Peter Waldmann, Soziologe in Augsburg und international führender Experte für Terrorismusforschung, sowie sein Doktorand Stefan Malthaner, der seine Dissertation am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung verfasst hat und jetzt als Marie Curie Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz arbeitet, verfolgen mit diesem Sammelband ein doppeltes Ziel: Zum einen präsentieren sie hier konzeptionelle Überlegungen zum sozialen Umfeld terroristischer Gruppen, für das Peter Waldmann bereits in früheren Aufsätzen den Begriff “radikales Milieu” geprägt hat. Zum anderen haben sie zehn Experten dafür gewonnen, Fallstudien zum sozialen Umfeld terroristischer Gruppen zu verfassen. Auf der Grundlage dieser empirischen Befunde stellt Peter Waldmann das Konzept vom „radikalen Milieu“ noch einmal auf den Prüfstand und entwickelt es weiter.
Stefan Malthaner und Peter Waldmann stellen das Konzept vom „radikalen Milieu“ in der Einleitung vor. Ihre Leitfragen sind, “wie dieses spezifische soziale Umfeld terroristischer Gruppen beschaffen ist und welche Bedeutung ihm für die Entstehung und Entwicklung der Gewaltakteure zukommt”. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen dabei die “Beziehungen zwischen den Gewaltakteuren und dem radikalen Milieu sowie Interaktionsprozesse mit staatlichen Sicherheitsbehörden und ihrem weiteren gesellschaftlichen Umfeld” (S. 11f.).
Die empirischen Beiträge decken ein breites Spektrum ab und sind von Autoren aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und unterschiedlichen Ländern verfasst. Deshalb lohnt es sich, im Folgenden kurz auf jeden Aufsatz einzugehen. Die Fallstudien im ersten Teil des Bandes rekonstruieren zwei historische radikale Milieus. So begibt sich der Politik- und Religionswissenschaftler Thomas Scheffler vom Orient-Institut in Beirut auf die Suche nach dem sozialen Umfeld der Zeloten und Sikarier im antiken Judentum, während Fabian Lemmes, Juniorprofessor für Europäische Geschichte in Bochum, den anarchistischen Terrorismus in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts behandelt.
Die empirischen Untersuchungen im zweiten Teil thematisieren sogenannte „‚Klassische‘ Fälle“ des sozialrevolutionären und ethnisch-religiösen Terrorismus: Gisela Diewald-Kerkmann, Historikerin an der Universität Bielefeld, analysiert vergleichend die Beziehungen zwischen Gewaltgruppen und sozialem Umfeld für die RAF und die Bewegung 2. Juni, und Jesús Casquete, Ideenhistoriker an der Universität des Baskenlandes, untersucht die sozio-politischen Netzwerke der ETA. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf die Funktion ihres Kalenders, der mit seinen spezifischen Feier- und Gedenktagen Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses dieser Netzwerke ist und sie zugleich stabilisiert. Stephan Rosiny, Politikwissenschaftler am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg, stellt in seinem Beitrag „Vom radikalen Milieu in die Mitte der Gesellschaft“ die Dynamik zwischen den Schiiten im Libanon und der Hizb Allah („Die Partei Gottes“) im Zeitraum vor 1982 bis heute dar. Auf der Grundlage dieser Beiträge sowie eigener langjähriger Studien vergleicht Peter Waldmann die Unterstützungsbasis von ETA, IRA und Hizb Allah.
Der dritte Teil ist „Salafismus und Jihadismus in der Diaspora“ gewidmet. Der Anthropologe Martijn de Koning, der in Nijmegen und Amsterdam (UvA) forscht und lehrt, analysiert unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Gesellschaftstheorie die Radikalisierung des sogenannten „Hofstad-Netzwerkes“ (aus dem der Mörder Theo van Goghs hervorging) im Spannungsfeld zwischen lokalen und transnationalen „sozialen Feldern“. Stefan Malthaner und Klaus Hummel, Politikwissenschaftler am Landeskriminalamt Sachsen, präsentieren ihre Forschungsergebnisse zur sogenannten „Sauerland-Gruppe“ und ihrem sozialen Umfeld, das vom salafistischen Milieu in Deutschland und anderen europäischen Ländern bis hin zur usbekischen Islamischen Jihad Union reichte. Maura Conway, Politikwissenschaftlerin an der Dublin City University, untersucht „Das Internet als neue Form des radikalen Milieus“, und zwar insbesondere in seiner Bedeutung für islamistische Netzwerke, darunter auch Al-Qaida.
Der vierte und letzte Teil des Bandes umfasst zwei Fallstudien zum sozialen Umfeld rechtsextremistischer Terroristen. Die Historikerin Corinna Hauswedell, Direktorin des Zentrums für Conflict Analysis and Dialogue in Bonn, behandelt die reaktionäre Radikalisierung des protestantisch-loyalistischen Milieus in Nordirland im Zusammenhang mit seinem ethno-sozialen Identitätsverlust, während Dierk Borstel, Politikwissenschaftler in Dortmund, und Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung ihre Forschungsergebnisse zu menschenfeindlichen Mentalitäten, radikalisierten Milieus und Rechtsterrorismus in Deutschland vorstellen. Dabei stützen sie sich insbesondere auf Untersuchungen zu rechtsextremen Strukturen in Dortmund, Dresden und im Kreis Ostvorpommern, gehen jedoch auch auf andere Städte und Regionen wie Hamburg, Köln, Berlin, Brandenburg, Sachsen und Thüringen ein.
