Titel
Jugend in der Neuzeit.. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert


Autor(en)
Speitkamp, Winfried
Erschienen
Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Gröschel

Winfried Speitkamp hat ein ambitioniertes Buch vorgelegt. Ihm geht es um nichts weniger als um eine konzise Gesamtdarstellung und -interpretation der Geschichte der Jugend in Deutschland vom Absolutismus bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Den zeitlichen Schwerpunkt seiner Darstellung legt der Autor auf das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insofern beschreibt und analysiert er die Genese der Konzepte von Jugend im bürgerlichen Zeitalter.

Wie es sich für einen Sozialhistoriker ziemt, fasst Winfried Speitkamp Jugend als ein gesellschaftliches Konstrukt: "Mithin ergibt sich erst aus den sozialen Bedingungen und den politischen Normen eines Gemeinwesens, was als Jugend verstanden werden kann." (S. 9) An Jugend als einem so verstandenen historischen Phänomen interessiert ihn "was aus einer unbezweifelbaren Realität, dem Geborenwerden und Heranwachsen von Menschen, in der jeweiligen historischen Situation gemacht wird, ob und wie die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenendasein als besondere Phase erlebt und gelebt wird, wie Jugend in dieser Phase geprägt wird und wie sie ihrerseits die Lebenswelt prägt" (S.9). Zutreffend statuiert Speitkamp, dass das Konzept von Jugend ihren Ursprung in "bürgerlichen Lebenswelten" (S. 8) hat. Trotz der konzisen Darstellung differenziert er verdienstvollerweise unterschiedliche Lebensweisen Jugendlicher in Stadt und Land, die unterschiedlichen Schichten, sozialen und kulturellen Milieus und Geschlechtern angehören, so dass sich in der Darstellung kein Mythos von "der" Jugend an sich einschleichen kann. In Abgrenzung zur pointierten These John R. Gillis', dass Jugend ihre eigene Geschichte mache 1, betont der Autor, dass selbst Jugendbewegungen mit eskapistischen Zügen der Gesellschaft nicht entkommen konnten (S. 296 f).

In seinem Bestreben, Jugend als sozialgeschichtliches Phänomen zu ergründen, hebt Speitkamp vier Aspekte hervor, die ihm als Leitfaden seiner Synthese dienen:

1. Jugend wird nicht als statisches, mehr oder weniger homogenes Sozialgebilde begriffen, sondern ihre ständige Veränderung und ihre Begrenzung durch Übergangsriten hervorgehoben.

2. Jugend existiere immer in vielfältigen nebeneinanderstehenden konkreten historischen Erscheinungsformen, sei also immer nach regionaler Herkunft, Klasse, Schicht, Konfession und Geschlecht differenziert. Insbesondere der Geschlechterdifferenz komme eine überragende Bedeutung für die geschlechtsspezifisch meist sehr verschiedenartige Gestaltung der Lebensoptionen und Lebenswege zu. "Dennoch wurden zahlreiche Kriterien, Definitionen und Bestimmungen von Jugend oft allein von der männlichen Jugend abgeleitet" (S. 11).

3. Jugend existiere nicht autonom, sondern sei immer in ein sozialisierendes und disziplinierendes Sozialgefüge eingebunden. Auch die freiwilligen und/oder auf Tradition oder sozialem Zwang beruhenden Zusammenschlüsse Gleichaltriger, die sich oft als gegen die Erwachsenenwelt gerichtet konstituierten und jugendliche Autonomie anstrebten (wie die Gruppen und Bünde der Jugendbewegung) "disziplinierten oft nicht weniger rigoros und wirkungsvoll als die Institutionen der Erwachsenen" (S. 11).

