Der Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt galt in der Weimarer Republik als einer der führenden deutschen Intellektuellen, der auch außerhalb seines engeres Fachgebiets Gehör fand 1. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß er umfassend gebildet war und über mannigfache Spezialkenntnisse verfügte. Dadurch wurde er als Gesprächspartner auch für solche Nichtjuristen interessant, die sich mit Fragen von Staat und Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigten und selber kulturkritische oder philosophische Ambitionen hatten. Schmitts Aktualität dauert bis heute an und ist ungebrochen, ja, er läßt seine Leser immer noch nicht gleichgültig. Kaum ein Denker dieses Jahrhunderts generiert eine derartige Fülle von Sekundärliteratur, wobei sich die Zahl der Bewunderer und der Kritiker in etwa die Waage hält. Möglicherweise steigt im gegenwärtigen Augenblick der politischen Verunsicherung die Zahl der Verehrer sogar stärker als die der Kritiker. Einer der besten Kenner von Schmitts Werk, Günter Maschke, hat einen Forschungsbericht mit dem vielsagenden Titel "Carl Schmitt in den Händen der NichtJuristen" überschrieben 2, und nicht nur Maschke zufolge gibt es Berufene und Unberufene, die sich zu Schmitt äußern. Die 'Berufenen' sind natürlich Juristen, haben aber im Idealfall auch noch Philosophie, Politologie und Theologie studiert. An Historiker denkt man leider nur allzu wenig, und es wird zu zeigen sein, wozu dies führt.
Die vorliegende Arbeit wurde 1997 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I der FU Berlin als Dissertation angenommen. Die Betreuer waren Wilhelm Schmidt-Biggemann, Herfried Münkler und Karlfried Gründer. Für Qualität war also gesorgt, und das merkt man der Arbeit und ihrem intellektuellen Anspruch zunächst einmal an 3. Blindow gelingt es nämlich, auf relative wenigen Seiten die komplexe staats- wie völkerrechtliche Ideenwelt Schmitts zu rekonstruieren. Das ist zwar nicht in allen Punkten neu, aber hier besonders stringent durchgeführt. Neu ist in jedem Fall der Nachweis der Quellen, die Schmitt benutzt hat - sie reichen von der Antike über die Patristik, das Mittelalter und den Humanismus bis in die frühe Neuzeit - sowie der Ideen, die er von Freunden und Kollegen übernahm. Verdienstvoll ist auch die Auswertung einschlägiger Korrespondenzen im Nachlaß Schmitts, der im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf aufbewahrt wird und leider immer noch nur beschränkt benutzbar ist. Blindows Darstellung ergibt etwas, das ich als das 'System Schmitt' bezeichnen möchte. Wenn man es einmal verstanden hat, läßt es sich sogar in wenigen Begriffen zusammenfassen, und dies zu ermöglichen, ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine beachtliche didaktische Leistung Blindows.
Schmitt ist bis zu seiner Kaltstellung durch die SS im Jahr 1936, die Blindow recht eindringlich nachzeichnet, Staatsrechtler und will nach eigenem Urteil der Kronjurist der Nazis werden. Danach wendet er sich, notgedrungen, dem Völkerrecht zu, bis er 1941, wiederum von SS-Männern (Best, Höhn), erneut ausgebremst wird.
In der ersten Schaffensphase entwickelte er seinen dezisionistischen Begriff vom Staat, vom totalen Staat, zu dem Deutschland erst durch den Abschluß des Reichskonkordats von 1933 geworden sei, durch das es der Katholischen Kirche erstmals wieder als ebenbürtiger Partner entgegengetreten sei.
