwalds. 50% der Lagerpopulation waren ehemalige kleinere Funktionaere der NSDAP, die ohne SMT-Urteil bald nach Kriegsende interniert wurden. Der Autorin gelingt es anhand des Materials des ehemaligen Berlin Document Center die NS-Belastung in 43% der Faelle zu bestaetigen.

Jan Lipinsky widmet sich der Haeftlingsstruktur des Lager Bautzens und kommt erstaunlicherweise - und im Gegensatz zu saemtlichen anderen Autoren - zu dem Ergebnis, dass das "primaere Lagerziel" der sowjetischen Fuehrung" die "Beschaffung von Arbeitskraeften fuer den GULAG" gewesen sei. Fuer diese Interpretation laesst sich in den sowjetischen Dokumenten kein Beweis finden.

Allein die stetige Verjuengung der Haeftlingspopulation ist kein ausreichender Beweis fuer einen gewissermassen der sowjetischen Politik inhaerenten Wunsch nach Arbeitskraeften. Dagegen sprechen Befunde aus den Jahren 1946/47. Stalin hatte im Dezember 1946 verfuegt, 27.500 Arbeitskraefte aus den Speziallagern abzuziehen und sie als Ersatz fuer bereits erschoepfte und arbeitsunfaehige Kriegsgefangene nach Sibirien zu deportieren. Stalin wurde offenbar durch ein Schreiben seines SMAD-Chefs Sokolovskij und des Geheimdienst-Bevollmaechtigten Serov (MVD) mit Vorschlaegen zur Entlassung von 35.000 Haeftlingen aus den Speziallagern an diese Lagerkategorie in Deutschland erinnert. Eine Einbeziehung der Internierten in das Entnazifizierungsregime stand noch aus. Dieses Definitionsvakuum loeste Stalin mit dem aus seiner Sicht gewiss genialen Plan, der den Arbeitskraefte-Aspekt in den Vordergrund rueckte und zudem eine weitere Entscheidung ueber das Schicksal dieser Inhaftierten weiter herausschob. Anfang Januar - als die Deportation erfolgen sollte - hatte die sowjetische Fuehrung jedoch wieder ein Problem: Binnen eines Monats waren nurmehr knapp 5.000 (!) Insassen arbeitstauglich. Wenn ein Arbeitseinsatz im Vordergrund gestanden hat, wie Lipinsky es in seinem Aufsatz ausfuehrt, haette die Lagerleitung sicherlich die intellektuelle und logistische Anstrengung vollbracht, die Voraussetzungen fuer eine ausreichende Ernaehrung der fuer Sibirien bestimmten Haeftlinge zu schaffen. Oder haben wir es hier mit einer Sabotage der Anordnungen Stalins und des Ministerrates durch untergeordnete Chargen zu tun? Eine Initiative des GULAG Anfang 1949, die Haeftlinge in ihren Speziallagern zur Herstellung verkaufsfaehiger Waren, die "von hoher Qualitaet und optischem Verkaufswert" zu verwenden verlief im Sande.

Eine Beleuchtung der "Kompromatslisten" - Listen mit Auszuegen aus Haft- und Verurteilungsbegruendungen nehmen Lutz Niethammer und Hans Kersebom vor. Sie kommen zu dem bereits an anderer Stelle beschriebenen Schluss, dass eine NS-Belastung zur Inhaftierung keine herausragende Rolle spielte und vielmehr die Inhaftierung von potentiellen Klassenfeinden im Vordergrund stand.

Wilfriede Otto untersucht das Schicksal der Lagerinsassen nach der Aufloesung der Lager 1949/1950. Ein Teil wurde den DDR-Behoerden uebergeben. Fuer andere war der Weg noch nicht zuende: In der Justiz-Farce der Waldheimer Prozesse wurden mehr als 3.500 Menschen verurteilt, davon stammten 70% aus Buchenwald.

Der Band II ist das Ergebnis der Forschungsleistung von Ralf Possekel, Historiker in Berlin. Seiner Einleitung mit einer vorzueglichen Synthese des Materials folgen 123 sorgfaeltig uebersetzte und von Possekel kommentierte Dokumente, die Auskunft ueber die Hintergruende der Entstehung und Funktion der Lager geben. Die behutsam ausgewaehlten und eingeleiteten Materialien liefern dem Leser in komprimierter Form diesselben Informationen, wie es Band I mit seinen Beitraegen tut.

Das Fazit der Herausgeber: Die Geschichte der Speziallager zeigt den "prinzipiell diktatorischen und rechtlosen Charakter des sowjetischen Stalinismus." und belegt "eine abstumpfende Gewoehnung an administrative Gewalt und die Recht- und Machtlosigkeit der Individuen"(S.17)

Diesen Befund koennen die Beitraege der beiden Baende hinlaenglich beweisen. Das gewichtige Werk wird dem Anspruch, den Leser ueber die Geschichte der Speziallager ins Bilde zu setzen, vollkommen gerecht. Darueber hinaus liefern beide Baende noch mehr: Sie liefern die Innensicht eines Machtsektors des stalinistischen Systems! Damit gehen sie ueber ihr oben zitiertes und in erster Linie auf die Opferperspektive zugespitztes Fazit hinaus.