4. Die solcherart durch ihren Prozesscharakter, ihre Vielfalt und ihr Beziehungsgefüge charakterisierte Jugend werde dennoch durch ähnliche Generationserfahrungen integriert: "Jugendliche benachbarter Geburtsjahrgänge, die ähnliche Probleme zu bewältigen hatten, sich in vergleichbaren gesellschaftlichen Abhängigkeiten befanden (...) hatten gleiche oder ähnliche Erfahrungen. Sie bildeten Verhaltensmuster heraus, die eine gewisse Einheit darstellten. Sie formten (...) trotz aller Differenzierungen eine Generation." (S. 11) Mit Jürgen Reulecke hebt der Autor hervor, dass eine Jugendgeneration wohl als Problemerfahrungsgemeinschaft, mitnichten aber als eine Problemlösungsgemeinschaft zu begreifen sei.

Winfried Speitkamp gliedert sein Werk chronologisch nach politikgeschichtlichen Wendemarken:
- Ständegesellschaft und Absolutismus (bis 1770)
- Die Reformzeit (1770-1819)
- Von der Restauration zur Reichsgründungszeit (1819-1870)
- Das Kaiserreich (1871-1918)
- Die Weimarer Republik (1918/19-1933)
- Nationalsozialistische Herrschaft
- Nachkriegszeit (seit 1945).

In diesen Kapiteln behandelt der Autor Jugendgeschichte stringent in jeweils drei Darstellungssträngen:

1. gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen jugendlicher Lebensweisen (demografische Entwicklung, Entwicklungstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft, Familienleben, Alltag, Arbeitswelt);

2. Jugendpolitik und Jugendorganisationen (Jugendrecht, Jugendpflege und -fürsorgewesen, Jugendorganisationen und Jugendbewegungen);

3. Schule und Bildungswesen.

Die klare, konsequent durchgehaltene Gliederung ermöglicht auch den nichtfachkundigen Leserinnen und Lesern einen schnellen Überblick über die Thematik. Darüber hinaus formuliert Winfried Speitkamp einen begründeten Orientierungsrahmen.

Der Autor bietet eine sehr dichten, kenntnisreichen und umfassenden Überblick über den gesellschaftlichen Kontext und die Ausformungen jugendlicher Lebensweisen im Untersuchungszeitraum. Er schildert, wie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts Jugend als eigenständige Lebensphase herausbildete und um die Jahrhundertwende zu einem politischen "Kampf um die Jugend" mit dem Beginn staatlicher Jugendpolitik führte. Er skizziert Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Strömungen bürgerlicher und proletarischer Jugendbewegungen eingebettet in politische Geschichte, sozialen Wandel und in die Lebenslagen Jugendlicher.

Knapp und zutreffend erläutert Speitkamp, auf welche undemokratischen und völkischen Denkweisen, die in vielen bürgerlichen Jugendverbänden grassierten, die Hitler-Jugend aufbauen konnte um ihr Monopol auf die Organisierung der Jugend durchzusetzen, was ihr angesichts eines gesellschaftlich minoritären aber weltanschaulich breiten Spektrums von Resistenzen in den traditionellen Milieus bis hin zum organisierten Widerstand von Jugendgruppen - wobei in seiner Darstellung der Widerstand aus der Arbeiterjugendbewegung zu unterbelichtet bleibt - jedoch nicht vollständig gelingen konnte. Wenig Gewicht legt der Autor auf die gesellschaftliche Umbrucherfahrung, die bereits in den letzten Kriegsjahren mit einer Erosion der anfänglichen Attraktivität der HJ eingeleitet wurde und mit dem weithin als Zusammenbruch erlebten Kriegsende und dem Nachkriegselend seinen Höhepunkt erreicht. Obgleich er natürlich nicht von einer "Stunde Null" spricht, setzt er mit den Schilderungen jugendlicher Existenz in der Nachkriegszeit gewissermaßen neu an und vernachlässigt es, gerade die Erfahrungswelt des Systemumbruchs zu beleuchten. Die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland subsumiert er unter den Leitbegriffen der "Entpolitisierung, Demokratisierung und Disziplinierung" und formuliert die gewagte These, dass "unter den Bedingungen der fünfziger Jahre (...) die Verheißung von Wohlstand zur zeitgemäßen Umsetzung des Jugendmythos" (S. 257) geworden sei. Für den Osten Deutschlands leiten die Begriffe "Politisierung, Ideologisierung und Disziplinierung" seine Interpretation.