In der zweiten arbeitete er sein Doppelkonzept von Reich und Großraum heraus. Der Begriff des Nationalstaats wurde jetzt vom Reichsbegriff überlagert und aufgesaugt, der als eine Verbindung von Großraum, Staatsvolk und politischer Idee gedacht wurde. Völkerrechtliche Gleichheit wurde als Fiktion abgelehnt, Minderheitenschutz als individualistisches Konstrukt abgetan. Diese Theorie sollte das militärische Ausgreifen 'Großdeutschlands' legitimieren und die Hegemonie des deutschen Volkes in einer zukünftigen europäischen Großraumordnung juristisch untermauern. Im Großraum dominiere stets der stärkere Wille eines Führervolkes, das den schwächeren Völkern seinen Willen aufzwinge. Für kleine und neutrale Länder war in diesem Gefüge also kein Platz mehr. Die GroßraumOrdnung sei daher keine staats- oder völkerrechtliche Erscheinung im bisherigen Sinne, so argumentierte er, sondern ein neues Ordnungssystem, das Konflikte verhindere. Großmächte hätten den fortwährenden Drang, ihre Machtzonen auszuweiten und schwächere Staaten in ihren Einflußbereich hineinzuziehen. Sobald mehrere Großmächte ihre Interessen auf den gleichen Großraum lenkten, komme es zu Konflikten. Eine neue Aufteilung der Erde in Großräume mit Interventionsverbot helfe also, Zusammenstöße zu verhindern. Schmitt plädierte für eine deutsche Monroe-Doktrin. Unausgesprochen blieb, daß die Welt demnach hinfort aus einem europäischen, einem angloamerikanischen und einem asiatischen Block bestehen sollte. Führervölker sollten die Deutschen (mit den Italienern), die Amerikaner (mit den Engländern) und die Japaner sein.
Beide Male erregte Schmitt den Widerspruch der SS, weil er die völkische Komponente mißachtet hatte und allzu völkerrechtlich argumentierte. Er wollte nicht etwa einen rechtsfreien Raum, denn dann wären die Rechtsprofessoren und Rechtswissenschaftler arbeitslos geworden, sondern eine neue Rechtsordnung und damit neue Aufgaben sowie gesteigertes Prestige für seinen Berufsstand und damit sich selbst. Die SS hingegen war nicht an einem neuen Recht interessiert, zumal wenn es sich um eine Umdeutung des international gültigen Völkerrechts handelte, sondern allenfalls für den Augenblick erlassene spezifische Polizeiverordnungen, mit denen die deutsche Unterdrückungs- und Eroberungspolitik dirigiert werden konnte. Die Begriffe Rasse und Lebensraum waren ihr wichtiger als alle Staats-, Reichs- und Großraumkonstrukte.
In einem Zwischenkapitel zeigt Blindow, wie ein Schmitt-Schüler, der Journalist Giselher Wirsing, ab 1933 SS-Mitglied und Hauptschriftleiter der Münchner Neuesten Nachrichten (MNN), nach dem Krieg Chefredakteur der Zeitung 'Christ und Welt', Schmitts Konzepte umsetzte. Von zentraler Bedeutung ist dann wieder das Schlußkapitel, in dem einige von Schmitt bisher ungelöste Probleme behandelt werden. Denn Schmitts 'System' hatte Blindstellen, vor allem die Rolle Englands, das dem 'Führer' so wichtig war. Schmitt entwickelte die originelle These von den protestantischen See- und den katholischen Landstaaten. England habe sich als überseeische Kolonialmacht sozusagen aus Europa herauskatapultiert und führe eine Randexistenz. Der kontinentale Großraum war somit für Großdeutschland gerettet.
Wie gesagt, Blindow hat dies sehr detailliert und einlässig, doch präzise und gut nachvollziehbar dargestellt 4. Nun ist es immer nützlich, sich bei Nachbardisziplinen umzuschauen, um zu sehen, was dort gerade aktuell ist. In Freiburg i.Br. beendete 1996 nach zwölfjähriger Forschertätigkeit der von der DFG geförderte kulturwissenschaftlich orientierte Sonderforschungsbereich 'Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit' seine Arbeit. Sein Sprecher, der Romanist Wolfgang Raible, hat immer wieder betont, daß es ihm darum ging, die Rahmenbedingungen von Texten näher zu untersuchen 5. Auf das Oeuvre Carl Schmitts angewandt bedeutet dies, nach dem Kontext seiner Ausführungen zu Großraum und Reich zu fragen, die zunächst bekanntlich als Vorträge formuliert und vor jeweils ausgewähltem Publikum vorgetragen wurden. Es darf davon ausgegangen werden, daß die zunächst mündlichen Darlegungen in Diskussionen mit den Hörern abgesichert wurden. Die grundlegenden und insgesamt noch dreimal nachgedruckten Ausführungen mit dem Thema "Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot raumfremder Mächte" wurden erstmals 1939 anläßlich der 25-Jahrfeier des Kieler Instituts für Politik und der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer gemacht, dann noch einmal am 27./28. April 1940 auf der Kieler Vorbereitungstagung des von Schmitts Kollegen Paul Ritterbusch geleiteten sog. Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften erneuert 6. "Staatliche Souveränität und freies Meer" wurde erstmals auf der wichtigen Kriegseinsatztagung der Historiker in Nürnberg am 7./8. Februar 1941 erörtert und dann am 16.10.1941 im Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Paris auf Einladung Karl Eptings wiederholt, in dessen Zeitschrift Cahiers franco-allemands eine französische Fassung abgedruckt wurde. Die deutsche Erstpublikation erfolgten im ersten, von Theodor Mayer und Walter Platzhoff herausgegebenen Sammelband des historischen Kriegseinsatzes 'Das Reich und Europa'. Schmitt nahm übrigens auch am Kriegseinsatz der Romanisten und der Völkerrechtler teil, worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll. Hier sprach er über "Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten", ein Beitrag, der in Deutschland-Frankreich, der zweiten Zeitschrift des DI Paris, herauskam 7.