Eine Verdichtung der in den Beitraegen dargelegten Fakten zeigt: Die Sowjetunion internierte sehr viel mehr Menschen als in den Westzonen und liess zu, dass ein Drittel von Seuchen, Entkraeftung und Hunger einfach dahingerafft wurde. Die vielfachen Entscheidungsblockaden auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen zeigen, dass sie es nicht fuer notwendig erachtete, einen institutionellen Rahmen fuer die langfristige Isolierung der Haeftlinge zu schaffen, der wenigstens den Anstrich einer juristischen Legalitaet und Legitimitaet gehabt haette. Damit stellte sich die sowjetische Fuehrung ausserhalb der von der einstigen Koalition der Siegermaechte vereinbarten Entnazifizierungspolitik. Auch ein strafrechtlicher Bezug auf die in Nuernberg als verbrecherisch eingestuften Organisationen blieb ueber fuenf Jahre hinweg aus. Im Vordergrund der Verhaftungskriterien stand ein staatlich institutionalisiertes Misstrauen gegenueber der politischen Zuverlaessigkeit der besetzten Bevoelkerung. Das Misstrauen bezog sich nicht zwingend auf die unmittelbare Vergangenheit; eine etwaige NS-Belastung war offenbar von sekundaerer Bedeutung und bildete die mit sorgfaeltig propagandistischem Aufwand betriebene Camouflage fuer die massenhafte Isolierung von Resistenzpotentialen. Der vermeintliche politische Gegner stand eher links und wurde v.a. in der Zeit nach 1947 weggeschlossen. Damit wurde das Ziel der sowjetischen Fuehrung, - die praeventive Ausschaltung einer "Fuenften Kolonne" -, erreicht. Der Ideologieanspruch wurde mit gleichsam terroristischen Massnahmen durchgesetzt. Die Massen-Internierung stellte in diesem Zusammenhang eine Spielart der in der sowjetischen Geschichte oft angewandten Problemloesung - der politischen Saeuberung- dar. Dieses Urteil muss begruendet werden:

Die neueste DDR-Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass es keinen sowjetischen Gesamtplan fuer die politische Entwicklung der SBZ gab. Die sowjetische Deutschlandpolitik "erschien schillernder, als sie tatsaechlich war". 1 Die Westalliierten operierten auf der Grundlage des JCS 1067, einem "Fahrplan" der amerikanischen Regierung fuer die deutsche Besatzung. Die Sowjetunion entschied situativ; sie war flexibel und versuchte - abgesehen von einigen grundlegenden Prinzipien - mehrere Optionen fuer die Zukunft Deutschlands offenzuhalten. Eines ihrer Prinzipien war die "antifaschistisch-demokratische Umwandlung" der Gesellschaft, und zunaechst fokussierte sich die Internierungspolitik Moskaus, wie in den Beitraegen des ersten Bandes herausgearbeitet wird, auf kleinere, naturgemaess bereits aeltere NS-Funktionaere. Die sowjetischen Behoerden bezogen diese Menschen jedoch nicht in ihre Entnazifizierungspolitik ein und vernachlaessigten sie darueber hinaus sichtbar. Dies rief die hartnaeckige Kritik selbst ihrer eigenen regionalen SMA-Vertreter und innerhalb der Bevoelkerung der SBZ Irritation hervor. 2

Der Leser fragt sich, wie Angehoerige von Insassen reagierten. Konnte es nicht sein, dass die Existenz dieser "Schweigelager" in den Augen der Bevoelkerung negative Auswirkungen auf die Akzeptanz der SED hatte und diese deshalb umso mehr als "Marionetten Moskaus" wahrgenommen wurden? Ein Teufelskreis von Resistenz und Verhaftung? Dahingegen berichtet eine Autorin des ersten Bandes von Denunziationen aus den Reihen der Bevoelkerung, die sich persoenliche Vorteile durch die Verhaftung des Denunzierten durch den sowjetischen Geheimdienst erhofften. Gab es das haeufiger?

