“Moscow clings to the past: city of traditions and memories, city of the tsars, she is a daughter of Asia and most surprised to find herself in Europe.”1 Diese Beobachtung, die Giacomo Casanova nach seinem Besuch in Moskau in den 1760er-Jahren formulierte, dürfte heute vielen Zeitgenossen als nahezu zeitlos erscheinen. Moskau ist zweifellos seit Jahrhunderten eine schillernde Stadt. Dies hat sie nicht zuletzt ihrem monumentalen Wahrzeichen, dem Kreml, zu verdanken, der sich inmitten der Stadt auf dem Borowizki-Hügel erhebt. Die Festungsanlage, die als Präsidentensitz bis heute das politische Zentrum Russlands darstellt, ist 1990 zum Weltkulturerbe erhoben worden. Die Anfänge des Kreml sind nicht genau zu bestimmen, sie werden aber auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert. Heute ist er unbestritten die wichtigste Touristenattraktion der Stadt. In ihm haben sich die verschiedenen Epochen der russischen Geschichte eingeschrieben, so dass er als „eternal sacred heart, the nation’s citadel“ gilt, wie Catherine Merridale in ihrer eindrucksvollen Geschichte des Kreml schlussfolgert. Boris Jelzin schrieb dem Ort gar eine magische Wirkung zu und befand pathetisch: „(…) people realise that in spite of everything, this is the Kremlin, this is Russia, this is my country.“2
Die russische Gesellschaft hat dem Kreml seit seiner Errichtung solch überhöhende, nahezu spirituelle Bedeutungen zugeschrieben. Viele Herrscher haben Teile des fast 30 Hektar großen Komplexes umbauen lassen. Immer diente er der Vergewisserung oder Affirmation einer ruhmreichen Vergangenheit Russlands, die auf Gegenwart und Zukunft ausstrahlen sollte.
Der Bedeutungsgewinn des Kreml als Machtzentrum des größten Flächenstaates der Erde, als konkurrenzloses politisches, religiöses und kulturelles Symbol war voraussetzungsreich. Er ist ohne die Entwicklung des nach seiner Stadt benannten Großfürstentums „Moskowien“ zunächst zur europäischen Großmacht und dann zur atomaren Supermacht nicht zu denken. Mutete dem Kreml stets ein Hauch von Ewigkeit an, zeigte die Stadt Moskau stärker die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels. Sie spiegelte dabei die stets ambivalente Suche Russlands nach seiner europäischen Rolle und seinem imperialen Status im Konzert der europäischen und der Weltmächte. Und dennoch überrascht es auf den ersten Blick, dass Alexander M. Martin, Professor für European History in Notre Dame/Illinois, und Catherine Merridale, Professorin für Zeitgeschichte an der Queen Mary University in London, ausgerechnet Studien über Moskau vorgelegt haben. Denn die Urbanisierung im Zarenreich und die Entwicklung städtischer Gesellschaften in einer bäuerlich geprägten Bevölkerung bieten angesichts der Vielfalt des Imperiums ein riesiges Forschungsspektrum, das nach wie vor viele Desiderate offenbart. Dabei sind die Hauptstädte Moskau und St. Petersburg deutlich besser erforscht als die Provinzstädte. An ihrem Beispiel lassen sich die zentralen Tendenzen des gesellschaftlichen und politischen Wandels aufzeigen. Aber gleichzeitig stellen ihre Geschichten zumeist die extremen Entwicklungen dar und lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern.