Jede Überblicksdarstellung birgt das Problem, inwieweit die Fülle der detaillierten Tatsachen und Zusammenhänge zwar in der nötigen Kürze aber dennoch ausreichend differenziert, zudem auf der Höhe der neuesten spezialisierten Forschung und sicher im Urteil dargebracht werden können. Hier kann Winfried Speitkamp nicht immer vollständig überzeugen, wie etwa bei der unkritischen Übernahme des "Verbürgerlichungstheorems" für die organisierte Arbeiterjugend vor 1918 (S. 124). Weiter scheint fraglich, ob seine apodiktische Interpretation zutrifft, in der Weimarer Republik habe das gemeinsame Generationsgefühl der Jugend deren Bindung an die Herkunftsklasse überlagert (S. 169). Diese These kann angesichts der unversöhnlichen, sich oft militant gegenüberstehenden Arbeiterjugendorganisationen und der nationalen, völkischen Jugendorganisationen nicht überzeugen. Abgesehen davon darf wohl angezweifelt werden, dass die Weimarer Republik als "moderner Sozialstaat" (S. 172 ff), als der ihn der Autor sieht, klassifiziert werden kann. Gerade die Jugendhilfe verdeutlicht, dass die Weimarer Republik sozialstaatliche Funktionen nur rudimentär realisierte. So wurde beispielsweise das 1922 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aufgrund der Knappheit der öffentlichen Kassen nach Inkrafttreten faktisch nur in Ansätzen realisiert. Die "Politisierung der Jugend zum Schlüsselproblem der Republik" (S. 172) zu erklären, scheint der gesellschaftlichen Bedeutung einer Altersgruppe, die fern aller gesellschaftlichen und politischen Schlüsselstellungen stand, nicht recht angemessen. Umgekehrt: in der politisch und verbandlich organisierten Jugend spiegelte sich das Verhängnis der Weimarer Republik wider, eine - überspitzt formuliert -"Republik ohne Demokraten" zu sein.

Diese wenigen, willkürlich herausgegriffenen Beispiele mögen die Problematik illustrieren, bei einer Überblicksdarstellung auch historische Details ausreichend auszuleuchten und überzeugend zu interpretieren. Aufs Ganze gesehen bietet das Buch jedoch eine gut lesbare Einführung in die Geschichte der Jugend in Deutschland, die in einen zusammenhängenden interpretatorischen Rahmen gestellt ist, der freilich, ebenso wie viele Details, sehr diskussionswürdig ist und vielfach zu Widerspruch reizt. Dennoch: Alle wichtigen Fragen und Zusammenhänge sind zumindest skizziert und thematisiert und können als Ausgangspunkt für tiefere Beschäftigung mit dem Thema dienen. Seinem Charakter als Einführungswerk ist allerdings abträglich, daß sich die Quellennachweise lediglich auf wörtliche Zitate beschränken, so daß es den Leserinnen und Lesern, soweit sie nicht Fachhistoriker sind, erschwert wird, mitgeteilte Fakten zu überprüfen oder gezielten Hinweisen auf weiterführende Spezialuntersuchungen nachzugehen. Das zwölfseitige Literaturverzeichnis ist leider thematisch gegliedert, was seine Handhabung erschwert und weist überdies keine Spezialbibliografien aus. Ein Orts-, Personen- und Sachregister erhöht den Gebrauchswert des Bandes erheblich.

Anmerkungen:

1 John R. Gillis: Geschichte der Jugend. Weinheim und Basel 1980 (ungekuerzte deutsche TB-Ausgabe: München 1994; OA: Youth and History. Tradition and Change, New York 1974).

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