Zudem ist anzunehmen, dass den Westalliierten das Massensterben nicht entging (entsprechende Akten sind vermutlich in den National Archives in Washington, D.C. zu finden). Die Camouflage war undicht geworden (siehe auch die eingangs zitierte Korrespondenz). Ihr Handeln in ihrer Besatzungszone war sowohl "Ursache als auch Ergebnis der sich verschlechternden Beziehungen der Alliierten untereinander".3

Im Zuge der Weichenstellungen in Richtung des Kalten Krieges gewann die Internierung von Resistenzpotentialen noch an Bedeutung: Das Kampf gegen Abweichungen als Mittel zur Durchsetzung einer "Partei des neuen Typus" in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurde immer wichtiger, denn die SED wurde wie andere kommunistische Parteien in Europa gezwungen, sich ideologisch und organisatorisch an der KPdSU auszurichten. Die Sowjetunion formierte seit 1948 die ihrem Einflussgebiet zugefallenen Staaten zum "Ostblock", um ihre Kraefte fuer die beginnende Periode des Kalten Krieges zu buendeln. Die militant kommunistische Ausrichtung erforderte neue Saeuberungen. Politische Gegner wurden zunehmend daemonisiert und die seit 1947/ 1948 in die Speziallager eingewiesenen Haeftlinge immer juenger. Lutz Niethammer spricht gar von "hunderten Sozialdemokraten", die in die Speziallager wanderten. Mit Ausnahme der Beitraege von Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Ralf Possekel wird erstaunlicherweise auf den Hintergrund des Kalten Kriegs kaum rekurriert.

In diesem Kontext konnten die verschiedenen Lagerleitungen und die zentrale Lageradministration ein politisches Vakuum als unmittelbare Folge einer Reihe von Entscheidungsblockaden mit Gelassenheit hinnehmen. Einen Plan oder zumindest konkrete politische Vorgaben zur Behandlung der Insassen gab es nicht, ein Arbeitseinsatz war nicht vorgesehen. Auch eine politische Umerziehung fand nicht statt. Die Menschen wurden weder im grossen Stil verhoert noch einer politischen Strafjustiz zugefuehrt.

Die sowjetische Fuehrung verfolgte mit der Internierung weder einen wirtschaftlichen noch einen erzieherischen Zweck. Es ging einzig und allein um die Isolation. Das Massensterben 1946/1947 war in der Perzeption der sowjetischen Lagerleitungen, der Speziallagerabteilung in Berlin und dem MVD bzw. GULAG in Moskau nichts anderes als ein Zielkonflikt. Wenige Jahre zuvor hatte das nationalsozialistische RSHA in den besetzten Ostgebieten solche Zielkonflikte "maximalistisch" im Sinne endgueltiger Loesungen zu ueberwinden versucht. Die sowjetischen Organe ueberwanden die Zielkonflikte minimalistisch - mit einem moeglichst geringsten Aufwand: Man tat und entschied einfach nichts.

Als mit der Waehrungsreform, der Blockade Berlins und den Frankfurter "Empfehlungen" an die westdeutschen Regierungschefs die Wuerfel fuer eine deutschlandpolitische Entscheidung in Richtung auf die Gruendung eines seperaten Oststaates gefallen waren, kam, wie Possekel in seiner Einleitung darstellt, Bewegung in die Lagerpolitik. Innerhalb weniger Monate wurden die Personalakten von 28.000 Insassen ueberprueft und die Haeftlinge im Herbst 1948 entlassen. (Interessant waere in dem Zusammenhang, ob es eine Kontinuitaet der 1948/ 49 entlassenen "gering Belasteten" in Verwaltung und Industrie gab. Seit Fruehjahr 1949 forcierte die SMAD den Druck auf die SED zur Bildung einer "Nationalen Front" mit "gesamtdeutschen Kampfformationen", bestehend aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Wehrmachtsangehoerigen. Liegt hier in Ansaetzen eine aehnliche Entwicklung wie in der Bundesrepublik vor?)

Der Status Quo ermoeglichte Milde - in Ost und West. Die Gruendung der DDR gab gleichsam den Startschuss zur endgueltigen Aufloesung der Lager. Ein grosser Teil der Haeftlinge wanderte allerdings zunaechst nach Waldheim, wo die DDR 1950 noch einmal vor aller Welt die vermeintliche nationalsozialistische Gesinnung der Angeklagten zum Thema machte und sie mit schweren Haftstrafen belegte. So verhalf die sowjetische Regierung der DDR mit der Auslieferung dieser letzten Haeftlinge zu ihrem Gruendungsmythos - zur glaenzenden Gloriole dieses neuen Staates: Nach den fuenfjaehrigen Saeuberungen in ihrer Besatzungszone machte die Sowjetunion der DDR einen Staat mit lauter Antifaschisten zum Geschenk.

Nach dem Niedergang der DDR blieb von diesem Antifaschismus nichts uebrig. Er liess vor allem riesige Massengraeber zurueck.

Anmerkungen:

1 Jochen Laufer, Die UdSSR und die deutsche Waehrungsfrage 1944-1948. In: VfZ 46/1998

2 Der SMA-Chef Thueringens, General I.S. Kolesnitschenko, kritisierte gegenueber der SMAD (Dez. 1947) und dem ZK der KPdSU (Dez. 1948) das durch den sowjetischen Geheimdienst verursachte "Verschwinden" der Menschen mit der Begruendung, dass diese Aktionen der "westlichen Propaganda" in die Haende spiele und Unzufriedenheit in der Bevoelkerung mehre. Zitiert bei Norman Naimark, Die Russen in Deutschland, Berlin 1997, S. 494

3 ibd., S. 586

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