Diese Hinweise sind nun mehr als bloße Marginalien, denn in Blindows Ausführungen bleibt offen, welches Betätigungsfeld Schmitt nach der doppelten Kaltstellung durch die SS fand. Paul Ritterbusch holte ihn sozusagen als Chefideologen zum 'Kriegseinsatz' und bot ihm Gelegenheit, auf zahlreichen wissenschaftlichen Tagungen seine Großraumkonzepte vorzutragen, mit Dutzenden von Wissenschaftlern aus allen möglichen Disziplinen darüber zu diskutieren und sie auf sein Konzept, das dem Kriegseinsatz in der Phase der Westfeldzüge zugrundelag, einzuschwören. Diese waren jedoch zumeist keine Juristen, sondern Geisteswissenschaftler, wenngleich sein Schüler Ernst Rudolf Huber 8 den staatsrechtlichen, Hermann Jahrreiß den völkerrechtlichen und Karl Michaelis den zivilrechtlichen Teil des Kriegseinsatzes leiteten, die ihm alle aus Kiel und Leipzig persönlich bekannt waren. Zunächst sollten die Vertreter der Westforschung mit ihren geplanten Vorträgen und Veröffentlichungen dazu beitragen, einen Großraum gegen Frankreich und England zu konsolidieren, der vom Nordkap bis Spanien reichte. Es ist also nicht so, daß sich Schmitt gänzlich aus der historischen Reichsdebatte ausklinkte und nur völkerrechtliche Themen verfolgte. Gerade der oben erwähnte Band 'Das Reich und Europa', an dem Fritz Hartung, Theodor Mayer, Walter Platzhoff, Paul Ritterbusch, Fritz Rörig, Schmitt selber, Hans Uebersberger und Hans Zeiss mitwirkten, lehrt, daß auch Schmitt in gewisser Weise eingebunden wurde, denn reichsgeschichtliche Argumentationen mischen und verbinden sich hier mit völkerrechtlichen Gegenwartsaspekten. Ritterbusch hatte die dreifache Aufgabe der Historiker übrigens klar als "Herausarbeitung einer Geschichte des europäischen Ordnungsdenkens", "einer gesamtgermanischen Geschichtsauffassung" sowie als Darstellung der "Geschichte der germanischdeutschen Welt seit den ältesten Zeiten" definiert und die Verbindung dieser doppelten Zielrichtung verdeutlicht.
Bleibt zum Schluß die Frage nach der Aktualität Schmitts. Gleich zu Beginn seiner Studie baut Blindow eventuellen Aktualisierungsmöglichkeiten strikt vor: "Eine Antwort auf das 'Was bleibt?' kann aber im Falle des 'Reiches' nur heißen: Nichts" (S. 8). Doch wie steht es mit dem Großraum, wenn schon der Reichsbegriff verpönt ist? Der von Schmitt entworfene europäische Großraum sollte auch ein einheitlicher Wirtschafts- und Kulturraum sein, natürlich unter deutscher Oberhoheit. Die zahllosen, vor allem von Politikern gepflegten Europa-Diskurse der Nachkriegszeit klingen oft, mutatis mutandis, ganz nach Schmitt, sei dies bewußt oder unbewußt. Vielleicht ist damit die von Andreas Koenen erwähnte "Renaissance der Reichsideologie? gemeint, die "weitgehend unbemerkt von Wissenschaft und Publizistik? in "sonstigen Diskursen? stattfindet, eine Vermutung, über die sich Blindow nicht wenig mokiert (S. 8), wie er überhaupt gegenüber anderen Schmitt-Forschern gelegentlich eine unangemessene Übertrumpfungsrhetorik pflegt (z.B. S. 12, 76, 86 u.ö.).