Bei genauerem Hinsehen verblüfft es jedoch auch, dass sich bislang angesichts der Bedeutung Moskaus nur wenige Autoren an die vielfältigen Dimensionen seiner Stadt-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte gewagt haben. Zwar liegen für die Sowjetzeit die fundierten Studien von Monica Rüthers und Timothy J. Colton vor.3 Auch hat Karl Schlögel die Topographie Moskaus auf den Spuren Walter Benjamins erschlossen.4 Doch für die Zeit seit dem Mittelalter bis zum Ende des Zarenreiches finden sich vor allem Arbeiten, die sich auf Teilaspekte konzentrieren und weniger die städtische Gesellschaft in umfassenderen Perspektiven oder längeren Zeiträumen betrachten.5 Insofern stoßen die beiden hier zu besprechenden Monographien von Alexander M. Martin und Catherine Merridale in ein weites Forschungsfeld vor. Dies gilt umso mehr, als sich eine Metropole wie Moskau ebenso wie der Kreml dazu anbietet, vielfältige sozio-kulturelle, politische und ökonomische Entwicklungen durch ein klar umgrenztes Prisma zu betrachten. Nicht nur in der räumlichen Ausdehnung ihrer Untersuchungsgegenstände haben Merridale und Martin unterschiedliche Herangehensweisen gewählt. Martin konzentriert sich in acht, überwiegend chronologischen Kapiteln auf die Zeit vom Amtsantritt Katharinas der Großen 1762 bis zum Ableben ihres Enkels Nikolaus I. 1855 und damit auf einen deutlich kürzeren Zeitraum als Merridale. Deren Betrachtung reicht in zwölf Abschnitten vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Moskau mit seinem mittelalterlichen Kreml als Mittelpunkt galt seit der Gründung Petersburgs als der Inbegriff der städtischen Rückständigkeit des Zarenreiches. Die neue Hauptstadt wurde stets als europäisierter Gegenentwurf zu Moskau wahrgenommen. An dieser Stelle setzt Martins Interesse ein. Sein Buch lässt sich als Widerspruch zu diesem auch eingangs am Beispiel Casanovas umschriebenen Stereotyp lesen. Moskau sei zu einem imperialen Projekt geworden, dessen Ziel es war, aus Moskau eine moderne europäische Stadt mit neuer Infrastruktur, höherer Sicherheit und effektiverer Verwaltung zu formen, die in gewissem Maße soziale Dynamisierungen erlaubte. Im Ergebnis hatte Moskau zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen deutlich aufgeholt. Der verheerende Brand von 1812 machte jedoch, wie Martin argumentiert, viele Errungenschaften zunichte, so dass die Stadt in der Fahrt aufnehmenden Industrialisierung wiederum nicht mehr Schritt halten konnte.
Beide Bücher sind in bester anglo-amerikanischer Wissenschaftsprosa verfasst und spannend zu lesen. Studien dieser Art finden sich auf dem deutschen Buchmarkt selten. In ihrer Mischung aus Ideen-, Politik- und Stadtgeschichte heben sie sich deutlich von Qualifikationsarbeiten ab, die sich viel stärker mit methodischen Fragen auseinandersetzen müssen. Merridale und Martin dagegen verflechten elegant zum Teil bereits bekannte Narrative mit ihren spezifischen Blickwinkeln auf die Geschichte des Kreml und Moskaus. Während Martin mehrfach zum Vergleich auf andere europäische Metropolen blickt, führt Merridale die Leser kundig durch das sich über die Jahrhunderte wandelnde Kremlareal. Doch darauf beschränkt sie sich nicht. Ihr Anliegen ist es, den Kreml als Erinnerungsort der russisch-sowjetischen Geschichte, als stets neu justiertes, aber doch beständiges Symbol der Macht zu verstehen. Die kontinuierliche Repräsentationsfunktion des Kreml beeindruckt: In der 1479 eingeweihten Uspenski-Kathedrale sind seit Ivan IV. alle Zaren gekrönt worden. Im Facettenpalast finden seit dem 15. Jahrhundert Festbankette statt. Dort feierte Ivan IV. 1552 den Sieg über Kazan, Peter I. 1721 den über Schweden, dort empfing Boris Jelzin Queen Elizabeth II. 1994 zum allerersten Staatsbesuch eines britischen Staatsoberhauptes in Russland. Im goldenen Prunk der verschiedenen Säle des Großen Kremlpalastes inszeniert heute auch Wladimir Putin sein Regime.