Peter Waldmann beschließt den Band mit einem vorläufigen Resümee, in dem er zunächst als wichtigstes Resultat der empirischen Studien des Bandes festhält, „dass radikale Milieus tatsächlich existieren“ und eben „keine Schimäre um begriffliche Innovationen bemühter Wissenschaftler“ seien (S. 369). Überdies leitet er aus den empirischen Studien die Schlüsselvariablen ab, welche die unterschiedliche Unterstützungsbereitschaft der verschiedenen radikalen Milieus für ihre jeweiligen terroristischen Gruppen erklären können: 1. das Maß der Durchsetzung und Akzeptanz eines staatlichen Gewaltmonopols, 2. das Ziel der Gewaltanwendung (vor allem der Unterschied zwischen „reaktiver“ und „proaktiver“ Gewalt) sowie 3. die Dauer des Konflikts. Schließlich diskutiert er kritisch die Beobachtungen in den einzelnen Fallstudien zur Struktur der radikalen Milieus sowie zu ihrer Interaktion mit der terroristischen Gruppe einerseits und den Sicherheitskräften und der Gesamtgesellschaft andererseits. Dabei zeigt er sich skeptisch gegenüber der wiederkehrenden Behauptung von Terroristen und Autoren, die über sie schreiben, dass gerade die Konfrontation mit Sicherheitskräften bei ihnen den entscheidenden Radikalisierungsschritt vom radikalen Milieu hin zur terroristischen Gruppe bewirkt habe.
Allerdings verstehen sich nicht alle Fallstudien rein als empirische Beiträge, zumindest zwei Autoren testen explizit die Grenzen des Konzepts: So fragt Maura Conway, inwieweit ein „radikales Milieu“ – anders als von Waldmann und Malthaner angelegt – auch virtuell im Internet existieren und funktionieren kann. Sie beantwortet die Frage vorsichtig positiv, fordert aber vor allem verstärkte Forschungsbemühungen, damit der Einfluss von Online-Milieus auf Prozesse gewaltsamer Radikalisierung besser einschätzbar und eindämmbar werde. Martijn de Koning sieht seinen „Ansatz des sozialen Feldes“ dem Konzept vom „radikalen Milieu“ insofern überlegen, als es besser in der Lage sei, Prozesse der Sinnstiftung im Sinne von ways of being und ways of belonging zu erfassen (S. 216). Tatsächlich gelingen ihm in dieser Hinsicht besonders luzide Interpretationen. Doch die eindrücklichen Beobachtungen zu Fragen der Sinnstiftung auch in anderen Fallstudien zeigen, dass de Koning das Konzept vom radikalen Milieu unterschätzt. Es ist ebenso in der Lage, diese Dimensionen terroristischen Handelns zu berücksichtigen.
Der Sammelband ist als Beitrag zur Terrorismusforschung sehr zu begrüßen. Wie Waldmann und Malthaner zutreffend feststellen, sind die Interaktionen und Dynamiken zwischen Terroristen, ihren Unterstützern und Sympathisanten sowie Staat und Gesellschaft noch immer ein „weitgehend vernachlässigtes Forschungsfeld“ (S. 12). Diese Interaktionen und Dynamiken besser zu verstehen und zu erklären, ist wissenschaftlich wie politisch geboten, um in Konflikten mit terroristischen Gruppen deeskalierende Maßnahmen ergreifen oder sogar Radikalisierungsprozessen präventiv begegnen zu können.
Der Band ist zudem in hohem Maße lesenswert: Alle Autoren der Fallbeispiele lassen sich auf die übergreifende Fragestellung ein; alle Einzelbeiträge sind theoretisch wie empirisch gründlich und fundiert sowie gut lesbar geschrieben. Sie stellen insofern gute Einführungstexte zu den von ihnen behandelten terroristischen Gruppen dar. Mit der Fragestellung nach den radikalen Milieus haben die Beiträge dieses Bandes einen stärker analytischen Zugriff als das bei Sammelbänden zur Terrorismusgeschichte üblicherweise der Fall ist. Zudem kommen sie aufgrund der Fragestellung nach den sozialen und gesellschaftlichen Kontexten terroristischer Gruppen gar nicht umhin, die größeren politischen Zusammenhänge und Entwicklungen auch über längere Zeiträume in den Blick zu nehmen, was die Konflikte und ihre Dynamiken erst eigentlich verständlich werden lässt. Der Band sei deshalb sowohl ausgewiesenen Terrorismusexperten als auch denjenigen, die einfach am Thema interessiert sind und einen Einstieg oder ersten Überblick zum Thema suchen, zur Lektüre empfohlen.