Als Fazit bleibt: der Autor hat ein faszinierendes Thema sachkundig dargestellt, aber da er sich hinter rechtsphilosophischen Barrieren verschanzt, vergibt er zentrale Deutungsmöglichkeiten, die erst die volle Tragweite seiner Darlegungen begründet hätten.
Anmerkungen:
1 Vgl. den soeben erschienenen, 893 Seiten umfassenden stattlichen Editionsband Ernst Jünger - Briefe 1930-1983 - Carl Schmitt. Hg., kommentiert u. mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta 1999. Diesen Briefen sind gelegentlich eigenartig verschleiernde Hinweise auf die in Blindows Buch behandelten Fragen zu entnehmen.
2 Günter Maschke: "Carl Schmitt in den Händen der Nicht-Juristen. Zur neueren Literatur?, in: Der Staat 34. Bd., Heft 1 (1995), S. 104-129.
3 Eine sorgfältigere Endredaktion hätte allerdings für vermeidbare Fehler bei der Transkription der italienischen und französischen Zitate sorgen können, die fast alle unsinnige Schreibungen aufweisen, z.B. S. 23 Anm. 108 volanta totalitaria [richtig: volontà], ebd. niente al di fuori [richtig: niente], S. 24 Anm. 108 stato total [richtig: totale], S. 52 commerce internationale [richtig: international], S. 132 une seul personne [richtig: seule], ebd. l'essance [richtig: essence] usw. Bei franz. Eigennamen entfallen in der Zitation die Adelstitel, also nicht de Bonald und de Maistre, sondern einfach Bonald und Maistre. Ein jus gentes (S. 110) wird es wohl kaum geben, auch wenn der Autor von mediävalphilen Träumereien spricht (S. 37).
4 Bei aller gebotenen Bescheidenheit weise ich darauf hin, daß ich selber dies ebenfalls bereits zusammenhängend in einem Artikel "Die Aktion Ritterbusch. Auf dem Weg zum Politischen: Carl Schmitt und der Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaft" in -der Frankfurter Allgemeine Zeitung (Bilder und Zeiten), Samstag, 13. März 1999, Nr. 61, II, dargestellt habe, ein Beitrag, den Blindow, weil er kurz vor Erscheinen seines eigenen Buchs publiziert wurde, kommentarlos (S. 70 Anm. 425) zitiert.
5 Zusammenfassend Wolfgang Raible (Hg.), Medienwechsel. Erträge aus zwölf Jahren Forschung zum Thema 'Mündlichkeit und Schriftlichkeit', Tübingen 1998 (ScriptOralia, Bd. 113).
6 Darauf habe ich bereits 1993 in meinem Buch "Aus dem Reich der seelischen Hungersnot". Briefe und Dokumente zur romanistischen Fachgeschichte im Dritten Reich, Würzburg 1993, S. 130f., hingewiesen. Ausführlich dann in dem hier auch nicht zit. Buch "Deutsche Geisteswissenschaft im zweiten Weltkrieg". Die "Aktion Ritterbusch" (1940-1945), Dresden, München 1998, passim. Dort finden sich alle weiteren Hinweise auf die sog. Kriegseinsatztagungen, an denen Schmitt teilgenommen hat.
7 Dazu demnächst mein Beitrag "Carl Schmitt und die deutschen Romanisten", in Jg. 24, Heft 3/4, 1999, der Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte.
8 Warum die im gleichen Verlag wie Blindows Arbeit erschienene grundlegende Studie von Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1997, nicht zitiert wird, erstaunt, zumal sie wichtige Verbindungslinien zwischen Schüler und Lehrer zieht, z.B. S. 393-395. Könnte es sein, daß Blindow auf dem Stand der Sekundärliteratur von 1997 stehengeblieben ist? Das würde einige Defizite erklären helfen.