Merridale verbindet die Geschichte des Kreml mit derjenigen der Akteure, die ihn prägten. Dabei ist leider vergleichsweise wenig über die Bevölkerung, über ihre Praktiken im Umgang mit dem Kremlareal und ihre Rezeptionen seiner Repräsentationen zu erfahren. Dafür begegnen den Lesern zahlreiche Angehörige der politischen Elite des Moskauer Reiches, des Zarenreiches, der Sowjetunion und der Russländischen Föderation. Die Verfasserin verfolgt im Wesentlichen zwei Betrachtungsweisen: Zum einen stehen die baulichen Veränderungen im Mittelpunkt. Über die Jahrhunderte hinterließ fast jeder Herrscher architektonische Spuren im Kreml. Zum anderen bettet sie diese in ein eher traditionelles, politikgeschichtliches Narrativ, das das Handeln großer Männer und weniger Frauen beschreibt, indem sie die Baumaßnahmen stets als Teil der Herrschaftsstrategien und der Legitimierung von Macht versteht. Bisweilen allerdings rückt sie das Majestätische, das Mythische und den besonderen Zauber, den der Kreml für viele Betrachter ausstrahlen mag, oder auch die wenig überraschende Geheimniskrämerei, die die Herrschenden um den Kreml gemacht haben, zu sehr in den Vordergrund. Hier wären mehr Dekonstruktion, Sichtweisen anderer Akteure und mehr kritische Distanz möglich gewesen. So wirkt die scheinbare Dominanz des Kreml in der russisch-sowjetischen Geschichte auf den Leser ein wenig erschlagend. Im schlechtesten Fall wirkt sie sogar etwas beliebig, wenn bedacht wird, wie sehr gerade die Lokalstudien jenseits der Hauptstädte unser Bild der russischen Geschichte diversifiziert haben.
Alexander Martin wählt einen ideen-, kultur- und sozialgeschichtlichen Zugriff auf die Moskauer Stadtgeschichte. Durch das Prisma der katharinäischen Reformen betrachtet er in den ersten drei Kapiteln zunächst, wie Moskau nicht nur zu einem administrativen, räumlich-städtebaulichen Experimentierfeld, sondern auch zu seinem sozialen Projekt wurde. Dieses sollte die gesellschaftlichen Gruppen dynamisieren und zu mehr Selbsttätigkeit bewegen. Das Ziel der Reformen war es, die Bevölkerung nach europäischen Vorbild zu „zivilisieren" und strukturieren.
Dabei greift Martin die virulenten Punkte jeder Urbanisierung auf. Sie verdeutlichen, dass Moskau gegenüber anderen europäischen Metropolen bis zum Beginn des 19. Jahrhundert zunächst aufholte. Die Modernisierung verlor dann aber, wie Martin wiederholt betont, durch die Zerstörungen während des napoleonischen Feldzuges 1812 deutlich an Tempo (S. 49, 59 und 61). Als besonders bezeichnend erwies sich dabei, dass es der Administration nach anfänglichen Erfolgen nicht gelang, bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine ausreichende Wasserversorgung einzurichten, die Senkgruben durch eine Kanalisation, das Kopfsteinpflaster durch Asphalt zu ersetzen oder die Straßenbeleuchtung mit Öllampen durch Gas oder Kerosin zu ersetzen (Kapitel 2).
Die katastrophale Zerstörung Moskaus durch den Brand 1812 ist der Angelpunkt der Kapitel vier bis acht. Hier zeichnet Martin unter anderem die soziale Hierarchie der Stadt im frühen 19. Jahrhundert nach. Er verdeutlicht, wie sich die sozialen Ansprüche an die Reformen zerschlugen, weil das Zarenregime in den anvisierten neuen städtischen „Mittelschichten“ keine politische Basis fand. Außerdem betrachtet er das Alltagsleben in der Ära der städtischen Rekonstruktion und der politischen Restauration. Das letzte Kapitel rückt die Repräsentationen der Moskauer Urbanisierung in den Blick, die maßgeblich von sozialen Aufsteigern formuliert worden sind. Martin spricht sie als Vertreter einer europäischen Kultur an, die sich für soziale Analysen ihrer Umwelt interessierten. Gleichzeitig suchten sie nach dem Kern des „Russischen“, für das Moskau so lange stand.
Neu ist, wie dicht Martin für diese Epoche die Entwicklung Moskaus in den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Zeitgenossen nachzeichnet. Er tut dies, indem er diesen nicht nur in Reisebeschreibungen, Erinnerungen oder historio- und ethnographischen Darstellungen nachspürt, sondern auch Lexika, Karten, Statistiken, Gemälde und Graphiken auswertet. Dabei ergänzt er die zeitgenössischen Publikationen mit Archivalien aus dem Zentralen Historischen Archiv Moskaus, der Abteilung für schriftliche Quellen des Staatlichen Historischen Museums und aus der Handschriftenabteilung der Leninka.
Im Vergleich zu der Stringenz, mit der Merridale ihre Argumentation entspinnt, wirkt Martins Darstellung weniger kohärent. Positiv gewendet ergibt sich eine facettenreiche Beschreibung der Moskauer Stadtgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Kapitel lassen sich wie kleine Fallstudien lesen, was aber auch bedeutet, dass sie teilweise unverbunden nebeneinander stehen. Dies liegt wiederum daran, dass Martins Interpretationsrahmen vor allem für die Zeit bis zum Brand 1812 einleuchtet. Martins Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, zu analysieren, wie Moskau in der katharinäischen Epoche zu einem imperialen Projekt erhoben wurde, das darauf zielte, Moskau – wie bereits der Titel der Monographie andeutet – in eine „enlightened metropolis“ zu verwandeln. Dazu sollte erstens die Infrastruktur einer „europäischen“ Stadt entwickelt, zweitens eine kulturell europäisierte „middle class“ gefördert und drittens auf dieser Basis eine neue Wahrnehmung Moskaus dies- und jenseits der Grenzen des Zarenreiches implementiert werden (S. 5f.). Diese Begriffe und Perspektiven bergen jedoch gewisse Schwierigkeiten. Die im anglo-amerikanischen Bereich häufig gewählte Kategorie der „middle class“ hat sich selbst für das ausgehende Zarenreich, als die Gesellschaft nach den Großen Reformen deutlich differenzierter war, als zu unscharf erwiesen, um Kohäsionskräfte, gemeinsame Werte und Praktiken für diese Akteure zu untersuchen. Martin verwendet synonym den übersetzten Quellenbegriff „middling sort“ (srednyj rod), den er auf den niederen Adel, Geistliche und Kaufleute bezieht (S. 139), um deren Rolle als soziale Vermittler zwischen Adel und Unterschichten zu beschreiben (S. 149f.). Doch das Schichtmerkmal des Besitzes, das Martin unter anderem zur Bestimmung anführt, brach ständische Kategorien auf, da unternehmerisches Geschick in jedem Stand vorkommen konnte. Auf diese Weise konnten zum Beispiel Bauern, die Martin weitgehend ausschließt (S. 297), wirtschaftlich ähnlich erfolgreich sein wie Kaufleute, ohne ihren Stand zu verlassen. Doch was bedeuteten solche Dynamisierungen für den Wertehimmel und den sozialen Zusammenhalt dieser mittleren Schichten? Martin selbst schlussfolgert sehr eindeutig, dass die „middling sort“ in „ständische Subkulturen“ zerfielen (S. 177). Ausgehend von diesem empirischen Befund ist zu fragen, inwieweit eine als soziale Mitte angenommene Gruppe ohne echten Zusammenhalt als solche überhaupt sinnvoll zu bezeichnen ist.
Auch die Perspektive der Europäisierung ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Diese essentialistische Zuschreibung bietet nur scheinbar einen Maßstab, denn sie verdeckt die zum Teil erheblichen Unterschiede in der west- und ostmitteleuropäischen Gesellschafts- und Stadtentwicklung. Außerdem grenzt sie a priori aus, was eher als Teil Europas betrachtet werden sollte. Diese kritischen Anmerkungen schmälern jedoch nicht Martins Leistung, ein lebendiges und buntes Gemälde Moskaus an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert gezeichnet zu haben.
Lässt sich also anhand einer Stadt und sogar nur eines Gebäudeensembles die politische und sozio-kulturelle Geschichte eines Imperiums erzählen? Trotz der hier vorgebrachten Einwände und Fragen haben Merridale und Martin jede(r) auf ihre bzw. seine Weise gezeigt, dass dies möglich ist. Mit Merridales Buch, das auch für nicht fachwissenschaftliches Publikum leicht zugänglich ist, kann man sogar vor Ort auf Entdeckungsreise durch den Kreml gehen. Ob man sich dann im „verborgen Herzen des Russischen Staates“ (S. 9) wähnt, muss jede(r) selbst entscheiden.
Anmerkungen:
1 Zitiert nach Martin, S. 5.
2 Zitiert nach Merridale, S. 387.
3 Monica Rüthers, Moskau bauen von Lenin bis Chruščev: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien / Köln / Weimar 2007; Timothy J. Colton, Moscow. Governing the Socialist Metropolis, Cambridge/MA, London 1995.
4 Karl Schlögel, Moskau lesen, München 2011.
5 Christoph Schmidt, Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft, 1649–1785, Stuttgart 1996.